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Veröffentlicht am 23.10.2021

Zutiefst bewegende Geschichte

Die Übersetzerin
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Wüsste man nicht, dass dies eine durch und durch wahre Geschichte ist, würde man sie kopfschüttelnd als zu unrealistisch ablehnen. So ging es mir jedenfalls, bevor ich nach den ersten Kapiteln ...


Wüsste man nicht, dass dies eine durch und durch wahre Geschichte ist, würde man sie kopfschüttelnd als zu unrealistisch ablehnen. So ging es mir jedenfalls, bevor ich nach den ersten Kapiteln zu recherchieren begann und überrascht feststellte, dass nicht einmal die Namen der Hauptfiguren verfremdet wurden. Sämtliche Akteure gab es wirklich. Was sie erlebten, ist verbürgt und nimmt einem den Atem.
Als alternative comedian ist Jenny Lecoat in Großbritannien eigentlich besser bekannt. Als Kind der Kanalinsel Jersey hat die Fernsehautorin Anfang des Jahres ihren Debütroman "Hedy's War" vorgelegt, der im September dank der Übertragung von Anke Kreutzer unter dem Titel "Die Übersetzerin" auch auf Deutsch erschien.
Der ist alles andere als komisch und beleuchtet ein Kapitel, das selbst im Vereinigten Königreich als wenig bekannt gilt: Die Besetzung der Kanalinseln durch die Deutschen im 2. Weltkrieg.
Hierhin flüchtet die Jüdin Hedwig Bercu 1938 aus Wien und kommt bei ihrem guten Freund Anton Weber unter, der auf Jersey als Bäcker arbeitet. Als die Deutschen 1940 die Insel besetzen, müssen sich alle Juden registrieren lassen, wobei die örtlichen Behörden eine diensteifrige Rolle und den Deutschen in die Hände spielen. Trotz heller Haare, guter Geschichte und ungeklärtem Status bekommt Hedy "zur Sicherheit" ein rotes J in den Pass gestempelt. Doch die Besatzungsmacht braucht dringend Übersetzer und drückt deshalb ein Auge zu, als Hedy - gleichermaßen von Selbstverachtung wie Überlebenswillen erfüllt - für die Stelle vorspricht.
Während auf der Insel alles Lebensnotwendige knapp wird, verliebt sich ausgerechnet einer der Offiziere in die junge Frau, die die Gefühle schließlich erwidert. Ihre heimliche Liebe erhellt das Dunkel, aber auch für Hedy kommt der Tag des Untertauchens. Ihr Überleben hängt nun allein von Kurt und der Insulanerin Dorothea ab, die wegen der Heirat mit Anton unter den Einheimischen als "Jerrybag" verschrien ist...

Dies ist eine der Geschichten, die vermutlich nicht in den Kanon der Weltliteratur eingehen, vielleicht aber in den der Lieblingsbücher. Geschichten, die man in einem Rutsch liest und die beeindrucken, weil sie authentisch und persönlich sind. Jenny Lecoat hat viel Herzblut und Recherchearbeit in diesen Roman gesteckt, hat die Inselbewohner und ihr Erinnerungsarchiv befragt und auf diese Weise so viel mehr als die historischen Fakten zwischen die Zeilen gebannt, fernab von Schwarzweißmalerei und einseitigen Schuldzuweisungen.
Die Autorin erzählt direkt, packend und chronologisch, einer raffinierten Dramaturgie bedarf es nicht. Die Protagonisten sind vielschichtig und glaubwürdig, obwohl Jenny Lecoat hier viel fiktionalisieren musste. Die Dialoge geraten mitunter etwas holprig, doch darüber kann man leicht hinweglesen, während man dem Ende entgegenfiebert. Die wahre Geschichte endete erste vor kurzem: Dorothea Weber, geborene Le Brocq, wurde in Yad Vashem zur Gerechten unter den Völkern ernannt.

















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Veröffentlicht am 30.09.2021

Rabenschwarz und irre komisch

The Stranger Times
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Selten so gut amüsiert ! Absolute Leseempfehlung!

Hannah Willis ist nach übler Trennung gezwungen, ihre Brötchen selbst zu verdienen. Verzweifelt genug, sich bei der "Stranger Times" zu bewerben, ...

Selten so gut amüsiert ! Absolute Leseempfehlung!

