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Veröffentlicht am 29.11.2025

Die Rekonstruktion eines Frauenlebens

Fräulein Hedwig
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In Fräulein Hedwig erzählt der Autor Christoph Poschenrieder die Geschichte seiner Familie, mit dem Fokus auf dem Schicksal seiner Großtante Hedwig, die in der NS Diktatur in einer Nervenheilanstalt der ...

In Fräulein Hedwig erzählt der Autor Christoph Poschenrieder die Geschichte seiner Familie, mit dem Fokus auf dem Schicksal seiner Großtante Hedwig, die in der NS Diktatur in einer Nervenheilanstalt der Euthanasie zum Opfer fiel.

Mehr als eine Biografie ist der Roman der Versuch einer Rekonstruktion. Ausgehend von wenigen alten Dokumenten und Fotos, sowie Aufzeichnungen seiner anderen Großtante und Hedwigs Schwester Marie, die sich als Chronistin der Familie begriffen hat, versucht der Autor die Familiengeschichte und insbesondere Hedwigs Weg und Lebenswelt nachzuvollziehen.

Die Geschichte war für mich inhaltlich interessant, vermittelt sie doch die Lebenswelt insbesondere der starken Frauen der Familie über zwei Generationen bis zum Zweiten Weltkrieg und zeigt dabei am Beispiel Hedwigs den Umgang mit psychischen Erkrankungen nachvollziehbar auf.

Grundsätzlich ist die Erzählung flüssig geschrieben. Inhaltlich, stilistisch und sprachlich, störten mich jedoch die persönlichen und zuweilen wenig qualifiziert wirkenden Anmerkungen des Autors, wonach beispielsweise der März ein überflüssiger Monat sei, den niemand vermissen würde oder welche Vorstellungen dieser so „lustig“ findet. Auch seine Einschätzung eines jungen Paares mit 29 bzw. 28 Jahren wäre streitbar für die Epoche, angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung um die 50 Jahre. Gerade in diesen Passagen wird der Ausdruck auch eher flapsig, was stilistisch einen für mich nicht willkommenen Bruch darstellte. Insgesamt ist das Erzählen eher weitschweifig und hatte für mich einige Längen. Dies liegt auch daran, dass trotz des Fokus auf Hedwig und zahlreicher Deutungen angesichts der Lücken im Material, für mich eine große Distanz zu den Figuren blieb, da auch die Ausdeutungen zu oft an echter Nähe mangeln. Mit einem ähnlichen Projekt beschäftigt sich auch Henning Sussebach in Anna oder was von einem Leben bleibt. Stilistisch fand ich diesen Roman bei ähnlichem Inhalt und vergleichbaren Herausforderungen angesichts großer Lücken im Material wesentlich gelungener und emphatischer.

Ich würde den Roman daher primär Fans des Autors empfehlen, die mit seinem Schreiben vertraut sind und dies schätzen. Von mit gibt es 3 Punkte für das anspruchsvolle, umfangreiche Projekt und den Versuch ein vergessenes Frauenleben zu würdigen.

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Veröffentlicht am 29.11.2025

Fabeln und Erzählungen aus Vorarlberg und der Steiermark

Ehrenwerte Affen
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In ehrenwerte Affen nimmt uns der österreichische Autor Michael Köhlmeier mit auf eine Reise durch alte Sagen und Fabeln. Das Verhältnis von Tier und Mensch spielt dabei ebenso eine Rolle wie das Zusammenleben ...

In ehrenwerte Affen nimmt uns der österreichische Autor Michael Köhlmeier mit auf eine Reise durch alte Sagen und Fabeln. Das Verhältnis von Tier und Mensch spielt dabei ebenso eine Rolle wie das Zusammenleben aller in einer Gesellschaft. Alle, das sind auch Dinge, wie ein alter Löffel, der bei Köhlmeier zum Leben erwecken und freundlich grüßen kann. So vermittelt jede der kurzen 17 Geschichten, bei aller Verschiedenheit, Respekt vor unserer Umwelt. Besonders bewegt haben mich die Geschichten, in denen die Natur und der Wald im Mittelpunkt stehen. Hier spielt aus meiner Sicht der Autor seine Erzählkraft wundervoll aus.

Der Schwerpunkt liegt regional in Österreich, oft in Vorarlberg oder der Steiermark. Ich vermute, dass wenn man besser mit der Region vertraut ist, man noch viel mehr aus den Geschichten mitnehmen kann. Einige Geschichte rekurrieren auch auf christliche Inhalte. Hier fehlte mir leider der Zugang.

Die Geschichten haben mir unterschiedlich gut gefallen, einige habe ich auch nicht verstanden und doch hat jede für sich zur Reflexion über die eigenen Werte und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft angeregt.

