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Veröffentlicht am 01.11.2023

Über das Miteinander der Generationen

Vielleicht der schönste Sommer
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REZENSION – Vor zwei Jahren wurde der Debütroman „Sista sommaren“ von Eleonore Holmgren in Schweden zum Bestseller. Jetzt erschien bei der dtv Verlagsgesellschaft die ins Deutsche übersetzte Geschichte ...

REZENSION – Vor zwei Jahren wurde der Debütroman „Sista sommaren“ von Eleonore Holmgren in Schweden zum Bestseller. Jetzt erschien bei der dtv Verlagsgesellschaft die ins Deutsche übersetzte Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einer 86-Jährigen Witwe und einem 20-jährigen Kleinkriminellen unter dem Titel „Vielleicht der schönste Sommer“. Tatsächlich wird dieser Sommer auf der schwedischen Schären-Insel Lindö für beide aus unterschiedlichen Gründen zu einem Höhepunkt im Leben.
Der 20-jährige Adam wurde wegen seines Umgangs mit Kriminellen von seiner Mutter aus der Wohnung geworfen. Auch Freundin Sara und Kumpel Abbe wollen ihn, der ziellos und verantwortungslos durchs Leben stolpert, nicht aufnehmen. So streunt Adam über die Insel Lindö, steigt in kalter Frühlingsnacht in ein scheinbar leerstehendes Haus ein – und steht am nächsten Morgen unerwartet der Hauseigentümerin, der 86-jährigen Britta, gegenüber. Die wiederum hatte sich in den Kopf gesetzt, noch einmal einen Sommer in ihrem geliebten Landhaus verleben zu wollen, obwohl Tochter Susanne ihr dies nach dem letzten Sturz mit Knochenbruch ausdrücklich verboten hatte. Nach kurzem Kreuzverhör lässt Britta den jungen Mann bei sich wohnen. Allerdings muss er ordentlich anpacken, ihr im Haushalt helfen sowie Haus und Garten aufräumen: „Das war ein Gewinn, für sie beide. So hatte er Zeit, sich Gedanken zu machen, und konnte ihr bei einigen anstrengenden Sachen helfen, die im Haus erledigt werden mussten.“
Das Buch „Vielleicht der schönste Sommer“ ist nicht nur ein gut geschriebener Unterhaltungsroman, der dank seiner sommerlichen Atmosphäre uns Lesern in dunklen und kalten Wintermonaten „sonnige Lesemomente“ beschert, wie das Cover vorzugeben scheint. Hinter der herzerwärmenden Geschichte um die alte Britta und den jungen Adam verbirgt sich eigentlich eine tragische Erzählung um das heute oft schwierige Miteinander der Generationen.
Es geht einerseits um die Selbstverantwortung der Senioren und deren selbstständiges Leben, andererseits um die unbewusste, meist ungewollte Bevormundung durch deren berufstätige Kinder, die ihr schlechtes Gewissen durch übermäßige Absicherung des alleinlebenden Elternteils beruhigen wollen. So will Tochter Susanna eigentlich nichts Ungewöhnliches, sondern in der Stadtwohnung ihrer Mutter nur einen Notruf installieren und den Pflegedienst organisieren: „Aber Mama weigert sich, überwacht zu werden, wie sie sagt. Sie findet, dass ich mich einmische und sie wie ein Kind behandle. … Aber ich möchte mir einfach nicht länger Sorgen machen müssen. Nicht jedes Mal aufspringen müssen, wenn das Telefon läutet. Oder unruhig werden, wenn es nicht läutet.“ Auch als Adam nach einigen Tagen in Brittas Haus feststellt, dass die 86-Jährige sich nur von Fertigkost ernährt, und sie deshalb über die Bedeutung guten Essens für Senioren aufklärt, wird sie zornig: „Durfte man denn gar nichts mehr selbst bestimmen, wenn man alt wurde? Der eine meckerte wegen des Essens, die andere wollte bestimmen, wo sie wohnen sollte.“ Doch bald genießt sie gern Adams Kochkünste.
Das gut organisierte Zusammenleben der 86-Jährigen mit dem erst 20-Jährigen ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen: Britta profitiert von Adams handwerklichem Geschick und seiner jugendlichen Kraft, während sie dem jungen Mann durch Übertragung von Aufgaben und Pflichten den richtigen Weg ins Erwachsenenleben zeigt und ihm die Übernahme von Verantwortung beibringt: „Als wir uns kennenlernten, warst du egoistisch und respektlos. Du hast keine Verantwortung übernommen, sondern die Schuld lieber bei anderen gesucht. … Du bist deutlich reifer geworden, Adam.“
Holmgrens Debütroman ist nicht nur ein angenehmer Unterhaltungsroman für dunkle Winterabende, sondern kann zugleich als freundschaftlicher Ratgeber gelesen werden, der uns hilft, noch einmal über den verantwortungsvollen Umgang mit unseren alten Eltern nachzudenken. Eine Fortsetzung hat Eleonore Holmgren unter dem Titel „Brittas Arv“ (Brittas Erbe) in Schweden bereits im Juni 2022 veröffentlicht.