Hannah Willis ist nach übler Trennung gezwungen, ihre Brötchen selbst zu verdienen. Verzweifelt genug, sich bei der "Stranger Times" zu bewerben, dem Käseblatt für alles Paranormale, trifft sie just in dem Augenblick in der verfallenen alten Kirche ein, die als Redaktion dient, als sich einer der Reporter wie jeden Montag vom Dach zu stürzen droht. Im Inneren eine entnervte Büroleiterin samt aufmüpfig-hochbegabter Praktikantin. Und Vincent Banecroft, ein einst genialer Redaktionsleiter, der nach glorreichen Zeiten an der Fleetstreet mehr der Whiskeyflasche auf den Grund geht als den Hinweisen seiner schon mal als "Irre, Bekloppte und Verrückte" bezeichneten Informanten und außerdem zu Wutausbrüchen neigt. Wortgefechte, Gläser und sogar Kugeln zerfetzen die abgestandene Luft im Haus der "Alten Seelen".
Doch bevor Hannah realisiert, in welchen falschen Film sie hier geraten ist, taucht in der Stadt die erste Leiche mit unerklärlichen Verletzungen auf. Aus dem Wahnsinn wird Wahrheit. Schnell ist klar, hier sind uralte Kräfte und Kreaturen am Werk. Als es dann auch noch einen der Ihren trifft, muss sich das Team zusammenreißen und echten Investigativjournalismus betreiben...

"The Stranger Times" von C.K. McDonnell, heute erschienen @eichbornverlag, wird mit Sicherheit viele Leser finden - der Roman ist ein Mix aus Fantasy und Cosy Crime bzw. eine Parodie all dessen und sprüht nur so vor Dialogwitz, Situationskomik und liebenswert-schrägen Charakteren. Und das vom Prolog bis zur letzten Zeile des (lustig-morbiden) Nachworts.
Kein Wunder, der Autor ist ein erfolgreicher irischer Stand-up-Comedian, der sein Genre mehr als beherrscht und bereits als Autor der Dublin-Trilogy berühmt wurde, von der er mehr als 200.000 Exemplare verkauft hat.
Dank der spritzigen, kongenialen Übersetzung durch André Mumot geht auch im Deutschen keine der treffsicheren Pointen verloren. (Vielen Dank für dieses Lesevergnügen, und das mit dem Eimer tut mir echt leid!!)
Auch das Cover samt rabenschwarzem Buchschnitt ist ein echter Zugreifer. Zwischen den Kapiteln der genial-absurd geplotteten Story finden sich als zusätzliches Lachmuskelfutter Lesehäppchen aus der "Stranger Times", die erst am Ende ihrer eigentlichen Geheimmission gewahr wird.
Das furiose Finale wartet mit genau dem Cliffhanger auf, den ich mir heimlich erhofft hatte. Und nun - Vorfreude auf Teil 2!
(unbezahlte Werbung - Rezensionsexemplar)

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Klug und fesselnd bis zur letzten Seite

Die Leuchtturmwärter
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Silvester 1972. Drei Männer verschwinden von einem Leuchtturm mitten auf hoher See. Die Ablösung muss die von innen verriegelte Tür aufbrechen und findet außer dem für zwei Personen gedeckten Tisch und ...

Silvester 1972. Drei Männer verschwinden von einem Leuchtturm mitten auf hoher See. Die Ablösung muss die von innen verriegelte Tür aufbrechen und findet außer dem für zwei Personen gedeckten Tisch und zwei zur selben Zeit stehengebliebenen Uhren keinerlei Spuren.
Zwanzig Jahre später versucht der bekannte Schriftsteller Dan Sharp dem Rätsel auf den Grund zu gehen und sucht die zurückgelassenen Frauen der Wärter auf...
In ihrem Debütroman "Die Leuchtturmwärter" nimmt Autorin Emma Stonex Bezug auf eine wahre Geschichte. Das Schicksal der 1901 verschollenen Wärter wurde jedoch nie aufgeklärt.
Eva Kemper hat den Roman ins Deutsche übertragen, erschienen ist er jüngst @s_fischerverlage.

