Profilbild von Dreamworx

Dreamworx

Lesejury Star
offline

Dreamworx ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Dreamworx über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.06.2019

Leilas Suche nach ihrer Vergangenheit

Das Lied der Seiltänzerin
0

1788 Berlin. Findelkind Leila hat in der Familie des Stadtarztes Brendel ein Zuhause gefunden. Sie ist eine äußerlich auffällige Erscheinung mit ihren dunklen Haaren und Augen, über ihre eigene Familie ...

1788 Berlin. Findelkind Leila hat in der Familie des Stadtarztes Brendel ein Zuhause gefunden. Sie ist eine äußerlich auffällige Erscheinung mit ihren dunklen Haaren und Augen, über ihre eigene Familie weiß sie nichts. Sie verdingt sich als Küchenmagd bei Brendels für Kost und Logis, wird von ihnen aber auch mit manch Besonderheit bedacht, die anderen Angestellten vorenthalten bleibt. Leila begegnet dem Maler Nepomuk, als der die Dame des Hauses auf einem Portrait festhalten soll. Diese Begegnung verleitet Leila dazu, sich nachts mit ihm zu treffen und durch ihn eine neue Welt kennenzulernen. Dabei lernt sie den Kronprinzen Friedrich Wilhelm kennen, mit dem Leila sich auf eine Affäre einlässt, die aber nur von kurzer Dauer ist. Ihre nächtlichen Ausflüge bleiben nicht lange geheim, Leila muss das Haus des Arztes verlassen und sucht übergangsweise bei Nepumuk Unterschlupf. Ihre Vergangenheit lässt Leila keine Ruhe, sie möchte unbedingt herausfinden, wer sie wirklich ist und was die Träume bedeuten, die sie immer wieder heimsuchen…
Anne Stern hat mit „Das Lied der Seiltänzerin“ einen farbenprächtigen, fesselnden und sehr berührenden Roman vorgelegt, der regelrecht nach einer Fortsetzung schreit. Der Erzählstil ist flüssig, bildgewaltig und lässt den Leser schon mit dem spannenden Prolog in der Geschichte und eine vergangene Zeit zu versinken, um nicht nur Leila und ihre Träume kennenzulernen, sondern sich auch mit ihr auf die Suche nach ihrer Vergangenheit zu begeben. Die Autorin verwebt geschickt den gut recherchierten historischen Hintergrund mit ihrer Handlung und lässt den Leser so im alten Preußen wandeln sowie durch das Berlin des 18. Jh. streifen, wobei ihm auch das gesellschaftliche Leben vor Augen geführt wird. Nur Stück für Stück gibt die Autorin dem Leser das Geheimnis um Leilas Herkunft preis, so dass die Spannung innerhalb der Geschichte immer auf einem gleichbleibend hohen Niveau liegt.
Den Charakteren sind differenziert ausgestaltet und wirken sehr lebendig. Ihre individuellen Eigenheiten wirken authentisch, so fällt es dem Leser nicht schwer, sich in sie hineinzuversetzen und mit ihnen zu bangen, zu hoffen und zu fühlen. Leila ist eine junge Frau, die dem Leser sofort ans Herz wächst. Sie ist fleißig, freundlich und vor allem dankbar, was ihr eine gewisse Unterwürfigkeit bescheinigt. Doch mit der Begegnung mit dem Maler wird sie mutiger, wagt sich ins Ungewisse und findet Gefallen an dem Leben außerhalb der Mauern des Arzthauses. Sie ist neugierig auf die Welt, aber aufgrund ihres Aussehens auch den Vorurteilen der Menschen ausgesetzt. Doch Leila ist eine Kämpferseele und hat ein Ziel vor Augen, dass sie unbedingt erreichen will. Nepomuk ist ein Künstler, der schnell das Außergewöhnliche in Leila entdeckt, aber auch von ihrer Wissbegier begeistert ist. Auch die weiteren Protagonisten wie Friedrich Wilhelm machen die Geschichte zusätzlich interessant.
„Das Lied der Seiltänzerin“ ist ein wunderschöner Roman, der nicht nur eine Liebesgeschichte enthält, sondern vor historischem Hintergrund Geheimnisse und die Suche nach der eigenen Herkunft beinhaltet. Sehr schön erzählt und ein echter Pageturner. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 29.06.2019

