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Veröffentlicht am 15.01.2023

Historisch interessant - trotz Erinnerungslücke

Zeit meines Lebens
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REZENSION – Es sind keineswegs nur „Erinnerungen eines Journalisten“, wie der bescheiden zurückhaltend klingende Untertitel der im November im Propyläen Verlag postum veröffentlichten Autobiografie „Zeit ...

REZENSION – Es sind keineswegs nur „Erinnerungen eines Journalisten“, wie der bescheiden zurückhaltend klingende Untertitel der im November im Propyläen Verlag postum veröffentlichten Autobiografie „Zeit meines Lebens“ vorgibt. Schließlich war deren erst drei Monate zuvor 92-jährig verstorbene Autor Theo Sommer nicht irgendein Journalist. Als politischer Chefreporter, Chefredakteur und schließlich langjähriger Herausgeber der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ war er eine herausragende Institution im bundesdeutschen Nachkriegsjournalismus. So ist sein intellektuell ansprechendes Buch eine politische Zeitreise durch vier deutsche Staaten von der Diktatur des Nazi-Regimes über zwei deutsche Staaten bis zur Wiedervereinigung und deren Folgen.
Sommers Autobiografie lässt sich nicht nur in zeitliche Epochen unterteilen, sondern auch thematisch gliedern. Da ist zunächst sein spannender Bericht über die Kindheitsjahre in kleinbürgerlichen Verhältnissen mit der Schulzeit auf der NS-Ordensburg in Sonthofen, gefolgt von richtungslosen Nachkriegsjahren, erster journalistischer Arbeit bei einer kleinen Lokalzeitung und seinem „Erweckungserlebnis“ als einer der ersten Studenten nach dem Krieg in Schweden und den USA. Allein für diese ersten 26 Lebensjahre braucht Sommer fast die Hälfte des über 500 Seiten starken Buches – zu Recht, sind sie doch entscheidend für seinen Werdegang.
Denn gerade das politisch Unbelastete des „Spätgeborenen“, seine journalistische Erfahrung und die prägenden Studienaufenthalte im Ausland sind es, die Marion Gräfin Dönhoff Anlass gaben, den 27-Jährigen ab Januar 1958 in die politische Redaktion der „Zeit“ zu holen. „Sie bot mir die Chance meines Lebens. Aus dieser Chance ist mein Leben geworden.“ Auch dieser Themenblock, in dem Sommer seine Jahrzehnte als Zeitungsmacher rückblickend und nicht ohne Kritik schildert, ist hochinteressant – vor allem die Charakterisierungen der „Hamburger Kumpanei“ seiner bis heute unvergessenen Chefs und Kollegen Gerd Bucerius (Verleger), Rudolf Augstein (Spiegel), Henri Nannen (Stern) und eben „die Gräfin“ Marion Dönhoff (Die Zeit), nicht zuletzt auch der spätere Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt. In Sommers Kritik am heutigen Journalismus spürt man die Schule der Dönhoff: „Ihr Journalismus hatte mehr mit Moral zu tun als mit Marketing; mehr mit Grundsätzen als mit Zielgruppenansprache; mehr mit nüchterner Redlichkeit als mit leicht verkäuflicher Aufgeregtheit.“
Der dritte Themenblock umfasst die Begegnungen Sommers mit den wichtigsten Politikern jener Jahrzehnte – sei es Erich Honecker, Henry Kissinger und Lyndon B. Johnson oder der schon gebrechliche Mao Zedong und sein Nachfolger Deng Xiaoping, Willy Brandt, der Sommer mit seiner Entspannungspolitik zum Umdenken zwang, oder auch Gerhard Schröder. Es gab kaum jemanden, den „der begabte Netzwerker“ auf internationaler politischer Bühne nicht kannte.
Ausgespart hat Theo Sommer dagegen ein viertes Thema – sein privates Leben als Erwachsener. Man erfährt kaum etwas über den Privatmann, der dreimal heiratete. Auch die 20 Jahre nach seinem Ausscheiden als Zeit-Herausgeber (2000) hat er ausgelassen – vielleicht nicht ohne Grund: Immerhin wurde er als 84-Jähriger wegen Steuerhinterziehung und Betrug als Herausgeber für das Verlagshaus Times Media (2005 - 2011) zu einer hohen Bewährungsstrafe verurteilt, nachdem er eine Steuerschuld von 650 000 Euro beglichen hatte. Auch darüber ein paar Worte in seinen „Erinnerungen eines Journalisten“ zu schreiben, hätte dem 92-jährigen Sommer gut zu Gesicht gestanden und wohl kaum seine Bedeutung als herausragender Publizist geschmälert. Denn trotz allem bleibt der studierte Historiker ein „alter weiser Mann“, der sich selbst in seinem Buch bei gelegentlicher Kritik an der Neuzeit selbstironisch einen „alten weißen Mann“ nennt.
Ungeachtet dieser „Erinnerungslücke“ ist Theo Sommers Autobiografie „Zeit meines Lebens“ eine lesenswerte Zeitreise durch neun Jahrzehnte Deutschlands und der Welt, gibt einen interessanten Einblick in die Entwicklung des Journalismus und erinnert an einen der bedeutendsten Meinungsmacher der Nachkriegszeit, der seinen namhaften Kollegen Augstein, Nannen oder Dönhoff in nichts nachsteht.

