Humorvoller Krimi über die Ukraine im Revolutionsjahr 1919
REZENSION – Seit bald vier Jahren gehören Meldungen aus der Ukraine auch zu unserem Alltag. Doch über die historischen Hintergründe und Zusammenhänge des ukrainischen Kampfes um die erst im Jahr 1991 errungene ...
REZENSION – Seit bald vier Jahren gehören Meldungen aus der Ukraine auch zu unserem Alltag. Doch über die historischen Hintergründe und Zusammenhänge des ukrainischen Kampfes um die erst im Jahr 1991 errungene Souveränität des flächenmäßig zweitgrößten Landes Europas wissen wir doch allzu wenig. Da bietet uns der in Russland geborene ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow (64) mit seinen Kriminalromanen um den jungen Samson einen historisch aufschlussreichen, zugleich recht unterhaltsamen Blick in die Geschichte seines Landes. Nach „Samson und Nadjeschda“ (2022) und „Samson und das gestohlene Herz“ (2023) erschien nun im Oktober im Diogenes Verlag der Roman „Samson und das Galizische Bad“ als dritter Band der Krimireihe „Die seltsamen Fälle von Samson und Nadjeschda“.
Der junge Samson war mitten im einstigen Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1919 nach einem Überfall von berittenen Kosaken in Kiew zum Vollwaisen geworden. Sein Vater wurde erschlagen, Samson verlor durch einen Säbelhieb nur ein Ohr. Erstaunlicherweise lebt sein abgeschnittenes Ohr aber weiter und dient ihm fortan – konserviert in einer Tabakdose – als heimliches Abhörgerät, mit dessen Hilfe er sogar in räumlicher Entfernung Gespräche und Geräusche belauschen kann. Dies nutzt Samson als unerfahrener Kriminalbeamter bei der sowjetischen Polizei. Denn bedingt durch die wirren Umstände jener Zeit mit wechselnden Herrschaftsverhältnissen wurde der völlig unpolitische und gutmütige junge Mann kurzerhand nur deshalb als Milizionär und Kriminalbeamter eingestellt, da er Lesen und Schreiben konnte, besteht doch der größte Teil der Bevölkerung noch aus Analphabeten.
Bei Samsons dritten Kriminalfall, bei dessen Ermittlungen er wie immer von seinem Assistenten, dem von Gott und Kirche abgefallenen Priester Cholodny, unterstützt wird, geht es um das spurlose Verschwinden eines Soldatentrupps der Roten Armee aus dem Galizischen Bad in Kiew. Wie kann eine Gruppe nackter Männer, deren vollständige Uniformen im Badehaus zurückblieben, ungesehen verschwinden? Als Samson im dortigen Heizofen Knochenreste findet, nehmen seine Ermittlungen, in deren Verlauf er auch in den Zuständigkeitsbereich des brutalen Geheimdienstes Tscheka eingreifen muss, eine spannende Wendung.
Das Interessante und Lesenwerte an Kurkows Romanen ist die Mischung aus literarisch anspruchsvoller Unterhaltung und authentischer Schilderung des damaligen Zeitgeschehens, das der Autor scheinbar beiläufig mit der Handlung verwebt. So schildert uns Kurkow in seinem unnachahmlichen Stil nicht nur den Gang der Ermittlungen, sondern zeigt mit leichter Ironie, aber dennoch empathisch, wie Samson in revolutionärer Zeit die Tücken des Alltags und die politischen Klippen auf fast naive Art zu umgehen versteht. Dies lässt Kurkows Hauptfigur – wie auch dank stilistisch vergleichbarer Charakterisierung die anderen Protagonisten seines Romans – nicht romanhaft fiktiv, sondern in ihren Schwächen durchaus menschlich und glaubwürdig wirken.
Der rechtschaffene Samson versucht auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit durch seine Ermittlungsarbeit dort Ordnung zu schaffen, wo Ordnung derzeit kaum möglich ist: Mangel, Misstrauen, Verrat und Angst, politische Kontrolle und Korruption, das Bemühen um Anpassung und Überleben bestimmen den Alltag der Menschen – ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen. Der Wechsel unsicherer Machtverhältnisse zeigt sich ganz konkret in der gleichzeitigen Gültigkeit zaristischen Rubel, kosakischer Karbowanzen, ukrainischer Kopeken und sowjetischer Rubel. Trotz häufig wechselnder revolutionärer Machthaber steht der „bronzene Zar“ noch immer mitten auf dem Marktplatz.
Auch mit seinem dritten Kriminalroman um Samson und Nadjeschda gibt uns der ukrainische Autor Andrej Kurkow einen bildhaften Einblick in die über hundert Jahre zurückliegende Geschichte der Ukraine und ihren schon damals erbitterten, wenn letztlich auch vergeblichen Kampf um Unabhängigkeit – mit allen widrigen Auswirkungen auf das Alltagsleben nicht nur der Bewohner Kiews. Kurkow ermöglicht uns mit seinen humorvollen Krimis, deren Kriminalfälle eher zweitrangig und nur die Ergebnisse zeitlicher Gegebenheiten sind, unser Wissen über seine ukrainische Heimat nicht nur auf die aktuellen Nachrichten zu beschränken, sondern uns eingehender mit der wechselhaften Geschichte des Landes zu beschäftigen.
Diese Wissensvermittlung geschieht dank Kurkows einmaliger, oft ironischer Erzählweise so unterhaltsam, dass auch der dritte Roman „Samson und das Galizische Bad“ trotz seines überaus ernsten Hintergrunds bestens unterhält. So dürfen wir uns schon auf den nächsten Band freuen, ist doch der letzte Satz im Buch: „Ende. Aber Fortsetzung folgt.“