Wenn ich im Nachhinein erneut den Klappentext lese, so verspricht er gar nicht mehr, als das Buch tatsächlich hält. Dennoch hatte ich etwas anderes erwartet; vielleicht etwas Abenteuerlicheres oder Mystisches wegen des Cornwall-Settings? Einen originelleren Plott, überraschendere Twists? Keine rein monologischen Zeugenaussagen, mehr Krimi und weniger Beziehungsroman?
Wer sich dennoch auf die Erzählstruktur einlässt, wird aber keinesfalls enttäuscht. In den Bekenntnissen, die die drei Frauen ihrem stummen Gegenüber offenbaren, dräut immer stärker das Unheil herauf, das die Beziehungen dieser sechs Menschen miteinander verflicht. Alternierend dazu - und das fand ich doch etwas gewöhnungsbedürftig - hören wir auch die Erzählstimmen der drei Männer, die ebenso ihre Lebensbeichten ablegen. Wenn man nicht hinterfragt, woher diese Stimmen kommen, liest sich das Ganze durchaus packend, denn die Autorin versteht es, die Tragödie in all ihren Facetten klug und psychologisch tiefgründig auszuleuchten. Das wochenlange Getrenntsein, das sich in die Beziehungen frisst wie die salzige Gischt in den Turm; die innere Einsamkeit zu dritt auf engem Raum; das allzulange Starren aufs ewig graue, seltsam mächtige Wasser; Liebe, unerfüllte Hoffnungen, Vertrauensbruch, Schuld und Rache. Fast jede/r der Beteiligten trägt zudem ein Geheimnis mit sich herum, das nun Stück für Stück ans Licht kommt...

Ab und zu habe ich mir gewünscht, die unterschiedlichen Perspektiven hätten sich in der Typografie niedergeschlagen, denn anfangs musste ich ab und an zur Kapitelüberschrift zurückblättern, weil mir nicht klar war, wer gerade spricht.
Beim Hörbuch, das ich wie so oft parallel im Einsatz hatte, ließ sich das besser verfolgen, da Tessa Mittelstaedt und Timo Weisschnur die Charaktere erkennbar profilieren. Sie verstehen es außerdem ganz fabelhaft, Melancholie und Düsternis, die überwiegend graue See und die subtile Kälte, die den Roman durchzieht, in ihren Stimmen zu transportieren.
Die Auflösung war für mich letztlich weniger spannend als die Handlung selbst, die im letzten Drittel mit dem Versuch eines mystischen Elements und einer geheimnisvollen Person nochmal an Fahrt gewinnt, aber zumindest wird das Publikum im Gegensatz zu den drei Frauen nicht im Dunkeln gelassen. Oder doch?

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Fesselnde Tiefsee

Wenn Haie leuchten
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Wie groß ist der "Wortschatz" eines Delfins, wo schwimmen Haie ins Café und warum können einige von ihnen füreinander leuchten? Können Fische zählen? Was sind Phantominseln, hat James Cook bei seinen Entdeckungen ...

Wie groß ist der "Wortschatz" eines Delfins, wo schwimmen Haie ins Café und warum können einige von ihnen füreinander leuchten? Können Fische zählen? Was sind Phantominseln, hat James Cook bei seinen Entdeckungen etwa geschummelt ? Wie lässt sich all das herausfinden und was hat es mit uns zu tun?
In ihrem Sachbuchdebüt nimmt die Meeresbiologin Julia Schnetzer ihr Lesepublikum mit auf eine spannende Tauchfahrt quer durch die aktuelle Meeresforschung. Sie erklärt anschaulich, weshalb in toxischen Tiefseekratern vielfältiges Leben möglich ist und welche Lösungen im viralen Mikrokosmos liegen. Sie erzählt von solarbetriebenen Meeresschnecken und kiffenden Delfinen. Wir erfahren, weshalb Mars und Mond präziser kartiert sind als der Meeresboden, dessen Vermessung dank neuer Technologien mittlerweile zügig vorankommt und bereits geografisch Überraschendes auf die Monitore brachte.
Und auch wenn die enthusiastische Science-Slammerin ihr Publikum mitzureißen versteht, sie schreibt keinesfalls anekdotisch. Hier steht die Forschung mit ihren Methoden und Messverfahren im Fokus, und solide Grundkenntnisse in Biochemie und Physik sind klar von Vorteil.
Dennoch kommen auch Leser*innen auf ihre Kosten, die sich mehr für neu entdeckte Arten oder Verhaltensbiologie interessieren. Sehr sympathisch fand ich hier z.B. den Ansatz, den ohnehin schwammigen Intelligenzbegriff nicht länger am Menschen festzumachen, sondern am kognitiven Vermögen der jeweiligen Art.
Julia Schnetzer bringt ihr Publikum auf den neuesten Stand der Forschung, zeigt deren Grenzen auf und dass diese nicht zum Selbstzweck geschieht. So dienen etwa Studien zum Alter von Meerestieren nicht dazu Rekorde aufzulisten, sondern nachhaltiger Fischerei.
Mit ihrer Begeisterung für das eigene Metier schafft es die Wissenschaftlerin, uns für das größte Ökosystem unseres Planeten zu sensibilisieren und appelliert eindringlich, sich um dieses zu sorgen. Dass Kunststoffe im Wasser schädlich sind, ahnt vermutlich jeder. Doch was es genau anrichtet und was deshalb auf uns zukommt, lässt umdenken.
Das Kapitel zum verlorenen Plastik- schätzungsweise 100 000 Tonnen befinden sich augenblicklich allein in Tieren und ein Vielfaches davon ist schlicht unauffindbar - wird noch lange in mir nachwirken.
⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Fesselnd und hochaktuell

