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Veröffentlicht am 01.01.2022

Historischer Roman mit Macken

Die militante Madonna
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REZENSION - Ein Transvestit am französischen Hof Ludwigs XV. sowie seines Nachfolgers und Enkels Ludwig XVI., ein Dragoner-Hauptmann in Frauenkleidern, erzählt uns in Irene Disches neuem Roman „Die militante ...

REZENSION - Ein Transvestit am französischen Hof Ludwigs XV. sowie seines Nachfolgers und Enkels Ludwig XVI., ein Dragoner-Hauptmann in Frauenkleidern, erzählt uns in Irene Disches neuem Roman „Die militante Madonna“ seine sensationelle Lebensgeschichte – mehr als zwei Jahrhunderte nach seinem Tod. Mit diesem literarischen Kniff mischt sich die österreichisch-amerikanische Schriftstellerin scheinbar amüsiert in die aktuelle, als besonders aufgeklärt und tolerant erscheinende, gelegentlich auch hysterisch-übertrieben wirkende Gender-Debatte unserer Generation ein. Mit ihrer im Oktober beim Hoffmann & Campe Verlag veröffentlichten Romanbiografie über das wechselhafte Leben des Chevaliers Carles d’Eon de Beaumont (1728-1810) zeigt sie uns, dass diese Debatte um sexuelle Identität schon uralt ist und bereits vor Jahrhunderten teils intrigant und verbissen diskutiert wurde, andererseits Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung doch nichts Neues waren. „Zweihundertfünfzig Jahre nach meiner Zeit glauben Sie offenbar“, spricht uns der Erzähler direkt an, „Sie hätten die Wahlfreiheit erfunden, ein Mann oder eine Frau zu sein. …. Die Sünde wurde aus Ihrem Wortschatz gestrichen, aber die Verdammung des Wortverbrechens ist geblieben.“
Zumindest ansatzweise auf seinen 1836 erstveröffentlichten und 1998 als Reprint erschienenen „Mémoires du chevalier d’Éon“ basierend, lässt die Autorin in ihrer keineswegs historisch korrekten Romanbiografie ihren Helden seine abenteuerliche Geschichte erzählen, die in seiner Rolle als männlicher Kaufmann bis zum Waffenhandel mit den amerikanischen Revolutionären unter George Washington und als „militante Madonna“ zur Aufstellung einer Amazonen-Brigade reicht, eine „schlagkräftige Truppe von achtzig Frauen, die fünf verschiedene Sprachen sprachen“, um als Frau mit Frauen in Amerika für Freiheit und Gleichheit zu kämpfen.
Der Chevalier d’Eon de Beaumont war ein dem französischen König direkt unterstellter Gesandter, kämpfte als Mann im Siebenjährigen Krieg als Dragoner, spionierte als „schöne, geistreiche Frau mit kecken Brüsten, strahlend blauen Augen und blonden Locken“ am russischen Zarenhof und war bekannt für seine Fechtkunst mit dem Degen, ganz gleich ob als Mann oder Frau: „Auch in meinen Dreißigern, als ich noch gertenschlank und bildhübsch wie eine junge Frau war, konnte ich fechten, fluchen und rauchen wie ein widerlicher alter Mann.“ Bis zu seinem Tod wurden an der Londoner Börse Wetten über sein wahres Geschlecht abgeschlossen, die zu seinen Lebzeiten nie eingelöst wurden. Erst bei der Totenschau stellte man fest, dass d'Eon „nackt ein Mann war, ein normaler Mann, mein Geschlecht vom Alter verschrumpelt, aber nicht vom mangelnden Gebrauch, denn es hatte mir in meiner zweiten Lebenshälfte viel Lust bereitet“.
So ging Charles d'Eon als erster berühmt gewordener Transvestit in die Geschichte ein, weshalb auch der „Eonismus“ in den Fachbüchern früher Sexualwissenschaftler als Terminus für den Transvestitismus stand. In Disches Roman erkennt der Chevalier seine Zweigeschlechtlichkeit trotz mancher Intrige und gesellschaftlichen Drucks als „großzügiges Gottesgeschenk“ an: „Ich war nie auf die Idee gekommen, das eine Geschlecht zugunsten des anderen aufgeben zu müssen.“
Einerseits ist Disches aktuelles Buch ein locker geschriebener und deshalb gut lesbarer, auch unterhaltender historischer Roman über eine überaus interessante und schillernde Persönlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren schwieriges Schicksal uns heute kaum bekannt ist. Doch fehlen in Disches Roman die geschichtlichen Hintergrundinformationen, die zum besseren Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Situation jener Zeit nötig sind und in einem erklärenden Anhang sinnvoll gewesen wären. Hierzu ist deshalb ergänzende Lektüre unbedingt empfehlenswert.
Auch verliert der Roman durch die „Wiederauferstehung“ des Chevaliers als Ich-Erzähler mehr als 200 Jahre nach seinem Tod und dessen persönliche Einmischung in die aktuelle Gender-Debatte an Glaubwürdigkeit. Irene Dische zieht damit sogar die Ernsthaftigkeit der Thematik ins Lächerliche und neigt zur Überheblichkeit, wenn sie ihren Chevalier mit „erigiertem Zeigefinger“ sagen lässt: "Damit habe ich hier die älteste Geschichte der Welt in einer ihrer unzähligen Varianten nacherzählt, um Sie daran zu erinnern, nicht so arrogant zu glauben, Sie hätten die Freiheit erfunden, ein Mann oder eine Frau zu sein."

