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Veröffentlicht am 27.10.2021

Traurig schön

Das Flüstern der Feigenbäume
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Dies ist ein schönes Buch, originell, zart, anrührend und wirklich schön erzählt.
Es geht um Liebe, die nicht sein darf und einen Feigenbaum, der an einem anderen Ort Wurzeln schlagen muss, weil sein Zuhause ...

Dies ist ein schönes Buch, originell, zart, anrührend und wirklich schön erzählt.
Es geht um Liebe, die nicht sein darf und einen Feigenbaum, der an einem anderen Ort Wurzeln schlagen muss, weil sein Zuhause zerstört ist.
Defne und Kostas leben auf Zypern, als sie sich 1974 verlieben und immer heimlich beim Feigenbaum einer Taverne treffen. Sie ist Türkin und er Grieche, eine unmögliche Kombination kurz vor dem Bürgerkrieg, eine Muslimin und ein Christ? Niemals.
Und in der Gegenwart hat Ada damit zu kämpfen, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten. Dass plötzlich ihre Tante Meryem aus Zypern zu Besuch kommt, hilft ihr auch nicht. Noch nie ist sie nach London gekommen, dann kann sie jetzt auch wegbleiben.
Hier werden sehr geschickt Handlungsstränge aus Vergangenheit und Gegenwart verwoben. Sie gehen elegant ineinander über, man merkt es kaum. Und nach und nach bekommt man eine besondere Liebesgeschichte erzählt, aber auch eine Familiengeschichte voller Schicksalsschläge und die Geschichte des schrecklichen Bürgerkriegs in Zypern.
Zwischendurch berichtet sogar der Feigenbaum persönlich. Es ist ein weiblicher Feigenbaum, der viel gesehen und gehört hat. Was sie nicht selbst miterlebt hat, erfährt sie gelegentlich von einer Maus oder anderen Tieren. Manchmal erzählt sogar der Wind. Sie hat eine ganz eigene Art, die Welt wahrzunehmen, ist erfahren, weise und poetisch und gehört auch irgendwie zur Familie.
Das Hörbuch dauert 11 Stunden, 56 Minuten und wird einfühlsam gelesen von Eva Mattes und Joachim Schönfeld. Es ist ein Buch zum Abtauchen und Fallenlassen, anrührend, nachdenklich, melancholisch mit einem Hauch Orient und vielen frischen Feigen.

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Veröffentlicht am 21.10.2021

Eine gute Idee, kein gutes Buch

Eine Seuche in der Stadt
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Natürlich beschäftigt uns heute das Thema „Epidemie“ so sehr, wie schon lange nicht mehr. Und natürlich ist es hoch interessant zu sehen, wie ein stalinistisches Regime mit so einer Situation umging.
Dieses ...

Natürlich beschäftigt uns heute das Thema „Epidemie“ so sehr, wie schon lange nicht mehr. Und natürlich ist es hoch interessant zu sehen, wie ein stalinistisches Regime mit so einer Situation umging.
Dieses Drehbuch basiert auf Tatsachen. 1939 drohte tatsächlich in Moskau die Lungenpest auszubrechen, was durch radikales Durchgreifen des Geheimdienstes verhindert werden konnte. Allerdings dachten die Menschen, sie würden verhaftet, niemand kam auf die Idee einer Quarantäne. Ljudmila Ulitzkaja sagt im Nachwort: „Das ist das Subtile an der geschilderten Situation: Die Pest zu Zeiten der politischen „Pest“.“
So weit ist die Idee dieses 1978 geschriebenen Szenarios hoch interessant. Leider macht eine interessante Idee allein noch kein gutes Buch und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob dieser Text einen guten Film abgeben würde.
In einem Wust an Personal auf den gut 100 Seiten kann man nur schwer Hauptprotagonisten ausmachen, das macht sich auch im Film nicht gut. Die Handlung ist unterm Strich sparsam und besteht zu großen Teilen aus Verhaftungen. Die Tragweite des Geschehens wird eigentlich erst durch das Nachwort der Autorin richtig klar. Um daraus eine gute Geschichte zu machen, müsste man es noch ordentlich mit Hintergründen unterfüttern.
Dieses Buch ist kein Buch sondern ein Entwurf, der ein tolles Buch werden könnte. Schade, dass die Autorin es nicht überarbeitet hat. So ist es weder stilistisch noch dramaturgisch ein großer Wurf, sondern einfach nur eine gute Idee.

