Hatte deutlich mehr erwartet
Ich war sehr gespannt auf „Shanghai Story“, insbesondere, da Juli Min die Geschichte rückwärts erzählt, ähnlich wie Iris Wolff in „Lichtungen“.
Leider scheitert Juli Min meiner Meinung an der Umsetzung ...
Ich war sehr gespannt auf „Shanghai Story“, insbesondere, da Juli Min die Geschichte rückwärts erzählt, ähnlich wie Iris Wolff in „Lichtungen“.
Leider scheitert Juli Min meiner Meinung an der Umsetzung dieser literarisch anspruchsvollen Erzählform. Ich hatte erwartet, dass die Ereignisse in der Zukunft im Laufe des Buches einen tieferen Sinn ergeben, sich durch Geschehnisse aus der Vergangenheit erklären und in irgendeiner Form eine innere logische Erzählstruktur und ein roter Faden erkennbar sind. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Geschichte besteht vielmehr aus zusammenhanglosen einzelnen Episoden. Sämtliche Personen außerhalb der Kernfamilie spielen lediglich auf jeweils einer einzigen Zeitebene eine Rolle, und auch bei den Familienmitgliedern ist kein echter Zusammenhang zwischen den einzelnen Zeitstufen erkennbar.
Der Roman beginnt im Jahr 2040 und ist erstaunlich nah an der jetzigen Realität. Abgesehen von selbstfahrenden Autos lässt sich kein Unterschied zu heute erkennen. Da hätte ich doch etwas mehr erwartet. Sprachlich klingt der Roman zuweilen etwas holprig und weist einige Ungereimtheiten auf. Inwieweit dies der Übersetzung geschuldet ist, lässt sich nicht sagen.
Die Charaktere blieben mir während des gesamten Buches fremd. Besonders ärgerlich fand ich, dass sich sämtliche weibliche Personen vor allem über ihr Äußeres definieren. Alle drei Schwestern wirken ziemlich unsympathisch und verwöhnt, am ehesten konnte ich mich noch in die mathematikbegeisterte Yoko hineinversetzen. Leider wird bei Yoko völlig unnötig das Klischee einer latent autistischen Veranlagung bedient - als ob jede Mathematikbegabung automatisch mit Neurodiversität einherginge.
Die einzige Passage, die mich emotional berühren konnte, betrifft das Kindermädchen der Familie im Jahr 2020. Warum die Autorin die Nanny nicht auch auf weiteren Zeitstufen eingearbeitet hat, erschließt sich mir nicht. Da sie sehr nah an der Familie dran ist, aber dennoch einen Blick von außen einnimmt, wäre das eine sehr interessante Perspektive gewesen.
Ich hatte mir deutlich mehr von diesem Roman erwartet, insbesondere ein schlüssiges Gesamtkonzept innerhalb der rückwärts erzählten Geschichte. Insgesamt bin ich leider enttäuscht.