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Veröffentlicht am 15.05.2025

Die Sehnsucht nach Freiheit, die im eigenen Körper endet

Play Boy
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"Mit einem Mann wäre es einfacher gewesen. Wir hätten uns geküsst, hätten miteinander geschlafen, hätten es versucht. Irgendwie hätten wir gewusst, woran wir sind. Es hätte nicht all die Monate gegeben, ...

"Mit einem Mann wäre es einfacher gewesen. Wir hätten uns geküsst, hätten miteinander geschlafen, hätten es versucht. Irgendwie hätten wir gewusst, woran wir sind. Es hätte nicht all die Monate gegeben, in denen wir uns anlächeln und nicht trauen. Mit ihnen ist es einfacher. Wir geben ihnen Signale und überlassen ihnen die Entscheidung über die Geste. Wir überlassen ihnen die Frage nach dem Mut." (E-Book Buchzitat, S. 35)

In "Play Boy" erzählt Constance Debré von der Befreiung aus gesellschaftlichen Normen und heteronormativen Rollenbildern – kompromisslos, rau und intensiv. Debré, geboren 1972, war zunächst als Strafverteidigerin tätig, bevor sie sich vollständig dem Schreiben widmete. Sie entstammt einer prominenten französischen Familie und ist bekannt für ihre kompromisslose Haltung gegenüber gesellschaftlichen Konventionen. „Play Boy“, 2018 in Frankreich erschienen, ist nun erstmals 2025 auf Deutsch erhältlich.

Worum geht’s genau?

Die Erzählerin trennt sich nach Jahren der Ehe von ihrem Mann und beginnt ein neues Leben – allein, lesbisch, kompromisslos. Dabei entledigt sie sich nicht nur alter Kleidungsstücke und Möbel, sondern auch von den Erwartungen und Zuschreibungen, die mit der Rolle der Ehefrau, Mutter und Tochter verbunden sind. Auf der Suche nach Freiheit, Lust und einer neuen Körperlichkeit beginnt sie Beziehungen mit Frauen, lebt eine radikal freie Sexualität und stellt sich zugleich ihrer Vergangenheit – der Kindheit in einer bürgerlich-deklassierten Familie, dem frühen Tod der Mutter und der Drogenabhängigkeit des Vaters.
Mit schonungsloser Offenheit erkundet die Ich-Erzählerin das Spannungsverhältnis zwischen Begehren und Selbstverlust, zwischen gesellschaftlicher Ablehnung und individueller Emanzipation – immer mit dem eigenen Körper als Medium der Erfahrung.

Meine Meinung

"Play Boy" habe ich als kostenloses Rezensionsexemplar von NetGalley und dem Matthes & Seitz Berlin Verlag erhalten – vielen Dank dafür. Mit 158 Seiten lässt sich das Buch schnell lesen, aber es ist keineswegs leichte Kost. Es war mein erstes Buch von Constance Debré, und ich war neugierig – vor allem, weil ich das Thema aus weiblicher Perspektive auf den „male gaze“ sehr spannend finde.

Was mich sofort angesprochen hat, war das kraftvolle, minimalistische Cover – ein echter Blickfang. Der Inhalt allerdings hat mich nicht in gleichem Maß überzeugt. Der autofiktionale Text ist intensiv, sprachlich rau, oft repetitiv und voller körperlicher Direktheit. In vielen Passagen wirkt es, als hätte Debré spontan Gedanken und Impulse niedergeschrieben – roh und unbearbeitet. Dieses Stilmittel kann provozieren, aber es führt auch dazu, dass sich vieles wiederholt und die emotionale Distanz zur Hauptfigur bestehen bleibt.

Die Darstellung des Begehrens der Erzählerin gegenüber Frauen ist zentral: Es ist ein konsumierendes, vergängliches Verlangen, das selten echte Nähe zulässt - eben ein männliches Begehren. Die Frauen erscheinen nicht als Individuen, sondern als Körper – als Projektionsflächen für eine Lust, die sich schnell abnutzt. Das fand ich zwar inhaltlich interessant, aber zunehmend auch verstörend und ermüdend.