Das vertauschte Foto

Dein Blick so tot
0

Die Fotografin Avery Tate ist mit ihrer alten Freundin Skylar in einer Galerie verabredet, wo die Ausstellung eines bekannten Fotokünstlers eröffnet werden soll, für den Skylar Modell gestanden hat. Doch ...

Die Fotografin Avery Tate ist mit ihrer alten Freundin Skylar in einer Galerie verabredet, wo die Ausstellung eines bekannten Fotokünstlers eröffnet werden soll, für den Skylar Modell gestanden hat. Doch Avery wartet vergeblich auf Skylar, dafür steht sie vor einem sehr verstörenden Foto ihrer Freundin. Dies ist allerdings nicht das Werk des ausstellenden Künstlers, sondern wurde ungesehen ausgetauscht. Avery macht sich auf die Suche nach Skylar und bittet ihren ehemaligen Kollegen Parker Mitchell, ihr dabei zu helfen. Schnell sind sie einem aufstrebenden jungen Fotografen namens Sebastian auf der Spur, der Skylar regelrecht bedrängt hat, für ihn Modell zu stehen. Aber es gibt noch weitere Verdächtige, denn Skylar bewegte sich in recht zwielichtigen Kreisen und scheute auch vor Erpressung nicht zurück. Avery und Parker ist bald klar, dass sie Unterstützung brauchen, so trommeln sie ihre Freunde Griffin, Finley, Tanner, Declan und Kate zusammen, um Skylar endlich zu finden. Bei ihren gemeinsamen Nachforschungen kommen sich Avery und Parker immer näher…
Dani Pettrey hat mit „Dein Blick so tot“ den zweiten Teil ihrer Baltimore-Serie vorgelegt, der sowohl an Unterhaltung als auch an Spannung dem ersten Roman „Die Sünden aus der Vergangenheit“ in nichts nachsteht. Der flüssig-packende Schreibstil hat eine richtige Sogwirkung und katapultiert den Leser regelrecht in die Handlung an Averys Seite, wo er nicht nur ihr, sondern auch dem Rest der Clique unsichtbar bei den Ermittlungen über die Schulter sehen darf. Dabei rinnen einem während der Lektüre die Seiten nur so durch die Finger. Die Autorin versteht es geschickt, zwei Fälle parallel laufen zu lassen und die Spannung aufgrund der wechselnden Schauplätze immer weiter in die Höhe zu schrauben. Gleichzeitig lernt der Leser die verschiedenen Protagonisten und ihre Beziehung untereinander immer besser kennen. Versteckte Anspielungen weisen auf die unterschiedlichen Paarungen innerhalb der Freundesclique hin, wobei sich manche schon gefunden haben, andere aber noch nicht so recht mit ihren Gefühlen herausrücken wollen. Besonders gut gelungen sind auch die kurzen Sequenzen, in denen der Täter zu Wort kommt, ohne dass der Leser ahnen kann, um wen es sich wohl handelt. Durch viele überraschende Wendungen muss der Leser die Lage immer wieder neu durchdenken, denn die Autorin präsentiert so einige Verdächtige, die es im Auge zu behalten gilt, so dass das Spannungsniveau immer weiter steigt.
Auch in dieser Handlung wird dem christlichen Glauben ein großer Stellenwert eingeräumt. Die sich kursiv abhebenden kleinen Gebete und Hilfegesuche passen sehr gut zur jeweiligen Situation und zur Verfassung des einzelnen. Hauptsächlich geht es aber darum, sich selbst zu lieben und sich zu verzeihen sowie sich zu öffnen und sich in Gottes Hand zu begeben, um sich durch ihn leiten zu lassen.
Die Protagonisten wurden von der Autorin weiter entwickelt und sind sehr lebendig gestaltet. Mit ihren Ecken und Kanten wirken sie sehr realistisch, so dass es dem Leser nicht schwer fällt, mit ihnen zu fühlen, zu fiebern und zu hoffen. Avery ist eine Frau, die in ihrer Vergangenheit auf die schiefe Bahn gelangt ist, doch noch rechtzeitig die Kurve gekriegt hat. Sie leidet immer noch darunter, wirkt zurückhaltend, zeigt aber auch ihre mutige Seite. Parker ist ein sympathischer Kerl, der sich gut in andere hineinversetzen kann. Dabei hat er eine sehr gefühlvolle Seite. Declan ist ein nüchterner Mann, den seine Gefühle überraschen. Er kann knallhart sein, hat aber einen weichen Kern, wenn es um die Frau seines Herzens geht. Aber auch Griffin, Tanner, Kate und Finley sind aus dieser Runde nicht mehr wegzudenken, sie alle ergänzen sich auf wunderbare Weise und machen die Lektüre so zu einem Erlebnis.
„Dein Blick so tot“ überzeugt nicht nur durch eine fesselnde und abwechslungsreiche Handlung, sondern verbindet auch Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt miteinander. Der Titel passt wie die Faust aufs Auge. Packende Unterhaltung von der ersten bis zur letzten Seite und mit einer absoluten Leseempfehlung ausgestattet!

