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Veröffentlicht am 27.06.2017

Der Rechtsprecher und andere Psychopathen

Du sollst nicht leben (Ein Marina-Esposito-Thriller 6)
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Ein Mann erwacht, gefesselt und gefangen. Ihm gegenüber sitzen seine Frau und sein neugeborenes Kind. Ein maskierter Mann stellt ihn vor die Wahl: dein Leben oder das deiner Familie als Gerechtigkeit für ...

Ein Mann erwacht, gefesselt und gefangen. Ihm gegenüber sitzen seine Frau und sein neugeborenes Kind. Ein maskierter Mann stellt ihn vor die Wahl: dein Leben oder das deiner Familie als Gerechtigkeit für das Töten einer anderen Frau und Kind durch Fahren unter Drogeneinfluss. Der Mann entscheidet sich für sein Leben, Frau und Kind sterben. Durch diesen Fall kommt Inspector Phil Brennan mit einem Psychopathen in Kontakt, der sich der "Rechtsprecher" nennt. Er behauptet, nur Gerechtigkeit ausüben zu wollen und mordet weiter. Zur gleichen Zeit ist die Psychologin Marina in der Psychatrie, um eine Patientin zu begutachten, die möglicherweise noch gefährlicher ist als der Rechtsprecher.

Den Anfang fand ich zwar nicht sehr originell, aber gut gemacht, wirft er doch auch Fragen nach mehr als reiner Moral auf. Doch dann ging das Buch den Bach runter. Man bekam immer mehr das Gefühl, dass Carver keine Ahnung hatte, was eigentlich passieren sollte, viel zu sehr zusammengestückelt erschienen die Handlungsstränge, viel zu sehr konstruiert alles, um es irgendwie zusammenführen zu können. Da ist dieser Rechtsprecher, der mal eben einen ganzen Polizeiapparat austrickst, nebenbei hat er von einem Hacker gelernt, sich auf Bankkonten eines mächtigen Bankers zu hacken. Völlig sinnlos die Szenen mit den Straßengangs und der ehemaligen Gangsterbraut, nur Lückenfüller für gar nichts. Die Psychopathin schafft es, einen Mann anzugreifen, während sie hinten im Fond sitzt. mit auf dem Rücken gefesselten Händen und sich wie ein Vampir in dessen Halsschlagader zu verbeißen. Dieser Mann macht nicht das, was jeder vernünftige Mensch in so einer Situation tun würde, nämlich einfach mal seinen Ellenbogen rückwärts zu dreschen und der Angreiferin das Gesicht zu zerschmettern, nein, er erwägt, ob er erst mal an den Straßenrand fahren soll. Ich kenne die Vorgänger dieses Buches nicht, aber Spaß am Schreiben, finde ich, sieht anders aus. Ich hatte das Gefühl, dass der Verleger gesagt hat: Los, schreib doch noch ein Buch, das läuft so gut. Und Carver meinte: Ach, nee, echt nicht. Und der Verleger wedelte mit Geldscheinen. Und Carver stampfte trotzig mit den Füßen auf und sagte: Ok, aber nur weil du mich zwingst - mit Geld. Dafür bringe ich mal ein paar Leute um, die vielleicht gemocht werden, so! Verleger: shrug
Und ehrlich, mehr bleibt mir auch nicht, außer mit den Schultern zu zucken.

Veröffentlicht am 25.06.2017

Lasst die Welt herein

Was man von hier aus sehen kann
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Ich will, dass dieses Buch einen Preis erhält. Mir egal, welchen. Deutscher Buchpreis, Nobelpreis, irgendwas. Denn, liebe Leute und Leutinnen, das ist mal ein Buch, das einen Preis verdient. Das ist ein ...

Ich will, dass dieses Buch einen Preis erhält. Mir egal, welchen. Deutscher Buchpreis, Nobelpreis, irgendwas. Denn, liebe Leute und Leutinnen, das ist mal ein Buch, das einen Preis verdient. Das ist ein Buch, das eine Geschichte erzählt, die zusammengefasst so banal klingt, wie es sich für ein buchpreisgeehrtes Buch gehört, aber es überhaupt nicht ist. Das ist ein Buch, das eine Sprache besitzt, die mitnimmt, berührt, von den alltäglichsten Dingen plaudert, und doch keineswegs alltäglich ist. Das ist eine Geschichte, die keine Werbung für die Raucherindustrie macht, die nicht political correct von Flüchtlingen spricht, und doch das Leben hereinlässt, vielleicht sogar die Welt. Ich kann dieses Buch nicht genügend in einer Rezension würdigen, aber ich kann es wenigstens versuchen.