Veröffentlicht am 27.10.2023

Rassismus - leider immer noch aktuell

Sekunden der Gnade
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REZENSION – Das amerikanische Reizthema der Rassentrennung sowie die in vergangenen Jahren wieder zunehmende Segregation an US-Schulen bilden den Hintergrund zu dem im August beim Diogenes Verlag erschienenen ...

REZENSION – Das amerikanische Reizthema der Rassentrennung sowie die in vergangenen Jahren wieder zunehmende Segregation an US-Schulen bilden den Hintergrund zu dem im August beim Diogenes Verlag erschienenen Roman „Sekunden der Gnade“ des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane (58). Zwar wurde bereits 1954 nach der Klage einer afroamerikanischen Mutter die Rassentrennung an den Schulen der Vereinigten Staaten grundsätzlich aufgehoben, doch waren es erst drei Jahre später die „Little Rock Nine“, die neun schwarzen Schüler aus Little Rock (Arkansas), die unter starkem Schutz der Nationalgarde die „weiße“ Little Rock Central High School besuchen durften.
Um die unterschiedlichen sozialen Milieus in den Schulen zusammenzuführen, richteten in den nachfolgenden Jahren viele Städte – oft erst auf Druck der Bundesregierung und der Gerichte – spezielle „Busing“-Programme ein: Schüler aus überwiegend von Schwarzen bewohnten Innenstädten wurden mit Bussen in die Schulen der vorwiegend von Weißen bewohnten Vorstädte gefahren und weiße Kinder und Jugendliche in die von Schwarzen besuchten Schulen der Innenstädte. Im September 1974 wurde Boston, die Heimatstadt des 1965 in der vom Arbeitermilieu irischer Einwanderer geprägten Vorstadt Dorchester geborenen Autors Dennis Lehane, zu einem Widerstandszentrum weißer Vorstadtbewohner gegen das vom Bürgermeister angeordnete „Busing“. Lehane schreibt im Nachwort: „Ich habe die ganze gewalttätige Show hautnah miterlebt.“ Die Einwohner setzten sich vor allem aus rassistischen Gründen gegen diese Integrationsmaßnahmen zur Wehr, gaben allerdings vor, das Absinken des Bildungsniveaus an ihrer Schule zu fürchten. Hören wir nicht aktuell auch in Deutschland nach Anstieg der Schülerzahlen aus Flüchtlings- und Einwandererfamilien immer wieder gerade dieses Argument?
Vor diesem sozialpolitischen Hintergrund des Jahres 1974 spielt der Roman „Sekunden der Gnade“: Die Weißen einer Bostoner Vorstadt sind in Aufruhr aus Angst vor den angekündigten schwarzen Jugendlichen. „Weeze würde sich im Grab umdrehn, wenn sie an der South Boston High School eine Horde Darkies durch denselben Gang laufen sähe wie ihre Enkeltochter.“ Eines Nachts kommt die 17-jährige Jules Fennessy nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht kommt ein schwarzer Junge ums Leben, als er von vier weißen Jugendlichen vor einen einfahrenden Zug gestoßen wird. Haben beide Vorfälle etwas miteinander zu tun? Gehörte Jules zu diesen Vier? Ihre Mutter Mary Pat sucht sie überall und fragt bei Freunden und Bekannten nach Jules. Zunächst will ihr niemand etwas sagen. Doch dann erfährt sie, dass ihre Tochter in mafiösen Verbrecherkreisen verkehrt hat. Schließlich muss sie erkennen, dass man ihr, die schon einen geliebten Mann und ihren ältesten Sohn verloren hat und vom zweiten Mann verlassen wurde, nun auch noch das Letzte genommen hat, was ihrem Leben Sinn gab. In tiefem Schmerz nimmt sie Rache.
„Sekunden der Gnade“ ist aus mehreren Gründen interessant: Einerseits beschreibt Dennis Lehane aus eigenem Erleben sehr plastisch das soziale Miteinander, die Gefühlswelt der Bewohner sowie den Lebensstandard der weißen Arbeiterschicht: „Bess ist ein zweifarbiger 1959er Ford Country. Sein Heck hängt durch wie ein alter Hundearsch … und den Auspuff halten nur zerfranstes Metzgergarn und schieres Glück.“ Zum Anderen erfährt man viel über die gesamtpolitische Stimmung zu jener Zeit in den USA sowie über das Bemühen schulischer Integration von Schwarz und Weiß. Drittens verbindet Lehane alles in einer spannenden Handlung, geschrieben in lockerer, oft bildhafter Sprache, die schon allein das Buch zu guter Lektüre macht.
Im abschließenden Nachwort warnt Dennis Lehane: „Rassismus ist ein widerwärtiges, krebsartiges Vorurteil, das von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Eine Seuche, die demjenigen, der sie in sich trägt, ebenso viel Schaden zufügt wie seinen Opfern.“ Blickt man sich heute auf den Straßen unserer Großstädte um, erschrickt man, wie aktuell dieser Roman trotz seines historischen Hintergrunds auf uns wirken kann.