Veröffentlicht am 25.12.2021

Über das vergebliche Streben nach Vollkommenheit

Der perfekte Kreis
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REZENSION - „Solange ich atme, hoffe ich“. Dieses Mantra einer der beiden Hauptfiguren im neuen Roman „Der perfekte Kreis“ des britischen Schriftstellers Benjamin Myers (45), erschienen im September beim ...

REZENSION - „Solange ich atme, hoffe ich“. Dieses Mantra einer der beiden Hauptfiguren im neuen Roman „Der perfekte Kreis“ des britischen Schriftstellers Benjamin Myers (45), erschienen im September beim Dumont Verlag, zeigt in wenigen Worten, dass trotz aller Mühen unser Wirken auf Erden unvollkommen ist. Vollkommenheit bleibt eine unerfüllte und wohl unerfüllbare Hoffnung. Auf diesen Widerspruch zwischen Hoffnung und Wirklichkeit verweist auch der Titel dieser wunderbaren Novelle, kann es doch den perfekten Kreis nicht geben, wie schon das Cover mit der Abbildung des Ensō-Symbols aus der japanischen Kalligraphie deutlich macht. Nur ein vollkommener Mensch könne demnach ein wahres Ensō zeichnen, während die Öffnung Unvollkommenheit symbolisiert.
Unvollkommen sind auch die beiden Freunde in Myers nur 220 Seiten kurzen Roman: Da ist der obdachlose Redbone „mit tiefem Argwohn gegenüber allen Formen von Obrigkeit und Bürokratie“, und sein Freund Calvert, ein aus dem Falkland-Krieg mit halbseitig entstelltem Gesicht heimgekehrter Veteran, der sich „als Schachfigur in den sinnlosen Machtspielen der gewählten Staatschefs dieser Welt“ versteht. Im Roman begleiten wir die beiden Freunde Calvert, „pragmatisch und diszipliniert, geprägt von Jahren militärischen Drills“, und Redbone, ein esoterisch angehauchter Punkmusiker „mit einem Hang zu Visionen, die er irgendwie zu Papier bringen kann“, während der Sommermonate des Jahres 1989 im Süden Englands auf ihren nächtlichen Touren zu einsamen Getreidefeldern, auf denen sie mystisch anmutende, bis zu 170 Meter große Kornkreis-Gebilde stampfen, die Mitmenschen an Außerirdische glauben lassen. „Sie gehen stundenlang, meilenweit, beide ganz konzentriert auf die Aufgabe, auf die Aufgabe, auf das meditative Nichts ihres sich allmählich leerendes Geistes.