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Veröffentlicht am 17.10.2021

Unterhaltsam, erhellend, aber kein Highlight

Every
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„Every“ ist die Fortsetzung von „The Circle“. Dave Eggers erledigt das hier mit Konsequenz, Ideenreichtum und Ausdauer.
Das Überwachungssystem vom Circle hat sich weiterentwickelt. Every überwacht nicht ...

„Every“ ist die Fortsetzung von „The Circle“. Dave Eggers erledigt das hier mit Konsequenz, Ideenreichtum und Ausdauer.
Das Überwachungssystem vom Circle hat sich weiterentwickelt. Every überwacht nicht nur alles sondern dirigiert dich auch. Die Everyones werden z.B. bei jeder Tätigkeit von OwnSelf begleitet, dem persönlichen Manager, der körperliche, ethische oder auch logistische Befindlichkeiten des Users begleitet, überwacht und berät. Kannst du nicht einschlafen? Auf, auf, lauf eine Runde um dem Block. Du willst nicht? OwnSelf weiß, was gut für dich ist.

So geht es weiter, immer absurder werden die Neuerungen, es wird alles durchgenommen, womit uns Technik terrorisieren könnte, Augenscannen, Schlafverhalten, Wasserkonsum, sogar der Toilletteninhalt wird analysiert, bist du wirklich ehrlich, ökologisch achtsam, interessiert genug, aufmerksam, anteilnehmend, ein echter Freund oder jemand, der nur so tut?
In allerbester Shitstormmanier verbannen die Everyones nach und nach alles, was irgendwo Anstoß erregen könnte, entwerfen markige Parolen, folgen dem Strom, werden immer beliebiger, weil das sicherer ist.
Das liest sich nett, ist sogar oft witzig, nur wirklich überraschend ist es auch nicht. Es wirkt ein bisschen wie eine Generalabrechnung mit allen socialmedialen Verirrungen, die trotzdem im Grunde vorhersehbar ist. Wundert es irgendjemanden, wenn Siri uns tatsächlich abhören würde? Solche Ideen sind befremdlich, aber nicht neu, müssen hier aber dennoch behandelt werden, der Vollständigkeit halber.
Auch der Hang zum Dozieren, dem hier einfach alle Protagonisten nur zu gern verfallen, ist erhellend, aber auch etwas zäh und moralinsauer.
Dieses Buch behandelt wichtige Themen, führt unterhaltsam moderne Trends ad absurdum, schafft es aber nicht, ein gesundes Gleichgewicht von Moralpredigt zu spannender Romanhandlung herzustellen.
Es macht Spaß, dieses Hörbuch zu hören, aber es hat auch ein paar Längen. Ein echtes Highlight ist es nicht.

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Veröffentlicht am 16.10.2021

Zwischen Wissenschaft, Historie und Geisterwelt

Das Leuchten am Rand der Welt
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Dieses Buch ist besonders in vielerlei Hinsicht.
Es ist ein historischer Roman, der origineller nicht sein könnte, der Bericht einer nahezu unmöglichen Reise, ein spannender Abenteuerroman, eine ungewöhnliche ...

Dieses Buch ist besonders in vielerlei Hinsicht.
Es ist ein historischer Roman, der origineller nicht sein könnte, der Bericht einer nahezu unmöglichen Reise, ein spannender Abenteuerroman, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, eine Sammlung historischer Dokumente, die einem das Alaska um 1885 herum nahebringen.