Hinzu kommt das Gefühl, dass die Autorin bewusst eine gewisse Unverständlichkeit in Kauf nimmt. Besonders die Familiengeschichte – vor allem die Beziehung zum Vater – blieb für mich unklar und wirkte eher wie eine vage Andeutung als eine erzählerische Entwicklung. Auch die Reflexionen über Gesellschaft und Außenseitertum, so aufrichtig sie klingen mögen, hinterlassen eher ein Bild von Isolation als von Aufbruch.

Ein Punkt, der mich gestört hat: In der deutschen Übersetzung wurde nicht gegendert. Gerade bei einem so explizit queer-feministischen Text hätte ich mir eine inklusivere Sprache gewünscht.

Was für mich bleibt, ist ein Text, der viel will – aber für mich in der Umsetzung nicht vollständig aufgeht. Die emotionale Kälte, die Ablehnung gegenüber Nähe, das sich abnutzende Begehren – all das bleibt konsequent, aber auch anstrengend.

Fazit

"Play Boy" ist ein radikales, schonungsloses Buch über Selbstbestimmung und körperliches Begehren, das aber in seiner Wiederholung, Emotionalität und Sprachgestaltung nicht immer überzeugt. Die Distanz zur Hauptfigur bleibt bestehen, der Text wirkt unfertig und schwer greifbar. Für mich ergibt sich daraus eine Bewertung von 2,5 von 5 Sternen – ein wichtiger, aber anstrengender Beitrag zur queeren Literatur.

Früher oder später ist man von allem gelangweilt. Allem, meine Liebe. Einschließlich der Verlorenheit. Und der eigenen Person." (E-Book Buchzitat, S. 152)

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Veröffentlicht am 15.05.2025

Humorvoll, absurd, aber auch etwas zu langatmig

Achtsam morden
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In "Achtsam morden" gerät ein gestresster Strafverteidiger durch ein Achtsamkeitsseminar auf einen... nun ja, ungewöhnlich entschleunigten Weg zur Selbstfindung – inklusive Mord. Karsten Dusse, geboren ...

In "Achtsam morden" gerät ein gestresster Strafverteidiger durch ein Achtsamkeitsseminar auf einen... nun ja, ungewöhnlich entschleunigten Weg zur Selbstfindung – inklusive Mord. Karsten Dusse, geboren 1973 in Essen, studierte Jura in Bonn und Lausanne und ist seit 2003 zugelassener Rechtsanwalt. Seine Karriere führte ihn jedoch in die Medienwelt, wo er sich mit einem Mix aus juristischem Know-how und feinem Humor einen Namen als Drehbuchautor und TV-Rechtsexperte machte. Seine Werke zeichnen sich durch Witz, Ironie und eine gewisse Lust am Grenzgang zwischen Ernst und Unterhaltung aus.

Worum geht’s genau?

Björn Diemel, erfolgreicher Strafverteidiger mit viel zu wenig Zeit für seine Familie, steht am Rand des Burnouts – seine Ehe kriselt, seine Tochter sieht er kaum, und sein Mandant, ein brutaler Verbrecher, setzt ihn zunehmend unter Druck. Auf Wunsch seiner Partnerin besucht er ein Achtsamkeitsseminar, das sein Leben nachhaltig verändert – allerdings in völlig unerwarteter Weise. Statt sein Dasein achtsamer und friedlicher zu gestalten, nutzt er die Methoden des achtsamen Lebens... um einen Mord zu begehen. Fortan lebt Björn entspannter – und beseitigt Hindernisse in seinem Leben mit meditativem Fokus. Das Ergebnis ist eine skurrile, schwarze Komödie über Selbstoptimierung, Moral und Mord – alles ganz bewusst.

Meine Meinung

„Achtsam morden“ war für mich ein Überraschungspaket: Ich habe es im Rahmen einer Buchwichtelaktion im Dezember 2024 erhalten – an dieser Stelle ein großes Dankeschön an mein Wichtel-Pendant. Tatsächlich hatte ich das Buch schon oft in Buchhandlungen gesehen (es ist schon 2019 erschienen), aber weder Cover noch Titel haben mich wirklich angesprochen. Ich konnte mir schlicht nichts darunter vorstellen.