Veröffentlicht am 08.10.2023

Was ist der Sinn des Lebens?

Die Bank am Rande des Waldes
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REZENSION - Ein Gespräch über das Glück und den Sinn des Lebens schildert Autor Stefan Fourier (74) in seinem schmalen Büchlein „Die Bank am Rande des Waldes“, im September beim Verlag tredition erschienen. ...

REZENSION - Ein Gespräch über das Glück und den Sinn des Lebens schildert Autor Stefan Fourier (74) in seinem schmalen Büchlein „Die Bank am Rande des Waldes“, im September beim Verlag tredition erschienen. Auf nur 56 Seiten im handlichen A6-Format verarbeitet der promovierte Physiker und Sachbuch-Autor, inzwischen aber als Romancier, Märchenerzähler und Aphoristiker bekannte Schriftsteller seine im eigenen Leben „auf persönlichen Irrwegen, in beruflichen Höhen und Tiefen und weiteren gemeisterten Schicksalsschlägen“ selbst gemachten Erfahrungen und bringt die daraus gewonnenen Einsichten in einer märchenhaften Geschichte in kurzen Sätzen leicht verständlich und nachvollziehbar auf den Punkt.
In einer depressiven, ihn lähmenden Lebenskrise macht sich der Erzähler auf zu einem Spaziergang in die Einsamkeit des Waldes. „Alles, was mich ausmachte, steht in Frage. Schwerpunkte haben sich verschoben, Freunde und Bekannte schwinden. Jeder folgt seinem eigenen Lebensweg. Meiner ist abgebrochen. Was kommt jetzt?“ Er zweifelt am Sinn seines Daseins und vermisst das Glück, das ihn bisher doch begleitet zu haben schien. Er hatte es zu was gebracht, konnte Ehefrau und Kindern alles bieten, was er meinte, ihnen bieten zu müssen. Doch jetzt ist ihm bewusst: „Geld, Auto, der ganze Besitz machen allein noch keinen Sinn. Irgendwie hat mich das zufrieden gemacht, irgendwie aber auch wieder nicht.“
In einer Wanderpause setzt sich ein alter Mann – ist es Gott, der Schöpfer? – zu ihm auf die Bank und verwickelt ihn in ein philosophisches Gespräch. Es geht darin um die Frage, was im Leben wirklich Sinn macht und was wahres Glück ist. Auch der Alte hat kein Patentrezept für den Erzähler, da jeder für sich selbst definieren muss, was Sinn macht und Glück bedeutet. Aber er weiß anderen Rat. „Mit deinem Tun schaffst du Sinn, nicht mit Grübeln“, fordert ihn der Alte heraus. „Die Frage ist doch, wie viel du bereit bist zu wagen.