Veröffentlicht am 29.06.2019

Es ist nie zu spät, neu anzufangen

Paulas erster Frühling
0

Paula lebt mit ihrem Ehemann Thilo an der Ostsee und führt mit ihm zusammen die Apotheke ihrer Eltern weiter. Die 16-jährige Tochter Katharina ist in einem Internat, kommt nur selten zu Besuch. Zwischen ...

Paula lebt mit ihrem Ehemann Thilo an der Ostsee und führt mit ihm zusammen die Apotheke ihrer Eltern weiter. Die 16-jährige Tochter Katharina ist in einem Internat, kommt nur selten zu Besuch. Zwischen Paula und Thilo herrscht Wortlosigkeit, von Liebe ist weit und breit nichts zu spüren, was Paula innerlich brodeln lässt. Doch dann schafft es Thilo, sie aus dem Konzept zu bringen, denn er zieht von jetzt auf gleich aus und lässt sie in dem gemeinsamen Haus, aber auch in der Apotheke allein zurück. Aus ihrer anfänglichen Verzweiflung holen sie vor allem ihre Mutter und 40-jährige Schwester Iris, die am Downsyndrom leidet. Paula hat ein besonders inniges Verhältnis zu Iris, die ihr immer wieder zeigt, dass man sich auch an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen kann. Nach und nach erwacht Paula wieder zum Leben, krempelt ihr Leben um, möchte sich als ausgebildete Schauspielerin noch einmal auf eine Bühne wagen und vor allem will sie ihr Herz endlich der Liebe öffnen. Da kreuzt der Tierarzt Hendrik ihren Weg…
Susanne Lieder hat mit „Paulas erster Frühling“ einen sehr unterhaltsamen und anrührenden Roman vorgelegt, der mit einem locker-flüssigen und gefühlvollen Schreibstil den Leser zu verzaubern weiß. Schon mit den ersten Seiten hängt man an Paulas Fersen, darf ihr durch den Alltag folgen und währenddessen ihre Gedanken- und Gefühlswelt lesen. Die Autorin lässt den Leser aber nicht nur an Paulas Gegenwart teilhaben, sondern mit geschickt platzierten Rückblenden auch Ereignisse aus der Vergangenheit erneut ans Tageslicht schlüpfen, um dem Leser nicht nur das besondere Verhältnis zwischen Paula und Iris zu verdeutlichen, sondern immer sehr passend zur jeweiligen Situation erklärend zu wirken. Besonders Iris sticht in diesem Roman hervor, die durch ihre kindliche Lebensfreude und Offenheit in jeder Lebenslage Wärme und Liebe ausstrahlt, was den Leser immer wieder aufs Neue berührt. Mit viel Empathie beschreibt die Autorin die Zweifel einer Frau mittleren Alters, die an einer Weggabelung steht und sich jahrelang viele Dinge versagt hat, um es