Jetzt aber, mit Buch in der Hand, wurde ich schnell von der Grundidee gefesselt. Die Kombination aus Achtsamkeit und Krimi ist originell, fast schon genial – und genau diese kreative Prämisse hat mich direkt überzeugt. Der humorvolle Stil, mit dem Karsten Dusse schreibt, trifft dabei einen besonderen Ton: leichtfüßig, ironisch und manchmal auch bissig. Die Zitate des Achtsamkeitstrainers zu Beginn jedes Kapitels sind nicht nur gelungene Einstiege, sondern beinhalten tatsächlich kluge, im Alltag anwendbare Impulse – sofern man sie nicht, wie Björn, für Mordpläne nutzt.

Allerdings hatte ich mit dem Verlauf der Geschichte zunehmend Schwierigkeiten. Die Handlung rund um das Verbrechensmilieu, das Björn umgibt, konnte mich nicht wirklich fesseln – zu konstruiert, zu abgehoben, zu wenig greifbar. Was zunächst frisch und unterhaltsam begann, wurde mit der Zeit eher zäh. Die Story zog sich stellenweise und hätte meiner Meinung nach gut einige Seiten kürzer sein können.

Ein weiteres Problem war für mich die Figurenzeichnung: Die Charaktere bleiben blass und wirken eher wie funktionale Werkzeuge der Handlung denn als echte Persönlichkeiten. Besonders enttäuschend war, dass selbst die Hauptfigur Björn keine echte Entwicklung durchläuft – seine Wandlung zur „achtsamen“ Person bleibt an der Oberfläche und wirkt trotz Mord weder glaubwürdig noch emotional nachvollziehbar.

Hinzu kommen einige überzogene, unnötig brutale Szenen, die den zuvor charmanten Ton der Geschichte torpedieren. Statt einer schwarzen Komödie mit cleverem Unterton driftet der Roman manchmal ins Groteske ab, was dem Gesamteindruck schadet. Das Ende ist – trotz Spannung – wenig befriedigend, da es bewusst auf eine Fortsetzung hinläuft, die inzwischen ja auch erschienen ist (mittlerweile hat die Reihe schon 5 Bände).

Trotz allem ist es spannend zu sehen, wie die Achtsamkeitslehre hier literarisch interpretiert wird – ein Konzept, das ich in dieser Form bisher noch nicht gelesen habe. Und auch wenn die Geschichte mich nicht durchweg überzeugt hat, bleibt der innovative Ansatz ein Pluspunkt.

Fazit

„Achtsam morden“ ist eine kreative, humorvolle Idee mit interessanten Ansätzen – aber leider verliert sich die Geschichte im Verlauf. Die oberflächlichen Charaktere, übertriebene Szenen und die Längen im Mittelteil nehmen dem Roman viel von seiner anfänglichen Stärke. Ich vergebe 3 von 5 Sternen.

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Veröffentlicht am 15.05.2025

Ein kraftvolles Plädoyer für Selbstbestimmung

Hunchback
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"Ich kann keine Mona Lisa werden. Weil ich ein Buckelmonster bin, ein hunchback." (Buchzitat, E-Book, S. 42)

In „Hunchback“ erzählt Saou Ichikawa die Geschichte von Shaka Izawa, einer Frau mit einer seltenen ...

"Ich kann keine Mona Lisa werden. Weil ich ein Buckelmonster bin, ein hunchback." (Buchzitat, E-Book, S. 42)

In „Hunchback“ erzählt Saou Ichikawa die Geschichte von Shaka Izawa, einer Frau mit einer seltenen Muskelerkrankung, die in einem Pflegeheim lebt und sich kompromisslos mit Themen wie Sexualität, Autonomie und gesellschaftlicher Ausgrenzung auseinandersetzt. Die Autorin, geboren 1979, studierte Humanwissenschaften an der Waseda-Universität und lebt selbst mit einer angeborenen Myopathie. Mit ihrem Debütroman gewann sie als erste Autorin mit einer körperlichen Behinderung den renommierten Akutagawa-Preis und wurde für den International Booker Prize 2025 nominiert.

Worum geht's genau?