Russische Botschaften
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Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht ...

Gerade als die junge Journalistin Merle Schwalb ins Investigativressort des „Globus“ wechselt, schlägt neben ihr ein junger Mann aufs Neuköllner Straßenpflaster. Balkonsturz, sofort tot. Laut Polizeibericht jedoch liegt er schwerverletzt im Krankenhaus, Merles Instinkte sind geweckt. Schnell findet sie heraus, dass es sich um den (sehr wohl toten) Russen Anatoli Nowikow handelt. Und ebenso schnell taucht in den Händen eines befreundeten Reporters der „Norddeutschen Zeitung“ eine dubiose Gehaltsliste des russischen Geheimdienstes (?) mit deutschen Zuträgern auf, darunter die Namen der beiden Chefredakteure. Journalisten beider Zeitungen bilden ein geheimes Rechercheteam und folgen den Spuren.
Yassin Musharbashs Hauptstadtthriller „Russische Botschaften“ @kiwi_verlag, mit dem er uns als Insider ins Milieu des Investigativjournalismus führt, lässt einem nicht unbedingt den Atem stocken. Doch er ist durchweg straff, spannend und kenntnisreich erzählt, hat einige überraschende Wendungen parat und besticht vor allem durch seine Authentizität. Dafür sorgen nicht nur die atmosphärischen Beschreibungen von Redaktionskonferenzen und kleinteiliger Recherchearbeit, sondern auch realistische und leicht nachzulesende Beispiele für das Romanthema:
Es geht um die vom russischen Präsidenten mehr oder weniger offen ausgeschriebene Zersetzung der westlichen Demokratien durch Geheimdienste wie auch (einfluss)reiche Privatpersonen und deren Seilschaften, die sich dadurch Ansehen im Kreml erhoffen. Die Methoden dieser Player sind mittlerweile kein Geheimnis mehr. Mit gezielter Desinformation und Propaganda durch gekaufte Journalisten, Blogger, Influencer, Politiker wie auch cyberkriminelle Machenschaften wie Trollfabriken, Kreml-Bots oder Fake-Accounts in den sozialen Medien werden Wahlen beeinflusst, Existenzen zerstört, Verbrechen vertuscht oder erfunden.
Das bekommt auch unser Journalistenteam zu spüren, das den Angriffen der Gegenseite bald schutzlos ausgeliefert ist, was sie selbst und ihr Ringen um ehrliche, belastbare Informationen in ernste Gefahr und vor allem in Zeitnot bringt…Apropos Figurenensemble - dieses ist recht groß geraten, so dass ihm die Feinzeichnung der Charaktere, zu denen man durchweg auf Distanz bleibt, letztlich zum Opfer fällt. Selbst die toughe Merle, die sich in der Männerdomäne Redaktion immer stärker durchzusetzen weiß, wirkt am Anfang genauso kühl wie am Ende. Dieses ist übrigens offen. Damit muss man leben oder auf eine Fortsetzung hoffen. Leseempfehlung!
(Unbezahlte Werbung - Rezensionsexemplar)

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