anderen recht zu machen. Dass sie sich dabei fast selbst aufgegeben hat, lässt sie rebellieren, verzweifeln, denn Abschied nehmen tut weh. Aber sie wird langsam auch mutig, neue Wege zu gehen und sich endlich auf ihre eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren. Wie wichtig dabei gute Freunde und die Familie sind, wird in dieser Geschichte wunderbar deutlich. Sehr schön auch die Idee mit dem alten Brief, der nun zum Vorschein kam.
Die Protagonisten sind sehr liebevoll in Szene gesetzt und mit viel Leben versehen. Individuelle Eigenschaften verleihen ihnen einen sehr authentischen und realistischen Charakter, der Leser hat das Gefühl, einige von ihnen schon lange zu kennen. Gerade deshalb fühlt man sich in ihrer Mitte sofort wohl und als Teil von ihnen. Paula ist eine sympathische Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse viel zu lange verschlossen hat. Nun ist sie gezwungen, sich neu zu orientieren, was sie manchmal ängstlich, oftmals pragmatisch, aber dann auch mutig und stark wirken lässt. Paula entdeckt nach und nach, was sie unbedingt in ihrem Leben will und was nicht. Die Entwicklung ist sehr schön zu beobachten. Iris ist der eigentliche Star in dieser Geschichte, denn mit ihrer fröhlichen, offenen und liebevollen Art gewinnt sie das Herz des Lesers im Sturm. Sie hat sehr feine Antennen für ihre Mitmenschen, ist ohne Falsch und trägt ihr Herz auf der Zunge. Marie ist eine nette Frau, die von einer neuen Angestellten schnell zu einer tollen Freundin mutiert. Katharina ist für ihr Alter schon sehr erwachsen und hat ihre Eltern entlarvt, lange bevor es ihnen selbst bewusst wurde. Hendrik ist ein charmanter und offener Mann, der sofort einen Draht zu Paulas Herz hat. Aber auch Viola, Kriemhild und Thilo steuern ihren Beitrag bei, um die Handlung rundum gelungen wirken zu lassen.
„Paulas erster Frühling“ ist eine ehrliche und authentische Geschichte, wie sie jedem von uns passieren kann. Sehr gefühlvoll erzählt und jede Zeile wert, was eine absolute Leseempfehlung verdient.

Veröffentlicht am 29.06.2019

"Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen." (Hermann Hesse)

Der Club der Schwimmerinnen
0

Am Whitstable Beach von Kent treffen sich Deb und Maisie zum ersten Mal, denn beide eint ihre Liebe zum Schwimmen. Beide Frauen haben sich von ihren Ehemännern getrennt und gehen momentan durch eine schwierige ...