Selma ist eine alte Frau aus dem Westerwald. Ausgerechnet sie, die niemals herausgekommen ist aus ihrem winzigen Ort, träumt von einem Okapi. Und zwar immer kurz bevor jemand stirbt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Niemand weiß, wen es treffen wird, doch alle drehen am Rad. Und manchmal sterben auch Leute, die es nicht verdient haben. Martin zum Beispiel, der zehnjährige Freund der gleichaltrigen Luisa, welche die Enkelin von Selma ist. Und Luisa übernimmt für uns auch den Part der Erzählerin, in der Ich-Form, was nichts daran ändert, dass auch andere zu Wort kommen. Selma sowieso, der Optiker, der im ganzen Buch nur einmal bei seinem Namen genannt wird, und der seit mehr als vier Jahrzehnten in Selma verliebt ist. Luises Vater, Elsbeth, Selmas Schwägerin, Marlies, die niemanden an sich heran- und niemanden zu sich hereinlassen will, nicht einmal die Welt. Dann ist da noch Felix, der eigentlich in einem Kloster in Japan lebt und trotzdem Luise näher kommt als jeder andere.

Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Man taucht in diesen Mikrokosmos ein, ist sofort dabei und gehört dazu, zur Welt, zum Dorf, zur Familie. Ich habe geschmunzelt, die Stirn gerunzelt, die Augenbrauen hochgezogen, mitgelitten. Mann, habe ich teilweise mitgelitten, logisch, das tut man, wenn in der Familie was passiert. Und dann diese Sprache. Diese außergewöhnliche, unglaubliche Sprache, die sich an keine Vorschriften oder Konventionen hält, die Regeln bricht, bewusst, obwohl sie bekannt sind, und gerade dadurch eine Enge, einen Bezug zum Erzählten schafft, den ich so noch nie vorher erlebt habe. Dieses Buch gehört eigentlich überhaupt so gar nicht zu dem, was ich üblicherweise lese, und vielleicht hat es mich gerade deshalb so aus den Socken gehauen. Lest es. Verdammt noch mal, lest es, wenn ihr jemals ein Buch mit literarischem Anspruch lesen wollt.

Veröffentlicht am 22.06.2017

Jekylls Hyde schlägt zurück

Oscar Wilde & Mycroft Holmes - Folge 09
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In einer heruntergekommenen Spelunke irgendwo in Frankreich läuft ein Mann Amok, der wie ein Monster aussieht. Nur wenig später kommt es in der Pariser Botschaft von Österreich-Ungarn zu einem grauenhaften ...

In einer heruntergekommenen Spelunke irgendwo in Frankreich läuft ein Mann Amok, der wie ein Monster aussieht. Nur wenig später kommt es in der Pariser Botschaft von Österreich-Ungarn zu einem grauenhaften Zwischenfall - der britische Kulturattaché verwandelt sich vor den Augen vieler hochrangiger Zeugen in eine Bestie, die Tod und Zerstörung hinterlässt. Ein Fall für Wilde & Holmes, denn die Franzosen stehen kurz davor, dem Empire den Krieg zu erklären. Es stellt sich heraus, dass es jemand geschafft hat, sich des Serums eines gewissen Dr. Jekylls zu bemächtigen und dessen Wirkung zu verstärken. Dieses Mal ist Oscar Wilde mit Violet unterwegs, um zuerst in den Armenvierteln Paris' und dann auf dem Eifelturm für das Überleben der Menschheit zu kämpfen.

Ach, diese Ideen. Sie sind eigentlich echt toll. Doch wie schon seit den letzten Folgen schafft es der Autor hier nicht, wieder an die tolle Geschichtserzählung der ersten zwei Folgen anzuknüpfen. Stattdessen verliert er sich in Geplänkel, das wohl lustig sein soll, aber eigentlich nur albern und vor allem unlogisch ist. (Ein Bordellbesitzer kuscht vor einer Frau, die behauptet, von der Polizei zu sein und mächtige Freunde zu haben? Ja, nee, glaub ich sofort.) Von Anfang an kommt keine Logik in diesen Teil, das fängt schon damit an, dass der Antagonist einen Beweis fordert und bekommt - warum wurde er an dieser Stelle nicht schon zerfetzt und ermordet, wie es zu erwarten wäre? Klar, weil die Geschichte dann zu Ende wäre, aber trotzdem. Der Showdown war so lahm, dass es sich wie ein Slow down anfühlte. Mittlerweile fragt man sich, warum der Zirkel sich immer solche Mühe gibt, wenn man mit ein paar gezielten Terroranschlägen viel bessere Ergebnisse bekäme? Wie üblich hoffe ich, dass es in der nächsten Folge einen Anstieg der Qualität gibt, denn das haben die tollen Sprecher nicht verdient. Na ja. Die Hoffnung stirbt zuletzt ... aber sie stirbt.

Veröffentlicht am 22.06.2017

Selbst Monster fürchten sich im Dunkeln

Verdorbenes Blut
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Shawn Castillo war einmal ein Elitesoldat, Special Forces, Super Soldier. Dann geriet er in Afghanistan in die Hände der Taliban, wurde gefoltert und erst im letzten Moment befreit. Seitdem er zurückgekehrt ...