“ Beider Plan ist es, den „perfekten Kreis“ zu schaffen. Deshalb ist der jeweils nächste Kornkreis „immer ein Leuchtturm, ein Licht der Hoffnung“. Geprägt von Freiheitsdrang und Abneigung gegen die Obrigkeit, verbindet beide der Wunsch, bei ihrer stundenlangen Arbeit die Unvollkommenheit des Alltags hinter sich lassen zu können, und der tief empfundene Respekt für die Vollkommenheit der Natur. Gelingt ihnen der perfekte Kornkreis, wird ihnen auch alles andere gelingen, hoffen sie. „Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit“ ist Redbones Arbeitsmotto. Doch nach ersten erfolgreichen Kornkreisen, deren Entwürfe auf der Suche nach Perfektion immer komplizierter werden, scheitern beide dann doch an der „ersten Honigwabe-Doppelhelix der Welt“, Symbol für die menschliche DNA und eine Nebelwolke in unserer Milchstraße.
„Der perfekte Kreis“ von Benjamin Myers ist – wie schon dessen Roman „Offene See“ (2020) ebenfalls von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sprachlich wunderbar ins Deutsche übertragen – nicht nur eine Hommage an die Schönheit der von Menschenhand und Klimawandel gefährdeten Natur, sondern auch eine Liebeserklärung an alle gutwillig handelnden Menschen. Seine Nation sieht der Brite dagegen kritisch: „Da wir auf einer Insel leben, bilden wir uns ein, wir wären etwas Besonderes. Aber das sind wir nicht. … Wir haben Angst vor der Welt. Und das erzeugt Arroganz, und Ignoranz ist der Tod des Anstands.“ Zudem ist es allein dem lückenhaften und unzuverlässigen öffentlichen Verkehrsnetz Englands geschuldet, dass es Ex-Soldat Calvert, der kein Auto besitzt, nicht schafft, ans Meer zu kommen, um Selbstmord zu begehen.
Diese Lückenhaftigkeit, diese Unvollkommenheit in vielen Bereichen unseres Lebens und Wirkens zieht sich thematisch durch Myers Roman. Sogar der Autor selbst lässt Lücken und schafft so in seinem Werk die Perfektion der Unvollkommenheit. Wir erfahren wenig über das soziale Umfeld und Alltagsleben seiner Protagonisten – wir treffen sie nur bei nächtlichen Kornkreis-Streifzügen – und nicht einmal Calvert kennt den vollständigen Namen seines Freundes Redbone. „Der perfekte Kreis“ ist ein wunderbarer, ein eigenartiger Roman, der trotz seines philosophischen Tiefgangs und Gedankenspiels dank seiner beiden ungewöhnlichen Charaktere und seines angenehmen Schreibstils, gespickt mit mancher Ironie, gut lesbar und unterhaltend ist. „Der perfekte Kreis“ ist ein nachhaltiger Roman, der offen bleibt, zum Nachdenken über das Gelesene drängt und Hoffnung lässt, denn „solange ich atme, hoffe ich“.

Veröffentlicht am 19.12.2021

Literaturgeschichtlich und historisch interessant

Janowitz
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REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg ...

REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg Verlag veröffentlicht, die sowohl literaturgeschichtlich Interessierten als auch Freunden historischer Romane gleichermaßen gefallen dürfte. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des politischen Wandels in Böhmen mit Beginn des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch des Habsburger Kaiserreichs, die Jahre der tschechischen Republik, dem Einmarsch deutscher Truppen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt der Roman im Kern den Jahre andauernden Konkurrenzkampf zweier Schriftsteller, des Lyrikers und Romanciers Rainer Maria Rilke (1875-1926) und des Journalisten und Literaturkritikers Karl Kraus (1874-1936), von 1899 bis 1936 Herausgeber der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, um die Gunst der um Unabhängigkeit und Emanzipation bemühten böhmischen Adligen und Salonnière Sidonie Freiin Nádherná von Borutín (1885-1950) auf Schloss Janowitz im Süden Prags.
Beide Literaten kennen sich, treffen sich auch bei Besuchen auf Schloss Janowitz, halten aber respektvollen Abstand voneinander im Wissen um ihre Konkurrenz und gegenseitige Missgunst: „Rilke empfand die Anwesenheit des zwei Jahre älteren Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit.“ Beide widmen der zehn Jahre jüngeren Sidonie romantische Verse, doch beider Verhältnis zu ihr ist so unterschiedlich wie ihr Charakter: Rilke mit Sympathie für die Aristokratie, begrüßt 1914 den Beginn des Weltkriegs, ist im Grunde aber unpolitisch. Nicht nur in seinen Ansichten, auch literarisch bildet er den Gegenpol zu Nebenbuhler Kraus, der als überzeugter Pazifist Rilke als „uniformtragenden Neurastheniker“ verachtet und als scharfzüngiger Literaturkritiker bei vielen verhasst ist. „Kraus' Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand.“ Kraus wiederum „entschloss sich, das aufwendige Wortgeklingel des Dichters endgültig nicht zu mögen.“
Der Romantiker Rilke, voller Verehrung für die junge Baroness, ist für sie nur „ihr erster, ihr wahrer Freund“ und ein bewundernswerter Lyriker. Mit Kraus pflegt sie dagegen eine sexuelle Beziehung, lehnt aber seinen Heiratsantrag ab. Einerseits folgt sie damit dem Selbstverständnis ihrer aristokratischen Herkunft, nur einen Adligen heiraten zu dürfen, andererseits folgt sie auch der Warnung Rilkes vor der Heirat mit einem Juden: „Es ist das Jüdische an Karl Kraus, Sidie, was sein Stil ist und was allein seine Wirkung macht und seinen Erfolg.“ Kraus ist verbittert: „Sie wollte ihn herabstufen zu einem Gesellschafter für ihre kulturellen Bedürfnisse, vergleichbar Rilke oder dem sogar noch nachgeordnet.“
Schneiders Roman „Janowitz“ schildert ein höchst interessantes Kapitel deutscher Literaturgeschichte, sowohl spannend als auch unterhaltend zu lesen. Wer meint, Literaturgeschichte sei nur etwas für wissenschaftlich Interessierte, wird mit dieser empfehlenswerten Romanbiografie eines Besseren belehrt. Auch wer Biografie und Werke beider Literaten nicht kennen sollte, braucht sich vor der Lektüre von „Janowitz“ nicht zu scheuen, lernt er doch beide in ihrem Charakter und ihren wichtigsten Werken in Schneiders Romanbiografie ausreichend kennen – den Lyriker Rainer Maria Rilke mit seinen Versen und den Zyniker Karl Kraus mit seinen satirisch-kritischen Kommentaren. Nicht weniger interessant als Charakter ist beider Freundin Sidonie: Mit ihrem tragischen Lebensverlauf bis hin zur 1948 erfolgten Enteignung des Schlosses Janowitz kann die in jungen Jahren als Salonnière von Künstlern Umschwärmte und als Frau von Männern Verehrte - am Ende eines erfolglosen Kampfes um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit schließlich in Armut und Einsamkeit lebend – im Alter als Frau nur bemitleidet und als Symbol für den Untergang der Habsburger Monarchie und des österreichischen Adels gesehen werden.

Veröffentlicht am 11.12.2021

Historisch sehr gut, Spannung verbesserungswürdig

Des Kummers Nacht
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REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans ...

REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans „Des Kummers Nacht“, des im August vom Lübbe Verlag veröffentlichten Romandebüts von Ralph Knobelsdorf (54). Es ist ein unterhaltsamer, historisch gut recherchierter und informativer Roman um den ersten Fall des vom Berliner Polizeidirektor für die kürzlich gegründete Kriminalpolizei angeworbenen Jura-Absolventen und Gutsbesitzerssohn Wilhelm von der Heyden in Berlin.
Wilhelm von der Heyden steht 1855 kurz vor dem juristischen Examen. Von seiner Berliner Studentenbude aus wird er Zeuge einer Explosion im Haus gegenüber. Eine junge österreichische Gräfin mit familiären Verbindungen in die Bukowina, dem Grenzgebiet zu Russland, wie sich später herausstellt, kommt dabei zu Tode. Bei der anschließenden Zeugenvernehmung ist Herford, Chef der Kriminalpolizei, von Wilhelms Beobachtungsgabe begeistert, der zuvor die Wohnung der Gräfin auf der Suche nach weiteren Opfern durchsucht hatte, und stellt ihn als polizeiliche Hilfskraft ein, da talentierte Mitarbeiter bei der Kripo dringend benötigt werden. Sein Talent wird umso wichtiger, entwickelt sich doch der Mordfall unerwartet zum Politikum, dessen Spuren in die höchsten Kreise bis an den Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Führen. Der kränkliche König kann kaum noch die Regierungsgeschäfte wahrnehmen, weshalb einflussreiche Kreise insgeheim schon seine Nachfolge vorbereiten. Zudem erschweren politische Interessen Preußens die Ermittlungsarbeit mitten im Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich.
„Fakt oder Fiktion? … Der historische Kriminalroman bewegt sich immer in einem Spannungsverhältnis von Dichtung und Wahrheit“, hat sich der Autor die Frage selbst im Nachwort beantwortet und damit das Problem seines Debütromans angesprochen. Knobelsdorf hat mit seinem Erstlingswerk einen ausgezeichneten historischen Roman vorgelegt, der die politische und gesellschaftliche Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus mehreren Blickrichtungen treffend und wirklich interessant schildert, so dass sich die Lektüre schon deshalb lohnt. Doch obwohl ein Kriminalfall als Handlungsfaden die verschiedenen historischen Fakten zu einer verständlichen Einheit verknüpft, fehlt es an Spannung, um ihn als Krimi durchgehen zu lassen. Allzu bald kommt man dem Täter auf die Spur, und auch der Abschluss des Falles ist etwas lieblos runtergeschrieben.
Doch lässt man diesen in folgenden Bänden auszumerzenden Kritikpunkt unberücksichtigt, ist „Des Kummers Nacht“ ein rundum empfehlenswerter historischer Roman. Knobelsdorf gelingt es hervorragend, mit fiktiven und im jeweiligen Charakter treffend skizzierten realen Personen wie dem preußischen Gesandten Otto v. Bismarck und dem russischen Botschafter v. Budberg, den Schriftstellerinnen Fanny Lewald und Gisela v. Arnim, den Hof-Günstlingen und Lobbyisten-Brüdern v. Gerlach oder auch dem ehrgeizigen Leiter der politischen Polizei Wilhelm Stieber eine überzeugend stimmige Szenerie zu schildern, wozu der wohlklingende Sprachstil des Autors mit der zu den historischen Persönlichkeiten passenden Dialog-Wortwahl beiträgt. Auch die Berliner Örtlichkeiten (Stadtvogtei, Charité mit Leichenschauhaus), die politischen Umstände (Krimkrieg, Bukowina, Königshof) und die auch nach der Revolution von 1848 noch herrschende Drei-Klassen-Gesellschaft (Adel, Bürgertum, Arbeiterschaft) lassen die Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin vor dem lesenden Auge lebendig werden.
Abschließend stellt Wilhelm von der Heyden fest, dass „sein erster Fall nicht zu seiner Zufriedenheit gelöst“ ist. Dieser Meinung kann man sich als Leser anschließen: So gut der historische Aspekt gelungen ist, muss an der für eine Krimireihe erforderlichen Spannung in den Folgebänden etwas nachgebessert werden. „Das Spiel ist noch lange nicht vorbei, Wilhelm. Es hat gerade erst so richtig begonnen“, heißt es am Schluss. Lassen wir uns also gern überraschen und auf den zweiten Band „Ein Fremder hier zu Lande“ freuen, der für Juli 2022 angekündigt ist.

Veröffentlicht am 14.11.2021

mystisch - spannend - gut

Die Leuchtturmwärter
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REZENSION – Eigentlich geschieht nicht viel im Roman „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex (38), der im August beim S. Fischer-Verlag erschien. Dennoch gelingt es der britischen Autorin schnell, uns Leser ...