Am Whitstable Beach von Kent treffen sich Deb und Maisie zum ersten Mal, denn beide eint ihre Liebe zum Schwimmen. Beide Frauen haben sich von ihren Ehemännern getrennt und gehen momentan durch eine schwierige Lebensphase. Vor allem Deb sieht sich besonderen Herausforderungen gegenüber, denn nach vielen Ehejahren bleibt ihr nichts als in einer heruntergekommenen Wohnung zu leben und sich nebenbei etwas Geld zu verdienen. Nur das Schwimmen bei Flut im Meer bringt sie von ihren trüben Gedanken weg. Zu der Bekanntschaft mit Maisie kommen bald schon andere Frauen hinzu, mit denen der „Whitstable Hight Tide Swim Club“ gegründet wird. Als der Strand für den Bau einer Freizeitanlage gesperrt wird, beschließt der Club, alle Kräfte zu mobilisieren, um diesen Bau zu verhindern. Allerdings werden ihnen auch jede Menge Steine in den Weg gelegt, denn einige versprechen sich auch zusätzliche Einnahmen durch das neue Bauprojekt. Gelingt es dem Club um Maisie und Deb, ihren Strand zu retten?
Katie May hat mit „Der Club der Schwimmerinnen“ einen unterhaltsamen und tiefgründigen Roman vorgelegt, der den Leser mit einem flüssigen und teilweise humorigen Erzählstil schnell in die Handlung eintauchen lässt, um sich Deb‘ und Maisies Schwimmerclub anzuschließen und sich mit ihnen in die Fluten zu stürzen und viele interessante Charaktere kennenzulernen, die alle ihre Päckchen zu tragen haben. Die Autorin beschreibt mit viel Einfühlungsvermögen den Sprung ins kalte Nass bei Wind und Wetter, um sich eine Auszeit von den eigenen Problemen zu erkämpfen und den Kopf frei zu bekommen. Ebenso humorvoll wie souverän zeigt sie den Kampf zwischen David und Goliath auf, wenn die eingeschworene Clubgemeinschaft sich gegen die Lokalpolitik zu behaupten versucht. Die Liebe zum Schwimmen und ihrer Heimat verleiht ihnen nicht nur gute Ideen, sondern gibt ihnen auch Mut und Kraft, sich gegen Profitdenkende aufzulehnen. Auch die vielen unterschiedlichen Schicksale der Clubmitglieder gehen ans Herz und ringen dem Leser Respekt ab, wie die einzelnen Situationen gemeistert werden.
Die Charaktere sind sehr unterschiedlich gestaltet und wirken aufgrund ihrer individuellen Eigenschaften authentisch und wie aus dem wahren Leben gegriffen. So wird es dem Leser leicht gemacht, sich mit ihnen zu identifizieren, mit ihnen zu fühlen und sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Deb ist über 50 Jahre alt und steht nach einer gescheiterten Ehe vor dem Nichts. Zu Beginn wirkt sie verzweifelt und hoffnungslos, doch beim Schwimmen ist sie ein anderer Mensch. Im Verlauf der Geschichte wirkt sie immer stärker und kämpferischer, kann andere motivieren und befreit sich von ihren Altlasten. Maisie ist ebenfalls in der Mitte ihres Lebens angekommen, auch sie musste sich von ihrer Ehe verabschieden. Die Begegnung mit Deb zeigt ihr, dass sie nicht allein ist und lässt auch sie Tag für Tag wachsen für neue Aufgaben und Ziele, die das Leben für sie bereithält. Aber auch die weitere bunte Clubgemeinschaft gibt einen tiefen Einblick in verschiedenste Schicksale und bereichert die Handlung.
„Der Club der Schwimmerinnen“ ist ein rundum gelungener Roman, der sich mit dem Kampf des Alltäglichen, aber auch mit sich selbst und seinem Schicksal beschäftigt. Es geht um neue Freundschaften, neue Ziele und die Unterstützung innerhalb einer Gemeinschaft. Wunderbar tiefgründig und realistisch. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 23.06.2019

Emotionales Zeitzeugnis

Zeit aus Glas
1

1938. Die Reichskristallnacht lässt die 17-jährige Ruth Meyer und ihre Familie langsam erahnen, was ihnen als Juden in Deutschland bevorsteht. Die Anzeichen waren vorher schon da, doch das Leben wird für ...