Shaka Izawa lebt nach dem Tod ihrer Eltern in einem Pflegeheim außerhalb Tokios. Aufgrund ihrer schweren Wirbelsäulenkrümmung ist sie auf einen elektrischen Rollstuhl und ein Beatmungsgerät angewiesen. Trotz ihrer körperlichen Einschränkungen ist sie geistig aktiv: Sie studiert online, schreibt erotische Kurzgeschichten und teilt provokante Gedanken auf Social Media. Als ein Pfleger sie auf ihre Beiträge anspricht, nutzt Shaka die Gelegenheit, ihm ein unmoralisches Angebot zu machen, um eine Samenspende zu erhalten. Diese Entscheidung führt zu einer Reihe von Ereignissen, die ihre Sicht auf sich selbst und ihre Umwelt nachhaltig verändern.

Meine Meinung

Ich habe „Hunchback“ als kostenloses Rezensionsexemplar über NetGalley erhalten – vielen Dank an NetGalley und den Ecco Verlag dafür. Mit nur 96 Seiten ist es eher ein Büchlein, doch der Inhalt ist intensiv und vielschichtig.

Von Beginn an wird man direkt in Shakas Gedankenwelt hineingezogen. Ihre scharfsinnigen Beobachtungen und ihr schwarzer Humor machen sie zu einer faszinierenden Erzählerin. Besonders in Erinnerung bleiben wird für mich das Thema Barrierefreiheit in der Literatur: Shakas Schwierigkeiten beim Lesen physischer Bücher werfen ein Licht auf die oft übersehenen Herausforderungen, denen sich Menschen mit Behinderungen gegenübersehen. Auch für mich war wirklich neu, wie vielfältig die Herausforderungen beim Lesen sein können abseits der "bekannten" Behinderungen, die beim Lesen einschränkend sein können. Auch die Darstellung von Shakas Sexualität ist mutig und ehrlich. Ihre Wünsche und Fantasien werden nicht beschönigt, sondern in ihrer ganzen Komplexität gezeigt. Dies bietet eine seltene Perspektive auf das Leben einer Frau mit Behinderung, die sich nach körperlicher Nähe und Selbstbestimmung sehnt. So beispielsweise Shakas provokante Aussagen wie diese hier:

Ich rufe auf dem iPhone meinen privaten Twitter-Account auf und tweete: ›Im Swinger-Club Kondome von der Decke regnen lassen – der Job würde mir auch gefallen.‹ Es ist ein unbedeutender Account, der von niemandem groß gelikt wird. Kein Wunder! Wie soll man auch auf einen Account reagieren, auf dem eine praktisch bettlägerige, schwerbehinderte Frau immerzu grummelt: ›Im nächsten Leben werde ich Edelnutte.‹ (Buchzitat, E-Book, S. 11)
Solche Textstellen wirkt zunächst schockierend, sind jedoch Ausdruck ihres Wunsches nach Normalität und Selbstbestimmung.

Der Schreibstil erinnert stellenweise an einen Essay, was gut zum Text an sich passt. Es ist eine gelungene Mischung aus Autofiktion, Wutrede und poetischer Reflexion. Vielleicht gerade deshalb hat es mich sehr gefesselt, auch wenn ich das Buch sowohl inhaltlich als auch sprachlich stellenweise herausfordernd fand. Die Beziehung zu ihrem Pfleger Tanaka ist komplex und wirft Fragen zu Machtverhältnissen und Autonomie auf. Als begeisterte Musikerin habe ich auch die musikalischen Anspielungen geschätzt, wie die Beschreibung ihrer Kommunikation als atonal, ähnlich wie bei Schönberg.

Fazit

„Hunchback“ ist ein kraftvolles, unbequemes und zugleich humorvolles Werk, das einen neuen Blick auf das Thema Behinderung bietet. Es fordert heraus, regt zum Nachdenken an und bleibt lange im Gedächtnis. Ich vergebe 4 von 5 Sternen.