Veröffentlicht am 03.01.2023

Spannende Fantasy, historisch interessant

Die Bücher, der Junge und die Nacht
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REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten ...

REZENSION – Schon in seinen eher für junge Leser verfassten Romanen vergangener Jahre hatte sich der vielfach prämierte Schriftsteller Kai Meyer (53) dem Thema der Bibliomanie, also der übersteigerten bis krankhaften Leidenschaft zum Sammeln von Büchern, sowie der Bibliomantik, mit Hilfe von Büchern magische Kräfte ausüben zu wollen, zugewandt. Doch während sich die Figuren des „Meisters der deutschen Phantastik“ in dessen Trilogie „Die Seiten der Welt“ (2014-2016) sowie im zweibändigen Roman „Die Spur der Bücher (2017/2018) noch in reinen Fantasy-Welten bewegten, ist Kai Meyers neuester Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“, im November 2022 beim Knaur Verlag erschienen, ganz anders konzipiert und allein schon deshalb lesenswert.
Seine diesmal für erwachsene Leser geschriebene „Liebeserklärung an die Welt der Bücher“, wie es der Verlag im Klappentext ausdrückt, spielt im Gegensatz zu üblichen Fantasy-Romanen nicht in einer mittelalterlich anmutenden Märchenwelt, sondern die fiktive Handlung ist im durchaus realen Umfeld der historischen Bücherstadt Leipzig und dessen Graphischem Viertel verortet und in die Neuzeit der Jahre 1933, 1943 und 1971 verlegt. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen einerseits absoluter Realität von Ort und Zeit und andererseits der eher mystisch als phantastisch wirkenden Handlung macht Meyers Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ auch für Nicht-Fantasy-Leser zu einer interessanten und spannenden Lektüre.
Die Chronologie der Geschichte – in wechselnden Zeitsprüngen abschnittweise erzählt, ohne allerdings den Leser zu verwirren – beginnt 1933, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis, im Graphischen Viertel der alten Bücherstadt Leipzig. Juliana Pallandt, Tochter des mächtigen Leipziger Verlegers Konrad Pallandt, mit dem der benachbarte Antiquar und Buchbinder Jakob Steinfeld verfeindet ist, bittet ausgerechnet ihn, das Manuskript eines von ihr verfassten Buches zu binden. Steinfeld lehnt zunächst ab, verliebt sich aber spontan in die junge Frau. Bald darauf ist Juliana verschwunden. Vierzig Jahre später bittet die Bibliothekarin Marie den mit ihr befreundeten Kollegen Robert Steinfeld, Jakobs Sohn, der allerdings seine Eltern nie kennenlernte, die Bibliothek des seit Kriegsende in München wirkenden und nun verstorbenen Verlegers Konrad Pallandt aufzulösen. Einige dort aufgefundene Bände aus der Leipziger Buchbinderei Steinfeld geben den beiden Experten allerdings Rätsel auf, weshalb das Paar den Spuren bis hin zu jenen unheilvollen Ereignissen der 1930er und 1940er Jahre in Leipzig nachgeht. Dabei stoßen sie auf das Mysterium des Buches „Das Alphabet des Schlafs“, dessen Geschichte eng mit Roberts eigener verknüpft ist, und des einzigen Exemplars eines angeblich magischen, vielleicht sogar teuflischen Buches mit dem Titel „Der König im Exil“, das einst im Besitz der Buchbinder-Loge der „Dreizehn Meister“ war.
Kai Meyer versteht es ausgezeichnet, seine rein fiktive Geschichte um die bibliophilen Steinfelds, die Drucker- und Verlegerfamilie Pallandt sowie Pallandts geheimnisvollen Sekretär Flügelschlag und die historische Buchbinder-Loge im Umfeld des Graphischen Viertels so plastisch, in atmosphärischer Dichte packend und realitätsnah zu schildern, dass man versucht ist, im Internet Informationen über die „Dreizehn Meistern“ zu finden. So ist der Roman „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ einerseits eine spannend geschriebene Fiktion, wobei die Tragik des Geschehens hin und wieder humorvoll aufgelockert wird, andererseits aber auch ein interessantes Stück Zeitgeschichte über die Bücherstadt Leipzig während der Weimarer Republik und der Kriegsjahre bis hin zu jener Nacht am 4. Dezember 1943, in der 1 800 Menschen im Bombenhagel umkamen und das Graphische Viertel zerstört wurde. Zudem dürfte dieser Roman mit seinen Beschreibungen des Steinfeld'schen Antiquariats, des Handwerks der Buchbinder, der Pallandt'schen Bibliothek und den Bezügen zu Werken klassischer Literatur wohl jeden wahren Bücherfreund begeistern.

