Die Rekonstruktion eines Frauenlebens
Fräulein HedwigIn Fräulein Hedwig erzählt der Autor Christoph Poschenrieder die Geschichte seiner Familie, mit dem Fokus auf dem Schicksal seiner Großtante Hedwig, die in der NS Diktatur in einer Nervenheilanstalt der ...
In Fräulein Hedwig erzählt der Autor Christoph Poschenrieder die Geschichte seiner Familie, mit dem Fokus auf dem Schicksal seiner Großtante Hedwig, die in der NS Diktatur in einer Nervenheilanstalt der Euthanasie zum Opfer fiel.
Mehr als eine Biografie ist der Roman der Versuch einer Rekonstruktion. Ausgehend von wenigen alten Dokumenten und Fotos, sowie Aufzeichnungen seiner anderen Großtante und Hedwigs Schwester Marie, die sich als Chronistin der Familie begriffen hat, versucht der Autor die Familiengeschichte und insbesondere Hedwigs Weg und Lebenswelt nachzuvollziehen.
Die Geschichte war für mich inhaltlich interessant, vermittelt sie doch die Lebenswelt insbesondere der starken Frauen der Familie über zwei Generationen bis zum Zweiten Weltkrieg und zeigt dabei am Beispiel Hedwigs den Umgang mit psychischen Erkrankungen nachvollziehbar auf.
Grundsätzlich ist die Erzählung flüssig geschrieben. Inhaltlich, stilistisch und sprachlich, störten mich jedoch die persönlichen und zuweilen wenig qualifiziert wirkenden Anmerkungen des Autors, wonach beispielsweise der März ein überflüssiger Monat sei, den niemand vermissen würde oder welche Vorstellungen dieser so „lustig“ findet. Auch seine Einschätzung eines jungen Paares mit 29 bzw. 28 Jahren wäre streitbar für die Epoche, angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung um die 50 Jahre. Gerade in diesen Passagen wird der Ausdruck auch eher flapsig, was stilistisch einen für mich nicht willkommenen Bruch darstellte. Insgesamt ist das Erzählen eher weitschweifig und hatte für mich einige Längen. Dies liegt auch daran, dass trotz des Fokus auf Hedwig und zahlreicher Deutungen angesichts der Lücken im Material, für mich eine große Distanz zu den Figuren blieb, da auch die Ausdeutungen zu oft an echter Nähe mangeln. Mit einem ähnlichen Projekt beschäftigt sich auch Henning Sussebach in Anna oder was von einem Leben bleibt. Stilistisch fand ich diesen Roman bei ähnlichem Inhalt und vergleichbaren Herausforderungen angesichts großer Lücken im Material wesentlich gelungener und emphatischer.
Ich würde den Roman daher primär Fans des Autors empfehlen, die mit seinem Schreiben vertraut sind und dies schätzen. Von mit gibt es 3 Punkte für das anspruchsvolle, umfangreiche Projekt und den Versuch ein vergessenes Frauenleben zu würdigen.