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Veröffentlicht am 18.11.2025

Politiker brauchen ein dickes Fell, Politikerinnen brauchen einen Panzer

Die Frau der Stunde
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Es ist das Jahr 1978 in einer alternativen, fiktiven Vergangenheit. Eine sozial-liberale Koalition ist an der Macht und versprüht Fortschrittsenthusiasmus. Als der liberale Außenmister und Vizekanzler ...

Es ist das Jahr 1978 in einer alternativen, fiktiven Vergangenheit. Eine sozial-liberale Koalition ist an der Macht und versprüht Fortschrittsenthusiasmus. Als der liberale Außenmister und Vizekanzler über eine Affäre mit einer jüngeren Frau stolpert, die er zudem noch in seinem Büro auf Steuerkosten angestellt hat, wird überraschend die junge, versierte, liberale Außenpolitikerin Catharina Cornelius seine Nachfolgerin. Und so begleitet der Roman in informativer, wie amüsanter bis erschreckender Weise, was es für eine Frau bedeutet hätte im Milieu der späten 1970er in eine der herausragendsten politischen Führungspositionen des Landes zu kommen.

Konflikte und Machtkämpfe begleiten Catharina Cornelius nicht nur zwischen den konkurrierenden Parteien sondern nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen. Überall sieht sie sich einer Dominanz von Männern und einer frauenfeindlichen bis offen ablehnenden Kultur ausgesetzt. Einige Szenen, wie etwa sexistische und beleidigende Zwischenrufe im Bundestag bei einer Rede der Außenministerin, scheinen fast unwirklich, und doch war ein solcher Umgang mit Frauen lange keine Seltenheit oder Ausnahme, wenn man alte Aufnahmen von Bundestagsdebatten aus dieser Zeit betrachtet. Die im Roman fiktionalisierten Schilderungen haben in ihrer Grundrichtung daher durchaus reale Vorbilder und spiegeln die Lebenswelt weiblicher Politikerinnen authentisch wider.

Realistisch ist vermutlich auch der soziale Hintergrund der Protagonistin. Als Tochter aus einem privilegierten Elternhaus mit besten Bildungsmöglichkeiten wird deutlich, wie sehr der unwahrscheinliche Erfolg als Frau in dieser Position, erst ermöglicht wird durch die relative Privilegierung auf sozioökonomischer Ebene.

Über einen klug arrangierten Plot gelingt es der Autorin über Cornelius hinaus die Situation von ambitionierten Frauen aus verschiedenen Generationen und Ländern zu beleuchten. Catharinas Freundin Azadeh ist Iranerin und über ihren Erzählstrang wird die Revolution im Iran beleuchtet. Die Dritte im Freundinnentrio seit Schweizer Internatstagen ist Suzanne, erfolgreiche Journalistin aus Belgien. Im politischen Betrieb wird deutlich wie wichtig weibliche Solidarität und Unterstützung ist, sei es für Catharina selbst durch ihre mütterliche Freundin, Mentorin und Parteikollegin, als auch parteiübergreifend unter den wenigen Frauen, die sich unabhängig vom Parteibuch mit einer sexistischen Machokultur herumschlagen müssen.

Beim Lesen fragt man sich allzu oft fassungslos, wie so mit Frauen umgegangen werden kann und denkt dabei schmerzhaft daran, wie wenig sich letztlich trotzdem geändert hat, wenn man im Heute den Umgang gerade mit weiblichen Politikerinnen betrachtet. So ist die Frau der Stunde nicht nur ein unterhaltsames und informatives Buch, sondern zeigt auch die Notwendigkeit und Kraft weiblicher Solidarität eindringlich auf!

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Veröffentlicht am 09.11.2025

Kein Land ohne Blut

Adama
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Adama wird als Thriller beworben und ist doch so viel mehr. Die Spannungsmomente und zeitweise Brutalität machen den Roman durchaus zu einem Pageturner, sobald man in der Geschichte angekommen ist. Viel ...

Adama wird als Thriller beworben und ist doch so viel mehr. Die Spannungsmomente und zeitweise Brutalität machen den Roman durchaus zu einem Pageturner, sobald man in der Geschichte angekommen ist. Viel eindrücklicher ist jedoch, wie der Autor mit Adama die Geschichte Israels von seinen Anfängen mit den ersten Siedlern, über die gewaltsamen Auseinandersetzungen des Nahost-Konflikts bis hin zur Gegenwart erzählt. Dieser komplexen Geschichte gibt Tidhar mit seinen Figuren ein Gesicht und hilft so ihre Hintergründe in all ihrer Komplexität ein bisschen besser zu verstehen.