Veröffentlicht am 19.12.2022

Moderne Geschichten aus dem 19. Jahrhundert

Das Monster und andere Geschichten
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REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, ...

REZENSION – Der amerikanische Schriftsteller Stephen Crane (1871-1900), der während seiner Kur in Badenweiler an Tuberkulose starb, schuf in seinen nur 28 Lebensjahren ein beachtliches Werk aus Lyrik, Romanen und vielen Erzählungen. Während der 1895 erstveröffentlichte und seit 1954 mehrfach auf Deutsch übersetzte Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ auch durch seine Verfilmung mit Audie Murphy (1951) vielleicht noch manchem Leser ein Begriff sein mag, hat es sich der Pendragon Verlag zur Aufgabe gemacht, auch die Erzählungen des über Jahrzehnte vergessen Schriftstellers der heutigen Leserschaft bekannt zu machen. Im September erschien mit dem Erzählband „Das Monster und andere Geschichten“ mit überwiegend erstmals auf Deutsch übersetzten Erzählungen im Bielefelder Verlag schon die vierte Ausgabe mit Werken Cranes.
Es sind vor allem seine Erzählungen, die in ihren feinen Milieu-Schilderungen das literarische Talent Stephen Cranes beweisen. Die von ihm mit scheinbar leichter Hand in ihrem Charakter so treffend beschriebenen Menschen sind offensichtlich keine fiktiven Figuren, sondern dürften ausnahmslos reale Vorbilder im Leben des Schriftstellers haben – ob in seiner Kindheit in der ländlichen Provinz oder in seinem späteren Leben als Kriegsberichterstatter oder als Reporter in den Slums von New York. Denn die einfachen Soldaten, die kleinen Leute in den Armenvierteln und die Bürger des Provinzstädtchens Whilomville, die gleich in mehreren seiner Erzählungen wiederkehren, sind Cranes Hauptpersonen – allen voran die Arztfamilie Trescott mit dem kleinen Jimmy, in dem man das Alter Ego des Autors vermuten darf. Vielleicht ist es gerade diese Nähe zu realen Vorbildern, weshalb Crane seine Figuren manchmal durchaus kritisch wie in „Das Monster“, aber meistens humor- und liebevoll beschreibt.
Die titelgebende Erzählung „Das Monster“ (1898), mit ihrer Länge eher schon ein Kurzroman, ist zweifellos die beeindruckendste Geschichte in diesem Band. Der Schwarze Henry, Stallbursche der Familie Trescott und Freund des kleinen Jimmy, rettet diesen aus den Flammen und erleidet dabei schwerste Verbrennungen im Gesicht, die ihn zum „Monster“ machen. Jimmys Vater, der Henry gesund gepflegt hat, sorgt aus Dankbarkeit auch weiterhin für ihn. Crane beschreibt hier die typische Situation der Schwarzen im Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die