Was Traumata und Sprachlosigkeit mit einer Familie machen
Oskar ist auf dem Weg nach Portugal, um eine paar Tage zu entspannen. Doch den Urlaub soll er nicht mehr genießen können, denn am Flughafen Schiphol bricht er plötzlich zusammen und verstirbt noch vor ...
Oskar ist auf dem Weg nach Portugal, um eine paar Tage zu entspannen. Doch den Urlaub soll er nicht mehr genießen können, denn am Flughafen Schiphol bricht er plötzlich zusammen und verstirbt noch vor dem Abflug. Zurück lässt er drei erwachsene Kinder, Tessel, Moor und Cat, seine Ex-Frau Elise und eine Vergangenheit von der selbst seine engste Familie kaum etwas wusste, die jedoch sein Leben, wie seine Rollen als Vater und Ehemann maßgeblich beeinflusst hat.
Zum Zeitpunkt des Todes blickt der Autor in die Leben von Tessel, der Erstgeborenen, Schriftstellerin, deren letzter Erfolg viele Jahre zurückliegt, in einer unglücklichen Partnerschaft. Moor, der einzige Sohn, lebt eine Art Aussteigerleben und schlägt sich mehr schlecht als recht durch. Und Cat, das Nesthäkchen, die ein vordergründig erfolgreiches Leben mit Aufbaustudium in New York führt, deren Dasein jedoch seltsam atomisiert wirkt. Die ehemals enge Beziehung zwischen den Geschwistern ist brüchig, mit wenig Kontakt und auch zum Vater hat lediglich Tessel, mehr aus Pflichtgefühl, noch regelmäßig eine Beziehung gepflegt.
Der Tod Oskars und die Trauer bilden den Rahmen für eine tiefere Erzählung, über den Zerfall einer Familie und wie sie konfrontiert mit dem Unglück versucht Vergangenes aufzuarbeiten, diesem einen Sinn zu geben und so vielleicht wieder zueinander zu finden und damit jedes einzelne Familienmitglied auch wieder ein Stück weiter zu sich selbst zu bringen. Stück für Stück trägt der Autor einzelne Schichten der Familienhistorie ab, beschreibt aus den verschiedenen Perspektiven der Familienmitglieder die Vergangenheit und macht so die Gegenwart begreifbarer. Die Prägung Oskars durch seine eigene Vergangenheit, arbeitet der Autor dabei genauso sensibel heraus, wie Oskar die Leben seiner Kinder und Ex-Frau beeinflusst hat. Dieser Prozess spielt sich nicht nur für die Leserinnen ab, sondern ebenso für die Figuren selbst, sodass diese auch in der Gegenwart des Romans eine Entwicklung durchmachen, als Individuen, jedoch auch als Familie in der neuen Konstellation, ohne Oskar.
Das Thema Sprachlosigkeit und fehlende Kommunikation ist sehr dominant im Roman, und hat letztlich einen großen Erklärungsgehalt für Konflikte zwischen den Eltern, Geschwistern und den Generationen. Gekonnt und zurückhaltend zugleich, dabei jedoch nicht weniger eindringlich, zeigt der Autor auf, wie umfassend und tief dies in die Beziehungen hineinwirkt, und sich scheinbar potenziert, von Oskars Sprachlosigkeit in die Beziehung zu Elise, von dort auf die Kinder und ihre Beziehungen untereinander. Jedes Kind versucht auf seine Art damit umzugehen, dieser Prägung zu entfliehen. Heute kein Abschied wird so zu einer Art Chronologie eines sich verselbständigenden Traumas.
Neben der hervorragend ausgearbeiteten Studie der Familiendynamik, taucht der Autor über Oskars und Elises Lebensweg auch in die Geschichte der Niederlande ab den 1950er Jahren ein und lässt die Leserinnen an der bedrückenden Stimmung in der Nachkriegszeit und dem Aufbruch im Amsterdam der 1970er teilhaben.
Heute kein Abschied ist ein moderner Familienroman, der sensibel den Weg von Kindheitstraumata in die nächste Generation verfolgt, Trauer und Verlust thematisiert und gleichzeitig Einblicke in die jüngere niederländische Geschichte gewährt. Ganz klare Empfehlung!