"Wie eine normale Menschenfrau ein Kind empfangen und abtreiben – das ist mein Traum." (Buchzitat, E-Book, S. 15)

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Veröffentlicht am 15.05.2025

Sardinien wie man es noch nie gelesen hat

Der dunkle Sommer
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Vera Buck, geboren in Nordrhein-Westfalen, ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin, die sich mit ihren tiefgründigen und atmosphärischen Romanen einen Namen gemacht hat. Sie hat Journalistik, Literaturwissenschaft ...

Vera Buck, geboren in Nordrhein-Westfalen, ist eine vielfach ausgezeichnete Autorin, die sich mit ihren tiefgründigen und atmosphärischen Romanen einen Namen gemacht hat. Sie hat Journalistik, Literaturwissenschaft und Drehbuchschreiben unter anderem in Frankreich, Spanien und auf Hawaii studiert. Ihre Werke wie "Runa" oder "Wolfskinder" wurden für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert. Heute lebt und arbeitet sie als freie Schriftstellerin in der Schweiz – inspiriert von Reisen und Wanderungen durch einsame Berglandschaften.

Worum geht’s genau?

Tilda, eine deutsche Architektin, kauft sich ein verfallenes Haus in einem scheinbar verlassenen Dorf auf Sardinien – für nur 1€. Auf der Suche nach einem Neuanfang will sie das Haus renovieren und mit der Vergangenheit abschließen. Doch die Ruhe trügt: Glocken läuten sonntags wie von Geisterhand, Dorfbewohner:innen warnen vor einem Fluch, und dann taucht ihr jüngerer Bruder Nino auf – samt verdrängter Erinnerungen. Als Nino plötzlich verschwindet, begibt sich Tilda gemeinsam mit dem Journalisten Enzo auf Spurensuche. Dabei stoßen sie auf dunkle Geheimnisse, eine lange verdrängte Geschichte der Gewalt – und eine sardische Tradition, die vor allem für Frauen lebensverändernde Konsequenzen hatte. Alles scheint mit Tildas eigener Vergangenheit verbunden zu sein.

Meine Meinung

Was mich sofort gepackt hat, war das atmosphärische Cover – geheimnisvoll, düster, mediterran. Als Italien-Fan war ich sofort neugierig und konnte nicht widerstehen. Ich habe "Der dunkle Sommer" als Hörbuch über NetGalley und den Argon Verlag gehört – an dieser Stelle ein großes Dankeschön für das Rezensionsexemplar.

Die Geschichte selbst entwickelt früh eine Sogwirkung: Die düstere Atmosphäre des Geisterdorfs, die angedeuteten Familienkonflikte und die Frage, was wirklich in diesem Dorf geschehen ist, haben mich nicht mehr losgelassen. Trotz einer Spielzeit von über zehn Stunden habe ich das Hörbuch in wenigen Tagen durchgehört.

Inhaltlich war für mich überraschenderweise weniger der Thriller-Aspekt (wobei ich allgemein sagen muss es ist mehr Familiendrama als Thriller ist) überzeugend, als vielmehr das historische und gesellschaftskritische Fundament, das mich beeindruckt hat. Die Erzählung ist ein Familiendrama, das gleichzeitig die Geschichte eines sardischen Dorfes und einer patriarchalen Tradition erzählt. Besonders die Thematik des „matrimonio riparatore“ – also der Zwangsheirat zur "Wiederherstellung der Ehre" nach einer Vergewaltigung – war für mich erschütternd und gleichzeitig faszinierend. Es war mir neu, dass diese Praxis bis in die späten 1970er Jahre gesetzlich erlaubt war. Auch wenn einem die Grundidee der „Ehrrettung“ durch Heirat leider aus vielen Kulturen vertraut ist, war die vormals gesetzliche Verankerung in Italien für mich ein Schock.

Hinzu kommt: Ich war selbst schon einmal in Orgosolo – einem der erwähnten sardischen Dörfer mit rebellischen Geschichte und den berühmten Wandbildern – und hatte dabei keinen blassen Schimmer von diesem düsteren Teil der Vergangenheit. Umso spannender war es, nun literarisch so tief in die Thematik einzutauchen. Die feministische Perspektive der Autorin hat mir besonders gefallen: Die Kritik an patriarchalen Strukturen zieht sich wie ein roter Faden durch die Handlung, ohne je plump oder belehrend zu wirken.