1938. Die Reichskristallnacht lässt die 17-jährige Ruth Meyer und ihre Familie langsam erahnen, was ihnen als Juden in Deutschland bevorsteht. Die Anzeichen waren vorher schon da, doch das Leben wird für sie alle immer schwieriger, denn ihr geliebtes Krefelder Zuhause ist zerstört. Viel zu spät bemühen sie sich um eine Ausreise in die USA, sie haben eine Wartezeit bis 1941, doch was geschieht mit ihnen bis dahin? Werden sie dies gemeinsam durchhalten? Seit der verhängnisvollen Nacht ist Ruths Kindheit schlagartig vorbei. Als ihr Vater wegen angeblichem Schmuggel von den Nazis verhaftet wird und ihre Mutter in Lethargie verfällt, hängt es an Ruth, die Familie zu beschützen und Entscheidungen zu treffen. Ruth gelangt als Kindermädchen über Holland nach England und erlebt immer wieder eine Welle der Hilfsbereitschaft. Als ihr Vater nach Dachau überstellt werden soll, muss sie alle Hebel in Bewegung setzen, damit ihre Familie nach England einreisen darf…
Ulrike Renk hat mit „Zeit aus Glas“ eine fulminante Fortsetzung ihrer Familiensaga um die Krefelder Familie Meyer vorgelegt, der nahtlos an den ersten Band „Jahre aus Seide“ anknüpft und auf den echten Tagebuchaufzeichnungen von Ruth Meyer beruht. Die autobiographischen Züge sowie der gefühlvolle, bildhafte und flüssige Schreibstil der Autorin verleihen der Geschichte Lebendigkeit und eine gehörige Portion Realismus. An Ruths Seite erlebt der Leser das Grauen der Pogromnacht sowie die Hatz der Nazis auf die jüdische Bevölkerung und das von den Braunen gesäte Misstrauen innerhalb der Bevölkerung, wo ein Wort zu viel schon die Verhaftung oder den Tod bedeuten kann. Mit viel Einfühlungsvermögen verwebt die Autorin die dramatische Veränderung innerhalb Deutschlands mit ihrer Handlung und lässt den Leser eine Achterbahn der Gefühle erleben, während er bei der Lektüre um die Familie Meyer bangt und hofft. Im Anhang setzt die Autorin den Leser ins Bild über die fiktiven und tatsächlichen Anteile in ihrer Geschichte und macht auch deutlich, dass es durchaus auch viele Menschen gab, die sich gegen die Nazis gestellt und heimlich geholfen haben, um sich und ihre Familien nicht in Gefahr zu bringen, was von großem Mut zeugt und unser aller Respekt verdient.
Die Charaktere sind seit dem ersten Teil bereits liebgewonnene Freunde, denen die Autorin viel Leben eingehaucht hat. Sie wirken sehr präsent und realitätsnah, weshalb sich der Leser gut mit ihnen identifizieren und mitfühlen kann. Ruth hat sich von dem jungen Mädchen in einen Teenager gewandelt, deren Kindheit abrupt vorbei ist, als ihr Zuhause zerstört wird. Die Grausamkeit der Nazis und die dauerhafte Angst lassen sie ständig auf der Hut sein. Sie übernimmt Verantwortung für ihre jüngere Schwester Ilse und auch ihre Mutter Martha, die der Situation nicht mehr gewachsen ist und ihre Tochter zusätzlich zu ihrer eigenen Angst mit allem allein lässt. Gerade dies bringt sie dem Leser noch näher, denn Ruth unternimmt alles nur Menschenmögliche, um ihre Lieben zu retten. Mit Martha hadert man als Leser oft, denn eine Mutter sollte ihren Kindern Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, auch wenn die Zeiten schlecht sind, und sich nicht so gehen lassen. Hier zeigt sich allerdings, dass Martha keine Stärke und noch weniger Mut besitzt, um dies umzusetzen. Besonderes Highlight ist auch in diesem Buch wieder die Familie Aretz, die den Meyers in Freundschaft ergeben sind und sie in jeder Hinsicht unterstützen.
Mit „Zeit aus Glas“ zeigt die Autorin einmal mehr ihr großartiges Talent, autobiografischen Stoff mit Fiktion wunderbar zu verweben und den Leser in den Bann zu ziehen. Sehr empathisch erzählt, wird man automatisch zu einem Teil der Meyer-Familie und durchlebt bei dieser dramatischen Handlung das gesamte Gefühlsbarometer, wobei die Hoffnung immer mitschwingt, das alles doch noch gut ausgeht. Absolute Leseempfehlung für ein Stück Zeitgeschichte!