“ Denn der Erzähler wagte bisher keinen Neuanfang, zweifelte am möglichen Erfolg, zweifelte an sich selbst. „Vielleicht blockiere ich mich dadurch, dass ich sicher sein will, sofort den richtigen Treffer zu landen, gleich die Sache zu finden, die sinnvoll ist, die mich glücklich macht“, bekennt er einsichtig, hoffte er doch bisher immer auf eine Sinn- und Glücksgarantie – ein Charakterzug, der sich bei uns allzu häufig offenbart: Statt etwas Neues zu wagen, wissen viele von uns oft schon vorher, dass es nicht klappen wird und warum es nicht klappen kann. Besser – sinnvoller – wäre es stattdessen, die Sinnsuche als Innovation, die Glückssuche als Entdeckungsreise zu verstehen: „Man versucht etwas Neues, und es kann funktionieren, muss es aber nicht.“ Im negativen Fall wagt man eben etwas anderes.
Im Lauf ihres Gesprächs zeigt der Alte dem Erzähler einige Ansätze zum aktiven, selbstbestimmten Handeln auf. Denn der Weg ist das Ziel. Er ermuntert den am Leben verzweifelnden und in seiner Depression an sich selbst zweifelnden Erzähler, dem der Erfolg abhanden gekommen ist, zu mehr Zuversicht und Vertrauen: „Nicht dem Erfolg sollst du vertrauen. Das ist ein unsicherer Kandidat. Dir selbst musst du vertrauen. Misserfolge kannst du nicht verhindern, aber du kannst sie verkraften, wenn du dir selbst vertraust.“
Fouriers kurze, in nur einer Stunde leicht zu lesende Geschichte macht uns auf märchenhafte Weise Mut. Sie vermag sicherlich Menschen in ähnlicher Situation etwas zu helfen, sie zumindest aufzumuntern und zu hoffnungsvollem Handeln und Neuanfang zu motivieren. Deshalb eignet sich dieser kleine Band nicht nur zum Selbstlesen, sondern auch als Geschenk für gute Freunde und Angehörige, von denen man weiß oder hofft, dass sie für Ratgeber dieser Art empfänglich sind.

Veröffentlicht am 05.10.2023

Inhaltlich und sprachlich beeindruckendes Kammerspiel

Der Schlafwagendiener
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REZENSION – Völlig zu Recht wurde der im August beim Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Schlafwagendiener“ bereits in Kanada mit dem Giller Prize ausgezeichnet, dem renommiertesten Literaturpreis ...