Es geht um eine Expedition durch Alaska. Allen Forrester soll unbekanntes Terrain erkunden und herausfinden, wer die Einheimischen sind und wie sie auf Fremde reagieren. Ein Selbstmordkommando durch Eis und Schnee? Sie haben viel zu erleiden und lernen Phänomene kennen, die eigentlich nur noch durch Geisterglaube erklärbar sind. Die Ureinwohner Alaskas haben ein anderes Weltbild, nah an der Natur und einer geheimnisvollen Geisterwelt.

Forresters Frau Sophie, eine Vogelkundlerin, muss derweil in Vancouver ausharren und auf Briefe warten. Anrührend erzählt sie, wie sie diese schwierige Zeit erlebt.

Obwohl dieses Buch fiktional ist, wirkt es wie ein authentischer historischer Bericht, der sogar noch mit Fotos, Briefen und Artefakten ausgeschmückt wird. Es erzählt von Alaska, von ungewöhnlichen Menschen, von Geistern und Vögeln, ist spannend, abwechslungsreich, toll erzählt und ein einziges Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 08.10.2021

Magisch, tragisch, zaiberhaft

Wolkenkuckucksland
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Dieses Buch sei ein Lobgesang auf Bücher, sagt Anthony Doerr in seinem Nachwort und ja, natürlich ist es das, aber es ist auch noch eine ganze Menge mehr.

Es geht um ein Buch, ein Buch im Wandel der Zeiten, ...

Dieses Buch sei ein Lobgesang auf Bücher, sagt Anthony Doerr in seinem Nachwort und ja, natürlich ist es das, aber es ist auch noch eine ganze Menge mehr.

Es geht um ein Buch, ein Buch im Wandel der Zeiten, es geht aber auch um Menschen, deren Schicksale lose verbunden sind über Jahrhunderte hinweg.

Antonius Diogenes verfasste einst die Legende vom Wolkenkuckucksland, hat sie auf mehreren Tafeln festgehalten und zu einem wunderbaren Buch gebunden. Es erzählt die Geschichte von Aethon, dem einfältigen Schäfer, der mit seinem Leben nicht zufrieden war und mehr wollte, in einen Esel, einen Fisch und einen Vogel verwandelt wurde, um das Wolkenkuckucksland zu finden, wo alle glücklich sind, in den Flüssen Wein fließt und Schildkröten mit Honigkuchen beladen wandeln.

Darüber stolpert 1440 in Konstantionopel die kleine Anna, 2020 führen es Kinder aus Idaho als Theaterstück auf und in einer unbestimmten Zukunft findet Konstanze Fragmente davon in der virtuellen Bibliothek eines Raumschiffs.

Das sind die groben Eckpfeiler des Buches, aber es gibt auch noch ganz viel davor, danach und exquisites Drumherum. Auch wenn man anfangs vielleicht denkt, es ginge recht beschaulich-betulich los, merkt man schnell, man irrt sich. Dieses Buch ist vielschichtig, im wahrsten Sinne des Wortes. Tragisch-grausige Geschichten wechseln sich ab in mehreren Zeitebenen, es ist kompliziert, aber auch mitreißend. Man ist in kürzester Zeit gefesselt von diesen Schicksalen.

Und trotz einigem Blut, Schmutz, Krieg, Belagerungen, Grausamkeiten oder auch Bombenanschlägen wirkt dieses Buch anrührend, warmherzig. Alle diese Menschen finden in irgendeiner Form Trost und Hilfe durch Diogenes‘ märchenhafte Geschichte.

Dies ist ein wunderbares Buch, in das man sich fallen lassen kann, in dem man viel erlebt, Schreckliches und Schönes und durch das man lernt, dass das Glück nicht immer in der Ferne liegt. Das klingt amerikanisch pathetisch, ist aber zart, elegant angelegt, erlesen komponiert, und trotz höchster Dramatik auch zauberhaft. Unbedingt lesen!

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