Erzählerisch überzeugt mich die doppelte Zeitebene: Die Ereignisse in der Gegenwart werden durch Rückblenden in die Vergangenheit sinnvoll ergänzt, was dem Roman Tiefe verleiht und die Spannung kontinuierlich aufrechterhält. Besonders stark fand ich, wie sich nach und nach die einzelnen Puzzleteile zusammenfügen. Die hochkarätige Besetzung des Hörbuchs mit Leonie Landa; Laura Maire; Uve Teschner; Julian Mehne; Jeremias Koschorz und Lydia Herms sorgt dafür, dass die zahlreichen Figuren gut unterscheidbar sind und lebendig wirken.

Kritisch sehe ich allerdings das Ende: Es wirkte auf mich etwas überhastet und nicht vollständig stimmig – einige Fragen blieben offen, was mich leicht unbefriedigt zurückließ. Zudem hatte ich etwa eine Stunde vor Schluss eine klare Ahnung, wohin sich die Handlung entwickelt. Die Auflösung war für mich daher keine große Überraschung mehr – aber das mindert nicht die emotionale Wucht der Geschichte.

Fazit

Der dunkle Sommer ist ein atmosphärischer Roman mit Thriller-Elementen, der eine düstere Familiengeschichte mit realhistorischem Hintergrund und feministischer Tiefenschärfe verknüpft. Trotz kleiner Schwächen im Finale ein packender, nachdenklich stimmender Hörgenuss. 4,5 von 5 Sternen.

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Veröffentlicht am 15.05.2025

Ein literarischer Trostspender

Die geheime Sehnsucht der Bücher
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Mit "Die geheime Sehnsucht der Bücher" führt uns Bestsellerautorin Nina George zurück auf das Bücherschiff von Monsieur Perdu – und mitten hinein in eine feinfühlige Geschichte über Literatur, Freundschaft ...

Mit "Die geheime Sehnsucht der Bücher" führt uns Bestsellerautorin Nina George zurück auf das Bücherschiff von Monsieur Perdu – und mitten hinein in eine feinfühlige Geschichte über Literatur, Freundschaft und die Kunst, das eigene Herz zu lesen.
Die 1973 geborene Autorin, bekannt durch Werke wie "Das Lavendelzimmer" und ihre Provence-Krimis (als Jean Bagnol), verwebt hier erneut ihre Liebe zu Büchern mit Themen wie Identität, Trauer, Lebenssinn und Mut zur Veränderung. Mit ihrer Vielseitigkeit – von erotischer Literatur bis zur literarischen Therapie – hat sich George nicht nur als Erfolgsautorin, sondern auch als leidenschaftliche Verfechterin der Literatur etabliert.

Worum geht’s genau?
Monsieur Perdu hat mit seinem Bücherschiff Lulu wieder in Paris angelegt. Gemeinsam mit der jungen, klugen und oft widersprüchlichen Pauline Lahbibi betreibt er die „Pharmacie Littéraire“ – eine Apotheke für seelische Leiden, in der Bücher als Medizin verschrieben werden. Als die zwölfjährige Françoise auftaucht – belesen, verletzlich und mit einem Geheimnis, das größer ist als sie selbst – wird das Leben an Bord tiefgreifend verändert. Gemeinsam kämpfen Perdu, Pauline und Françoise für die Freiheit der Literatur, gegen Zensur, für Selbstbestimmung – und für ein Leben, das mehr ist als Funktionieren.

Meine Meinung:
"Die geheime Sehnsucht der Bücher" hat mich überrascht – im besten Sinne. Um ehrlich zu sein hab ich eine leichte, melancholische Geschichte für Buchliebhaber:innen erwartet, doch schnell gemerkt, dass es das auf keinen Fall ist. Es handelt sich vielmehr um einen Roman, der poetisch und politisch, zärtlich und unbequem zugleich ist.