REZENSION – Völlig zu Recht wurde der im August beim Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Schlafwagendiener“ bereits in Kanada mit dem Giller Prize ausgezeichnet, dem renommiertesten Literaturpreis des Landes: Auf engstem Raum, in einem einzigen Schlafwagen eines Luxuszuges während einer viertägigen Fahrt quer durch Kanada von Montreal im Osten nach Vancouver im Westen, zeichnet Suzette Mayr (56) auf nur 240 Seiten ein in seiner Komplexität gelungenes Sittenbild des wohlhabenden kanadischen Bürgertums gegen Ende der 1920er Jahre in all seiner Oberflächlichkeit und Überheblichkeit – und dies aus Sicht des jungen, schwarzen Schlafwagendieners R. T. Baxter, wegen seiner Hautfarbe und Homosexualität gleich doppelt stigmatisiert, missachtet und gefährdet.
Noch vom vorigen Einsatz übermüdet, muss Baxter außerplanmäßig die Fahrt nach Vancouver als Schlafwagendiener übernehmen, muss während der kommenden vier Tage und Nächte jeden Wunsch seiner reichen weißen Fahrgäste ausführen, darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Denn Gründe für sofortige Entlassung gibt es viele: Illoyalität, Unehrlichkeit, Unmoral, Unbotmäßigkeit, Unfähigkeit, grobe Nachlässigkeit, Unaufrichtigkeit – ausnahmslos nicht überprüfbare, subjektive Kriterien, bei denen Baxter den Fahrgästen und ihren Launen ausgeliefert ist.
Baxter arbeitet und lächelt unablässig, auch wenn es ihm, der intellektuell über manchem Fahrgast steht, gelegentlich schwerfällt. Er braucht doch jeden Dollar, um sein Studium fortsetzen zu können. Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden. „Er erzählt niemandem, dass er die Universität zwei Jahre lang besucht und wieder verlassen hat. Wie es aussieht, um in Zügen für Weiße Klosetts zu putzen.“ Als schwarzer Schlafwagendiener zählt er bei den weißen Fahrgästen nicht. Man nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern nur „Diener“ oder „George“. Nicht einmal die Damen im Waschraum fühlen sich durch ihn gestört: „Er ist nicht mehr als ein Möbelstück.“ Baxter steht am untersten Ende der Gesellschaft. Es ist fast, als existiere er nicht. Würde seine Homosexualität bekannt, käme er sofort ins Gefängnis.
Nachdem der Zug von einer Schlammlawine aufgehalten wurde, verdichtet sich die Spannung zwischen den ungeduldiger werdenden Fahrgästen. Nur Baxter, der als Schlafwagendiener auch nachts kaum schlafen durfte, darf sich seine totale Erschöpfung nicht anmerken lassen. Doch gelegentlich fällt er in Sekundenschlaf: „Er reibt sich immer wieder die Augen, die rosa und feucht sind wie piepsende Vogelmünder und wenigstens ein einziges Würmchen Schlaf ergattern wollen. … Er ist ein Schlafwagendiener. Ein schläfriger Wagendiener. Schläfriger Diener im Wagen. Wagen schläfrig. Diener. Schlaf.“
Baxter hält sich an die Empfehlung seines schwarzen Ausbilders: „Setz dieses besondere Lächeln auf, … aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.“ Als man Baxter schließlich nur noch „Boy“ nennt, kann er seine Verachtung den Weißen gegenüber, kaum noch verbergen: „Boy. Baxter hebt mühsam die erschöpften Augenlider und nimmt die beiden in den Blick, ein höhnisches Grinsen glitscht über sein Gesicht wie ein Krake aus der Tiefsee, in seiner Brust löst der Hass eine tektonische Verschiebung aus.“
Suzette Mayr offenbart in einem beeindruckenden Kammerspiel – der Roman ließe sich tatsächlich sehr gut auf die Bühne bringen – das Kastendenken jener Zeit zwischen Weiß und Schwarz, die damaligen Gesellschaftsunterschiede und Vorurteile sowie die sich daraus ergebenden Konflikte, die auch nach hundert Jahren wenn auch in abgeschwächtem Maß noch heute nicht nur in Kanada zu entdecken sind. Die Autorin hätte vielleicht den ersten Teil etwas verdichten und dadurch mehr Tempo in die Erzählung bringen sollen, das erst im zweiten Teil stärker anzieht. Dennoch gilt: Mayrs in kurzen, wechselnden Szenen treffend charakterisierten Figuren faszinieren ebenso, wie der Roman insgesamt – nicht zuletzt dank seiner Übersetzerin Anne Emmert – auch sprachlich überzeugt: „Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn weiße Flecken sehen, wo keine sind.“

Veröffentlicht am 27.09.2023

Für Freunde der besonderen Literatur

Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten
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REZENSION – Es sind die einfachen, unscheinbaren Menschen in den kleinen kalabrischen Städtchen, die das literarische Universum des italienischen Schriftstellers Domenico Dara (52) abbilden. Spielten die ...