REZENSION – Eigentlich geschieht nicht viel im Roman „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex (38), der im August beim S. Fischer-Verlag erschien. Dennoch gelingt es der britischen Autorin schnell, uns Leser mit ihrem Debütroman von den ersten Seiten an in den Bann zu ziehen. Es ist eine packende Geschichte, mystisch anmutend und aufwühlend wie das wild tobende Meer rund um den Leuchtturm. Inspiriert vom niemals aufgeklärten Verschwinden dreier Leuchtturmwärter am 15. Dezember 1900 von der Insel Eilean Mòr an der Westküste Schottlands, erzählt Stonex eine eigene Geschichte von Oberwärter Arthur Black, Wärter William „Bill“ Walker und Hilfswärter Vincent „Vince“ Bourne, die alle drei in der Nacht vor Silvester 1972 spurlos vom Leuchtturm Maidens Rock verschwanden, auf einer winzigen Felsklippe etwa 15 Seemeilen vor der Küste Cornwalls aus dem Meer ragend.
Noch zwei Jahrzehnte später kursieren Gerüchte und Deutungsversuche im Küstenstädtchen Mortehaven, wo Arthur mit Ehefrau Helen, Bill mit seiner Jenny und Vince mit Freundin Michelle wohnten. Die drei Frauen und andere Beteiligte wie die Leuchtturmbehörde und der Leuchtturmbetreiber Trident House werden 1992 mehrmals von einem Schriftsteller über das Verschwinden der drei Männer befragt, um darüber einen Roman zu schreiben.
In ihren Interviews mit dem Schriftsteller offenbaren die Frauen, die seit 20 Jahren mit dem ungeklärten Verschwinden ihrer Männer leben und seelisch kämpfen müssen, ihre Gefühle, ihre Ängste und Geheimnisse. Es geht um den unerwarteten Verlust des Partners, um die Fähigkeit, auch 20 Jahre später noch trauern zu können. Es geht um anhaltende Hoffnung auf Rückkehr und verschiedene Arten von Liebe. Der Autorin gelingt es beeindruckend, sich in die Gefühlswelt dieser drei charakterlich und vom Alter her so unterschiedlichen Frauen hineinzuversetzen und ihr heutiges, von Fall zu Fall auch damaliges Handeln zu begründen.
Parallel dazu erfahren wir die 20 Jahre zurückliegende Vorgeschichte auf dem Leuchtturm, „diesem Ort auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle …. der keine Familien kennt“, die letztlich zum Verschwinden der drei Wärter geführt haben mag. „Drei Männer und eine Menge Wasser. Nicht jeder hält es gut aus, eingesperrt zu sein. Einsamkeit, Isolation, Eintönigkeit. Kilometerweit nichts als Meer und Meer und Meer.“ Am Silvestertag findet der alarmierte Suchtrupp nur den leeren Leuchtturm, keine Toten. Beide Wanduhren sind um Viertel vor Neun stehengeblieben, am Esstisch ist für zwei Personen eingedeckt, nicht für drei. Die Türen sind von innen verschlossen. „Nichts deutet auf einen überstürzten Aufbruch hin, eine Flucht, nichts lässt vermuten, dass die Wärter diesen Ort verlassen haben.“ Eine Vermutung lässt die Behörden allerdings die Akten bald schließen: „[Vincent] war der Kriminelle, also muss er es getan haben. Was genau er getan haben soll, können sie nicht sagen, aber wen kümmern schon Einzelheiten, wenn man einen Schuldigen hat“ und die anderen beiden offensichtlich „ohne Fehl und Tadel“ waren.
Emma Stonex geht es in ihrem Roman nicht um Aufklärung eines Geheimnisses, auch wenn sie ihren Lesern am Ende eine Möglichkeit anbietet, wobei gerade dies eher ein Makel ihres empfehlenswerten Romans ist. Was ihren Roman so eindrucksvoll macht, ist dessen mystische Atmosphäre, die Schilderung des bedrückenden Arbeitsalltags der einsamen Männer im Leuchtturm, die Beschreibung der rücksichtslosen Naturgewalt des umgebenden Meeres sowie der Gefühlswelt der drei Frauen, die nicht allein durch ihr gemeinsames Schicksal auch nach 20 Jahren noch miteinander verbunden sind.