zwar nicht als Sklaven, sondern frei, aber dennoch als Menschen letzter Ordnung sowohl räumlich als auch sozial am äußersten Rand der Gesellschaft leben. Zugleich prangert er die Bigotterie und Engstirnigkeit der weißen Provinzler an: Als vermeintlich tödlich verletzter Lebensretter wird Henry von ihnen noch gefeiert, als lebendes „Monster“ nun mitleidslos erst recht ausgegrenzt. Sogar der „Schwarzen-Freund“ Trescott, einst ein allseits beliebter Arzt, wird fortan gemieden.
Äußerst amüsant sind dagegen Cranes Erzählungen aus der Kindheit – mit uns vertrauten Szenen: So will der kleine Horace („Neue Handschuhe“) aus Angst vor Ärger mit der Mutter nach Kalifornien ausreißen: „Er würde fortlaufen. … Aber am Tor hielt er inne. … Da der Sturm sehr kalt war und dieser Punkt sehr wichtig, entschied er sich zum Rückzug in den Holzschuppen.“ Wer kennt nicht die Not des Schülers („Redner in Nöten“), beim Vortrag vor der Klasse zu versagen, und der deshalb seiner Mutter eine Krankheit vortäuscht: „Am nächsten Tag – ein Samstag und somit schulfrei – war er wunderbarerweise aus der Umklammerung der Krankheit befreit und nahm seine Spiele wieder auf, ein gesunder Junge, wie er lautstark bewies.“ In „Der kleine Engel“ erscheint uns die Jimmys selbstbewusste Cousine aus der Stadt wie eine frühe Ausgabe von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf: Sie lädt an ihrem Geburtstag die staunenden Dorfkinder zu Eis und anderen Süßigkeiten ein sowie – zum späteren Entsetzen der Eltern – zum gemeinsamen Friseurbesuch.
„Das Monster und andere Geschichten“ ist mit thematisch ganz unterschiedlichen Geschichten ein Buch zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken. Obwohl alle Erzählungen bereits vor 1900 entstanden, sind sie dank ihrer neuen Übersetzung von Lucien Deprijck (62), der im Nachwort Interessantes zum Autor und seinen Geschichten beisteuert, überhaupt nicht altbacken, sondern wirken modern wie aus unserer Zeit: Provinzielles Denken, Überheblichkeit und Rassismus sind immer noch aktuell wie vor 125 Jahren. Die beschriebenen Charaktere treffen wir auch heute so oder ähnlich in Familie und Nachbarschaft. Genau dies macht die Lektüre dieses Sammelbandes so reizvoll und empfehlenswert.

Veröffentlicht am 17.12.2022

SciFi-Roman mit aktuellen Themen

Der verbotene Planet
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REZENSION – Obwohl Jacqueline Montemurri (53) als Diplom-Ingenieurin für Raumfahrttechnik prädestiniert wäre für typische Science Fiction im engeren Sinn, üblicherweise mit technischen Phantasien gespickte ...