REZENSION – Es sind die einfachen, unscheinbaren Menschen in den kleinen kalabrischen Städtchen, die das literarische Universum des italienischen Schriftstellers Domenico Dara (52) abbilden. Spielten die ersten zwei Romane „Der Postbote von Girifalco“ und „Der Zirkus von Girifalco“ noch in seinem dörflichen Geburtsort, verlegte der Autor den Handlungsort seines dritten, im Juli im Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Romans „Malinverno, oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ in das fiktive kalabrische Städtchen Timpamara – einen jener Orte, „an denen der Geist der Literatur in der Atemluft liegt“. Hier leben die Menschen von und mit der Literatur, seitdem hier im 19. Jahrhundert die erste Papierfabrik Kalabriens entstand. In Timpamara benennt man sogar die Kinder nach literarischen Figuren oder Schriftstellern.
Unzählige Seiten alter Bücher werden täglich bei der Papierpresse aufgewirbelt und fliegen durchs Dorf: "Überall in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob..."
„Malinverno“, betitelt nach Astolfo Malinverno, dem hinkenden Bibliothekar des Ortes, ist eine sehr empathisch geschriebene Geschichte um die Liebe zur Literatur, zur Heimat und zu den dort lebenden Menschen, über deren Leben und Schicksale uns der junge Bibliothekar erzählt. Manches schmückt er auch gern aus: „Die Details habe ich hinzugefügt, denn es war immer schon mein Laster, Geschichten, Wörter und Träume um die Leute herum zu bauen.“ Malinverno ist ein begeisterter Geschichtensammler und Erzähler, also die Idealbesetzung für die Bibliothek.
Doch eines Tages beauftragt ihn der Bürgermeister, auch noch den Friedhof zu übernehmen, was Malinverno zunächst beunruhigt: „Mit Veränderungen war ich noch nie gut zurechtgekommen, … darum versuchte ich, mich auf die einzige mir bekannte Art abzulenken. Ich holte 'Madame Bovary' aus der Tasche.“ Erst allmählich kann sich der Bibliothekar mit seinem Zweitjob als Friedhofswärter anfreunden: „Mein Hände öffneten die Tür der Bibliothek und das Tor zum Friedhof, sie ordneten die Bände auf den Regalen und die Blumenkränze, schrieben etwas ins Ausleih- und ins Sterberegister. Aber es gab noch einen anderen Grund, der die beiden Welten miteinander verband: Für mich waren und sind diejenigen Bücher vollkommen, die mit dem Tod des Protagonisten enden.“
Als er ein namen- und datenloses Grab mit dem Foto einer bildschönen Frau entdeckt, verliebt er sich in dieses Bildnis, das ihn an Gustave Flauberts Figur Emma Bovary erinnert. Mysteriös wird es, als eines Tages eine Frau namens Ofelia auf dem Friedhof erscheint, die das genau Abbild dieser Fotografie ist: „Herausgetreten aus der Fotografie und vor meinen Augen Mensch geworden.“ Die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit scheinen sich aufzulösen. Als dann noch ein geheimnisvoller Unbekannter auf dem Friedhof erscheint, nimmt Domenico Daras Geschichte nach etwas zu langer Anlaufphase langsam Fahrt auf und auch an Spannung zu: Friedhofswärter Malinverno beginnt, den geheimnisvollen Vorgängen auf den Grund zu gehen.
„Malinverno“ ist ein poetisch-romantischer Roman, in dem sich der Autor in leichter Sprache und mit Verweisen auf Werke klassischer Literatur mit dem Leben, der Liebe und dem Tod befasst. Seinen Protagonisten Astolfo Malinverno – diese Figur muss man einfach ins Herz schließen – nutzt er geschickt als Medium. „Malinverno, oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten“ ist vor allem für Freunde besonderer Literatur ein empfehlenswertes Buch.