Tiefgründigkeit versteckt hinter Langatmigkeit
Die Bewertung dieses Buches fällt mir sehr schwer und ich denke seit Wochen darüber nach. Insgesamt habe ich mich dazu entschieden, dem Buch 3 Sterne zu geben, doch das ist eine Durchschnittswertung, die ...
Die Bewertung dieses Buches fällt mir sehr schwer und ich denke seit Wochen darüber nach. Insgesamt habe ich mich dazu entschieden, dem Buch 3 Sterne zu geben, doch das ist eine Durchschnittswertung, die diesem Buch insgesamt auch kaum gerecht wird.
Bevor ich näher auf den Inhalt eingehe, erkläre ich deshalb, wie ich diese 3 Sterne ergeben. Es sind der Durchschnitt aus:
1 Stern für das unglaublich langweilige Leseerlebnis, das ich bei diesem Buch über weite Strecken hatte. Da werden ewig lang im ersten Teil ein viktorianisch anmutendes Abendessen mit unzähligen Charakteren und über das ganze Buch verteilt diverse Sexeskapaden einer Protagonistin, die zur weiteren Handlung nach meiner Ansicht nur wenig beitragen, geschildert. Ich lese viel und habe mich schon lange nicht mehr dermaßen durch ein Buch gequält und gelangweilt. Ohne begleitende Leserunde hätte ich die Lektüre sicherlich abgebrochen.
Allerdings bin ich schon auch froh, sie nicht abgebrochen zu haben, denn ich vergebe außerdem:
5 Sterne für die Tiefgründigkeit, die in diesem Buch versteckt ist. An der Oberfläche ist oben beschriebene Langatmigkeit, die zu diesem in weiten Teilen mühsamen Leseerlebnis führen kann, das ich beschrieben habe. Doch dahinter gibt es so viel mehr an versteckten Ebenen und Botschaften, die clever konstruiert sind, auch nach Wochen noch zum tiefgehenderen Nachdenken anregen und wegen denen man das Buch durchaus noch öfter lesen könnte, um noch mehr davon zu entdecken (wenn es denn nicht an der Oberfläche so langweilig wäre - ihr merkt meine Ambivalenz):
Da ist zum einen das Titelthema "Was wir wissen können". Wir befinden uns in der ersten Erzählebene des Buches im Jahr 2119 in einer dystopischen Zukunft, die durch viele kleine Details liebevoll beschrieben wird: der Klimawandel ist weit fortgeschritten, zusätzlich gab es im 21. Jahrhundert noch einige schreckliche Kriege, sodass es nur mehr etwa halb so viele Menschen gibt wie jetzt. Kontinentaleuropa ist von Russland besetzt, die USA sind keine Demokratie mehr, Großbritannien ist noch einigermaßen frei, aber überflutet. Die gute Botschaft: Universitäten und Wissenschaftler gibt es nach wie vor, auch in den Geisteswissenschaften, auch wenn diese weniger Ansehen genießen als die Naturwissenschaften und deren Wissenschaftler etwa nur jeden zweiten Tag die KI nützen dürfen, und sich auch mit eher untalentierten und unambitionierten Studierenden rumplagen müssen.
Vor diesem Hintergrund sucht der Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe gemeinsam mit seiner Frau Rose nach einem verschollenen Gedicht, dem "Sonettenkranz für Vivien", das der berühmte Dichter Francis Blundy, der zu unserer jetzigen Zeit lebte und wirkte, für seine geliebte Frau Vivien verfasst und bei einem legendären Abendessen vorgetragen haben soll. Leider ist dieses Gedicht verschollen, es finden sich nur Referenzen darauf. Dabei könnte es uns vielleicht beim Verständnis der damaligen Zeit und bei dem, was man vielleicht damals schon hätte ahnen oder wissen können (über den Klimawandel? Über die Zukunft?) helfen? Und was können wir überhaupt über die Vergangenheit wissen, anhand der bruchstückhaften Quellen, die wir finden und interpretieren können? Was war wirklich und was scheint nur so und war möglicherweise ganz anders? Und welchen Quellen und Erzählerinnen und Erzählern können wir überhaupt wie sehr vertrauen?
Das ist, neben der interessanten dystopischen Zukunft, ein wiederum sehr spannendes Hintergrundthema, das sich nach und nach immer stärker zeigt, je weiter man mit der Lektüre dieses Buches kommt, die langatmigen Schilderungen des Abendessens durchsteht, und sich auf das Buch einlässt. Das letzte Drittel des Buches ist dann auch noch einmal aus einer völlig anderen Perspektive geschildert, die noch einmal ein neues Licht auf die Vergangenheit wirft und damit sehr zum Nachdenken anregt.
Insgesamt ist es ein tiefgründiges und interessantes Buch, das aber den Leserinnen und Lesern aufgrund der Langatmigkeit einiges abverlangt. Dennoch kann ich genau diese dem Autor nicht zum Vorwurf machen, denn vielleicht wollte er uns dabei spiegeln, wie es Geisteswissenschaftlern und Geisteswissenschaftlerinnen gehen kann, die sich durch einen Haufen scheinbar banales und uninteressant wirkendes Quellenmaterial wühlen müssen, um dann hoffentlich ein paar Erkenntnisperlen zu finden.