REZENSION – Obwohl Jacqueline Montemurri (53) als Diplom-Ingenieurin für Raumfahrttechnik prädestiniert wäre für typische Science Fiction im engeren Sinn, üblicherweise mit technischen Phantasien gespickte Abenteuergeschichten, ist davon in ihrem neuen Roman „Der verbotene Planet“, im September beim Plan 9 Verlag, kaum etwas zu lesen. In ihrem zweiten Zukunftsroman eröffnet die für ihre Kurzgeschichten schon mehrfach ausgezeichnete und nominierte deutschen Schriftstellerin stattdessen eine ethisch-moralische Diskussion um Auswirkungen des Klimawandels auf die gesamte Menschheit und um die Freiheitsgrenzen des Einzelnen zum Schutz des Gemeinwohls. Hierzu wagt die Autorin einen Blick in die zweite Hälfte des 22. Jahrhunderts: Die Menschheit wurde in den 2 130er Jahren auf den Mars umgesiedelt. Der verwüstete Planet Erde wurde unter Naturschutz gestellt und jede Neubesiedlung verboten.
Die Erdoberfläche hatte zuletzt der auf dem Mars geähnelt. „Dürren, Stürme und Flutkatastrophen brachten Hungersnöte und Pandemien und dezimierten die Weltbevölkerung. Als die Menschen sich endlich auf und davon machten, konnte der Planet aufatmen und sich neu entfalten.“ Die „Marsmenschen“ leben nun in Millionenstädten unter riesigen Kuppeln mit künstlicher Atmosphäre. Bei gelegentlichen Beobachtungsflügen wird die Renaturierung der Erde beobachtet. Bei einem solchen Flug entdeckt Captain Liv Heller, angelockt von einem SOS-Ruf, eine kleine Siedlung auf der Erde. Wie sich bei Kontaktaufnahme herausstellt, sind es Überlebende und deren Nachkommen eines vor 30 Jahren angeblich auf der Erde havarierten Raumschiffs unter Kommando von Captain Harrison Fawsett. Das vom Obersten Menschheitsrat erlassene Gesetz besagt nun allerdings, dass diese friedlichen, im Einklang mit der wieder üppig entwickelten Pflanzen- und Tierwelt lebenden Siedler vom Planeten Erde evakuiert werden müssen: „Die Menschen würden sich erneut wie die Heuschrecken auf diesem Planeten verbreiten, Lebensräume der ansässigen Tiere und Pflanzen zerstören, um Platz für ihre Siedlungen zu schaffen. … Sie würden Müll produzieren, Schadstoffe in Luft und Erde einbringen und aus dem Paradies wiederum eine öde Wüste machen.“ Doch nicht alle der etwa 30 Siedler, vor allem die auf der Erde geborene zweite Generation, wollen ihre Heimat verlassen und verweigern sich der von Mars-Regierung angeordneten Evakuierung, da sie sich nicht den „Marsmenschen“ zugehörig fühlen.
Der Konflikt gegensätzlicher Interessen ist offensichtlich: Auf dem Mars will man einen drohenden Bürgerkrieg zwischen Mars- und Erdanhängern verhindern, zumal der Konflikt durch Querdenker zusätzlich angeheizt wird, die die Existenz der Erde für Fake News halten. Andererseits steht die Besatzung des Forschungsschiffs jetzt vor der Frage, ob sie die Siedlung auf der Erde auslöschen und ihre Bewohner töten soll, nur um dem Gesetz der Mars-Regierung zu folgen? Darf man das Leben Weniger opfern, um den Frieden in der Mars-Gemeinschaft zu retten? Wo hören Recht und Freiheit des Einzelnen auf, um das Gemeinwohl zu schützen? „Sie waren Inquisitoren und brachten den Tod. Dabei wollten sie bewahren. Beschützen durch zerstören?“
Diese im Kern durchaus aktuellen Fragen verarbeitet Jacqueline Montemurri in einer recht einfachen, leider nicht immer logischen Handlung und stellt ihre Protagonisten mit ihren gegensätzlichen Sichtweisen gegenüber. Die Autorin bezieht in dieser Konfrontation keine Stellung, gibt keine Lösung des Konflikts vor. Sie stößt nur die Diskussion an. Die Antworten muss der Leser selbst finden. So ist dieser Zukunftsroman einerseits eine doch spannende Unterhaltungslektüre, die ihre Leser allerdings am Ende etwas nachdenklich zurücklässt. Nur dies ist leider sofort klar: Die Technik mag sich in den nächsten 250 Jahren wohl fortentwickeln, doch die Gattung Mensch scheint sich in ihrem sozialen Denken und Handeln kaum zu verändern.

Veröffentlicht am 10.12.2022

Tragische Sehnsucht nach Liebe

Eine Liebe
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REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara ...