Als Hannas Mutter Esther im Jahr 2009 stirbt, stellt die junge Frau fest, wie wenig sie über das Leben ihrer Mutter weiß. Laut ihren Informationen gibt es keine Familie mehr. Ein alter Aschenbecher aus Palästina, ein nicht zuzuordnendes Lied aus Kindertagen, und ein altes Foto in einer großen Runde lassen Hanna leise ahnen, dass ihre Mutter mehr verborgen hat, als sie sich vorstellen kann.

Ausgehend von Esthers Tod blickt der Autor weit in die Vergangenheit und rekonstruiert so Esthers Leben aus der Perspektive ihrer Weggefährten und Vorfahrinnen und damit nicht weniger als die Geschichte Israels. Am Beginn dieser Erzählung steht die junge ungarische Jüdin Ruth, die noch vor der Einnahme Ungarns durch die Nazis Ungarn verlassen hat, um in Palästina ein Kibbuz aufzubauen und aktiv an der Gründung des Staates Israel mitzuwirken. Von den ersten Zelten auf unwirtlichen Böden, die britische Besatzung, zahlreiche Kriege bis hin zu den frühen 90er Jahren erzählt der Roman eine Geschichte von Schuld und Verantwortung, Familie und Heimat sowie letztlich der Gewalt, die in unvorstellbarem Ausmaß ihren Ausgang im Holocaust nahm.

Eindrücklich war für mich auch die detaillierte Beschreibung des Lebens, der Organisation, Regeln und Normen in einem Kibbuz. In der Zeitspanne über mehrere Jahrzehnte und drei Generationen arbeitet der Autor heraus, wie der Kibbuz sich entwickelt und wie unterschiedlich seine Bewohnerinnen und Bewohner die Lebensform wahrnehmen, sie schätzen und zuweilen mit ihr hadern.

Das Ende war für mich nicht ganz befriedigend und zu abrupt, hier hätte ich mir den Strang in der Gegenwart noch weiter ausformuliert gewünscht.

Insgesamt ist Adama ein spannender, mitnehmender und geschichtlich informativer Roman, den ich nur schwer aus der Hand legen konnte!

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Veröffentlicht am 09.11.2025

Über den Sinn des Lebens und das Sammeln von Momenten, die es ausmachen

Jetzt gerade ist alles gut
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Es sollte der Start in einen wohlverdienten und freudig erwarteten Familienurlaub werden, als der Ich-Erzähler plötzlich bereits beim Packen des Autos ein Unwohlsein verspürt. Auch kurzes Ausruhen bringt ...

Es sollte der Start in einen wohlverdienten und freudig erwarteten Familienurlaub werden, als der Ich-Erzähler plötzlich bereits beim Packen des Autos ein Unwohlsein verspürt. Auch kurzes Ausruhen bringt keine Linderung, im Gegenteil, die Beschwerden verschlimmern sich und nach anfänglichem Zweifel ist die Ursache identifiziert: eine vermeintlich banale Schnittwunde am Finger, die sich nun rasend schnell entzündet. Der rasche Gang in die Notaufnahme und die anschließende Operation retten dem Ich- Erzähler knapp das Leben. Doch sein Leben ist nach diesem Ereignis, der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, deren Bewusstwerdung, ein anderes. Vielleicht sogar ein besseres?

Ausgehend von diesem Erlebnis begleitet der Roman den Ich-Erzähler dabei, wie er sein Leben neu entdeckt und alte Verhaltensweisen in Frage stellt. Was er dabei findet, sind nicht etwa materielle Güter oder Ehrgeiz, es sind die vermeintlich kleinen Dinge, manchmal nur Momente, die der Erzähler sich von nun an vornimmt zu sammeln.

Und so entdeckt er das Glück im Alltag - ein Kakao, eine Begegnung, gemeinsames Lachen, eine scheinbar schlichte Notiz eines Familienmitglieds… In all diesen Dingen findet der Ich-Erzähler Glück und Zufriedenheit und lernt sie neu zu schätzen.

Nichts von diesen Erkenntnissen ist neu, und auch wenn die Erzählung zum Ende hin etwas an Alltagsweisheiten zur Entschleunigung und Besinnung auf das Wesentliche erinnert, packt Stefan Schäfer diese doch in einer schnörkellosen, eingängigen Sprache in eine herzwerwärmende, klug erzählte Geschichte.

Jetzt gerade ist alles gut, ist ein Buch, das sich wie Balsam auf der Seele anfühlt, den Blick für die kleinen Wunder des Alltags und des Lebens schärft und einlädt sich ganz bewusst auf diese einzulassen.

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