Shawn Castillo war einmal ein Elitesoldat, Special Forces, Super Soldier. Dann geriet er in Afghanistan in die Hände der Taliban, wurde gefoltert und erst im letzten Moment befreit. Seitdem er zurückgekehrt ist in die Heimat nimmt er Securityjobs an, bis sein ehemaliger Vorgesetzter ihm einen Auftrag gibt, der das pure Grauen verspricht. Aus einer geheimen Forschungseinrichtung sind sechs Jungen geflohen und haben vorher einige Mitarbeiter des Instituts ermordet. Auch auf ihrem Weg quer durch die Staaten morden sie weiter, und Castillo erfährt bald, warum: Sie sind die Klone der schlimmsten Serienmörder aller Zeiten - Ted Bundy, Ed Grein, Jeff Dahmer ...

Harter Tobak, ganz ehrlich. Ich mag keine heldenhaften Amisoldaten als Helden einer Story, doch zum Glück hatte Girard nicht vor, diese Spezies in den Himmel zu loben. Im Gegenteil, seine Kritik an der amerikanischen Außenpolitik, an ihrer Kriegstreiberei, an ihren Lügen und der Manipulation der Massen war deutlich zu erkennen. Auch an den geheimen Forschungseinrichtungen und den Milliarden an Steuergeldern, die für mögliche Kriegseinsätze vergeben werden, lässt er kein gutes Haar. Ob es möglich ist, Serienkiller zu klonen, weiß ich nicht, für mich klangen die wissenschaftlichen Erklärungen wissenschaftlich fundiert genug. Zwischendurch waren mir Castillo, Kristin und Ox ein wenig zu menschlich und heldenhaft für das, was sie eigentlich darstellten, aber dafür war die Story spannend und hat im Gegensatz zu vielen anderen Thrillern den Vorteil, dass man auch später noch gern darüber nachdenkt, denn irgendwann weiß man nicht mehr genau, wer die eigentlichen Monster sind: Die Klone, die aus Lust und Freude morden oder diejenigen, die sie geschaffen haben?

Veröffentlicht am 20.06.2017

Verrohung der Natur

Der natürliche Lauf der Dinge
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Das ist ein krasses Buch, das ich wirklich nicht jedem empfehlen kann. Wer noch immer davon träumt, Prinzessin zu sein und von dem Prinzen auf dem weißen Pferd entdeckt zu werden, sollte die Finger davon ...

Das ist ein krasses Buch, das ich wirklich nicht jedem empfehlen kann. Wer noch immer davon träumt, Prinzessin zu sein und von dem Prinzen auf dem weißen Pferd entdeckt zu werden, sollte die Finger davon lassen. Hier gibt es Realismus in seiner brutalsten Form.

Yolanda und Verla sind zwei junge Frauen, die plötzlich drogenbenehmelt in einem Camp in der australischen Wüste erwachen und dort auf acht weitere Frauen treffen, die alle entführt worden sind und sich hier wiederfanden. Das Camp mit einem KZ zu vergleichen ist nicht zu hoch gegriffen: Den Frauen werden die Köpfe geschoren, sie müssen in glühender Hitze aneinandergekettet marschieren, eine Straße bauen und ständig damit rechnen, von den beiden brutalen Wärtern mit einem Knüppel verprügelt zu werden. Sie werden gedemütigt, es wird versucht, ihnen ihre Identität zu nehmen. Sexuelle Übergriffe bleiben nicht aus. Und dann fällt eines Tages der Strom aus - nur der elektrische Zaun ringsum des Camps nicht, da an einen anderen Stromkreis angeschlossen. Plötzlich stehen sie vor dem Verhungern, denn es gibt auch keine Möglichkeit, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, nicht einmal für die Wärter ...

Eigentlich ist dieses Buch nur durch seine relativ distanzierte Schreibweise zu ertragen, wobei es distanziert auch nicht wirklich trifft, vielleicht sachlich? Die meiste Zeit erfahren wir die Ereignisse aus der Sicht von Verla und Yolanda - wobei dabei auch zwischen Präsens und erzählendem Präteritum gewechselt wird, was das Ganze intensiver macht. Nach und nach sind es nicht nur die brutalen Wärter, die verrohen, sondern auch die Frauen, Schritt für Schritt, Tag für Tag nähern sie sich wilden Tieren an, nur noch auf das reine Überleben bedacht. Gleichzeitig gibt es verschiedene Cope-Mechanismen, um mit der unerträglichen Situation fertig zu werden, und manche geben einfach auf und bringen sich um. Wenn ich etwas an dem Buch zu bemängeln habe, dann dass die Frauen bis zum Schluss nicht versuchten, ihre einzigen beiden Wärter zu überwältigen - ist das realistisch? Zehn Frauen, gequält bis aufs Blut, und die Wärter, die oft genug auch allein bei ihnen sind? Auch dass keine wenigstens versucht hatte, sich unter dem Zaun durchzugraben, fand ich seltsam. Trotzdem ist das ein Buch, das man sacken lassen muss, das sich immer wieder in die Gedanken schleicht, vor allem, weil es auch ein ziemlich offenes Ende gibt, das zwei Fragen aufwirft: Warum wurde mit den Frauen getan, was getan wurde und was könnte noch schlimmer sein als das, wie es am Ende angedeutet wurde?