REZENSION – Einerseits von der ungewöhnlichen Handlung fasziniert, andererseits auch irgendwie ratlos bleibt man nach Lektüre des 190-seitigen Kurzromans „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa (46) zurück, der im August beim Verlag Klaus Wagenbach erschien. Handelt es sich bei diesem spanischen Bestseller, dessen Original zum besten Buch des Jahres gekürt und mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels ausgezeichnet wurde, nun um eine Liebesgeschichte, wie der Titel vermuten lässt, oder doch nicht? Nach der Lektüre bleibt man mit einem unsicheren Gefühl zurück.
In jedem Fall geht es um einen Neuanfang: Die 30-jährige Natalie entflieht nach herber Enttäuschung und Kränkung aus der Großstadt ins winzige Dorf La Escapa (dt. Flucht) im ländlichen Nirgendwo, um in einem angemieteten Häuschen nicht nur ein neues Leben zu beginnen, sondern auch als Übersetzerin wissenschaftlicher Texte sich erstmals in der Übersetzung von Theaterstücken zu versuchen. Doch beides will ihr nicht gelingen.
Als Fremdling in der Dorfgemeinschaft wird sie von den Einheimischen neugierig und kritisch beobachtet. Trotz größtes Bemühens bleibt sie eine Außenseiterin – wie die Roma-Familie und die als „Hexe“ im Dorf verunglimpfte demente Greisin Roberta. Sogar ihr vom Vermieter überlassene, von ihm wohl misshandelte und verwilderte Hund, den sie Sieso (dt. Nichtsnutz) tauft, will ihr nicht vertrauen und beobachtet sie kritisch aus sicherem Abstand. Der „Nichtsnutz“ bleibt wie auch Nat ein Außenseiter. Fühlt auch sie sich als Nichtsnutz – unfähig, ihrem Leben einen Sinn zugeben und Freunde zu finden?
Da der aufdringliche Vermieter nur an der Mietzahlung, nicht aber am Zustand seines Hauses interessiert ist, legt sie selbst unter Mühen auf dem verwilderten Grundstück einen neuen Garten an. Im Haus tropft der Wasserhahn, die Bohlen des Fußbodens sind verzogen und es regnet durchs Dach. Der wie ein Einsiedler lebende „Deutsche“ Andreas, von dem niemand weiß, woher er seinen Spitznamen hat, bietet ihr an, das Dach kostenlos zu reparieren, verlangt allerdings als Gegenleistung Sex. Anfangs nüchtern als „Tauschgeschäft“ eingegangen, wird für die noch unsichere und zurückhaltende Nat aus dem ungewöhnlichen Verhältnis zu diesem älteren Mann „eine Liebe“ - obsessiv und fordernd, aus Sehnsucht nach Vertrauen und Halt. Doch Liebe und Freundschaft bleiben einseitig. Halt findet Nat weder beim Sexpartner Andreas noch bei dem als hilfreicher Freund erscheinenden Píter.
Sara Mesas Roman fasziniert durch die abschreckende, brutal wirkende Nüchternheit in seiner Handlung, in den in ihrem Handeln widersprüchlich auftretenden Dorfbewohnern und in der sachlich knappen Sprache der Autorin: Die verhärmt und in ihrem Leben perspektivlos wirkenden Dorfbewohner sind hart in ihrem Urteil, verachten nicht nur Außenseiterin Nat, deren Liaison ausgerechnet mit dem „Deutschen“ für weiteres Misstrauen sorgt, sondern auch ihre Nachbarn. Die Dörfler scheinen mal vertrauensvoll, mal abweisend, werden unerwartet aggressiv. Erst wenn es gilt, Nat aus dem Dorf zu treiben, scheinen sich alle einig. Von einer harmonischen Dorfgemeinschaft ist jedenfalls nichts zu spüren. Nicht einmal die karge Landschaft bietet einen Hauch von Romantik. Alles erinnert an das ebenfalls vom Wagenbach Verlag im September veröffentlichte Buch „Leeres Spanien“ von Sergio Del Molino über Spaniens sterbende Dörfer. Aber gerade diese Nüchternheit und Gefühlskälte ist es, die Sara Mesas Kurzroman „Eine Liebe“ zu einer dramatischen und auf ihre Art ungemein fesselnden Geschichte, in deren Ablauf sich die Autorin – wie in einem eindrucksvollen Kammerspiel – allein auf ihre Protagonistin beschränkt, auf deren Gefühle und Gedanken, und alle anderen Personen eher als Randfiguren auftreten lässt.