Die Stärke des Romans liegt in seinen Figuren, allen voran Pauline: kantig, emotional, voller Widersprüche. Sie wirkt gleichzeitig altklug und verletzlich, tough und voller Sehnsucht. Ihre direkte Art, gepaart mit tiefer Empathie, macht sie zu einer der ungewöhnlichsten literarischen Figuren, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Ihre Beziehung zu Perdu ist humorvoll, weise, immer auf Augenhöhe:
»350 Kilometer auf dem Wasserweg, wenn wir durchfahren, zweiundzwanzig Stunden, aber ab Rouen brauchen wir einen Lotsen an Bord, den muss man vorbestellen.«»Wenn ich jetzt noch bitte wissen dürfte, was …« Sie hielt inne. »Honfleur«, sagte sie. »Du meinst die Strecken bis Honfleur.«»Kann sein.«»Was … was soll ich denn da?«»Um dein Herz kämpfen. Und seins.«»Der Zug ist abgefahren. Oder das Schiff, wie du meinst.«»Du hast echt keine Eier in der Hose, Lahbibi.«»Und dir steht Slang nicht, Perdu.«Er antwortete mit Schweigen. (E-Book, S. 241)

Die Dynamik zwischen den Figuren berührt, besonders die liebevolle Fürsorge, die Pauline für Marie zeigt, und die stille Stärke von Françoise, die mit zwölf schon eine Verantwortung trägt, die kein Kind schultern sollte. Eine Stelle, die mir lange im Kopf bleiben wird:
"Puh, das war ziemlich schön. So schön, dass es Françoise wehtat, da unterm Herz. Wahrscheinlich waren das Dehnungsstreifen der Seele. Wenn man mehr Platz brauchte für große Gefühle, dann tat Glück erst mal weh." (E-Book, S. 186)

Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Literatur: „Ein Buch ist Mediziner und Medizin zugleich“ (E-Book, S. 166), so heißt es einmal, und so fühlt es sich auch an. Bücher heilen, fordern, begleiten – und verbinden. Ob mit literarischen Verweisen auf Mascha Kaléko oder das Buch-inspirierte Geburtstagsessen – es steckt so viel Wärme und Kreativität in diesen Seiten.

Doch der Roman ist nicht nur romantische Buchhommage, sondern stellt sich auch aktuellen Themen wie Rassismus, Care-Arbeit, weiblicher Selbstbestimmung und jugendlicher Überforderung. Der Ton wird mitunter ernst, fast politisch, ohne belehrend zu sein: „Menschen, die vor Büchern Angst haben, haben Angst vor Machtverlust.“ (E-Book, S. 180) Gleichzeitig überfrachtet der Roman meiner Meinung nach aber stellenweise seine Erzählung mit zu vielen Themen. Manchmal hätte ich mir mehr Ruhe, mehr Fokus gewünscht. Auch Paulines Liebesgeschichte mit Kofi konnte ich emotional nicht ganz nachvollziehen – sie wirkte auf mich forciert und unausgereift. Auch ein Wermutstropfen: Das Buch verwendet keine gendergerechte Sprache – gerade bei einem Roman, der Diversität und Emanzipation so zentral behandelt, fällt das unangenehm auf.

Dafür überzeugt Nina George mit vielen poetischen, lebensklugen Momenten. Besonders das Zitat hier hat mir wahrscheinlich auch aufgrund meines beruflichen Hintergrunds (Jugendsozialarbeiterin) aus der Seele gesprochen:
»Ich denke darüber nach, dass ich manchmal jungen Menschen, die viel zu sehr wissen, wo sie lang wollen, sagen möchte: Vergiss es. Mach Revolution, schreib peinliche Gedichte, tanz im Dunkeln, verliebe dich, verlieb dich noch mal, leg dich mit der Politik an, mach ’ne Rucksackreise per Anhalter, hilf am Wochenende mal in einer Tierstation oder lerne zu zeichnen, einfach nur so, nur so … ohne gleich damit endgültig was zu wollen. Mit der Revolution oder dem Verlieben.« (E-Book, S. 168)

Fazit:
Die geheime Sehnsucht der Bücher ist ein poetischer, kluger Roman über Literatur, Menschlichkeit und das Recht, sich selbst zu (er)finden. Er berührt, unterhält, regt zum Nachdenken an – und bleibt trotz kleiner Schwächen lange im Gedächtnis. Von mir gibt es dafür 3,5 von 5 Sternen.

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