Profilbild von Dreamworx

Dreamworx

Lesejury Star
online

Dreamworx ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Dreamworx über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.09.2020

„Glücklich allein ist die Seele, die liebt.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Winterleuchten am Liliensee
0

1965. Lisa, vom Schicksal bereits oftmals gebeutelt, nimmt die Einladung ihrer vermeintlichen Patentante Charlotte Vogel an, die eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter war. So reist sie in den Schwarzwald ...

1965. Lisa, vom Schicksal bereits oftmals gebeutelt, nimmt die Einladung ihrer vermeintlichen Patentante Charlotte Vogel an, die eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter war. So reist sie in den Schwarzwald an den Liliensee, um Charlotte und deren Familie kennenzulernen und vielleicht auch einiges über ihre eigene Vergangenheit zu erfahren. Schon bald haben die Vogels die junge Frau ins Herz geschlossen, und Charlotte sieht in ihr bereits eine potentielle Ehefrau für einen ihrer drei Söhne. Einzig der älteste Sohn Robert hat seine Vorbehalte gegenüber Lisa und begegnet ihr mit Misstrauen. Bei einer gemeinsamen Bergtour werden Robert und Lisa von einem Schneesturm überrascht und können sich in eine Hütte flüchten, wo sie nun gemeinsam festsitzen…
Elisabeth Büchle hat mit „Winterleuchten am Liliensee“ einen zauberhaften und anrührenden Winterroman vorgelegt, der den Leser von der ersten Seite an zu fesseln weiß. Der flüssige, bildgewaltige und gefühlvolle Erzählstil der Autorin lässt den Leser in den malerischen Schwarzwald reisen, wo er sich an Lisas Fersen heftet und ihr Schicksal verfolgt. Die farbenfrohen Schilderungen der Landschaft lassen nicht nur wunderschöne Bilder vor dem inneren Auge des Lesers entstehen, sondern erwecken ebenso die Protagonisten zum Leben, die einem recht schnell ans Herz wachsen. Während sich die Gedanken- und Gefühlswelt der einzelnen Charaktere dem Leser offenbaren, nimmt er Anteil an ihrer Vergangenheit und hofft mit ihnen auf einen glücklichen Verlauf für die Zukunft. Gerade Lisas Schicksal lässt den Leser nicht kalt, hat sie die Liebe ihrer Mutter schon als junges Mädchen entbehren müssen. Einzig ihre Großtante Camille brachte Farbe in ihr trauriges Dasein und verhinderte so, dass ihre Verzweiflung überhandnahm, doch ein richtiges Familienleben hat Lisa nie gekannt. Bei den Vogels wird ihr das einmal mehr schmerzlich bewusst, gleichzeitig genießt sie den dort gelebten Zusammenhalt und das liebevolle Miteinander. Mit dem vom Schnee aufgezwungenen Hüttenaufenthalt lässt die Autorin zwei Welten aufeinander prallen, denn da ist einerseits Lisa, die sich nichts mehr wünscht als zu einer Familie zu gehören und die bedingungslose Liebe erleben zu dürfen, während Robert andererseits durch schlechte Erfahrungen keine Frau näher an sich heranlassen will. In der nun auferlegten Zweckgemeinschaft, bei der Großvater Johann wohl seine Hand im Spiel hatte, müssen sich die beiden vertrauen, vielleicht gelingt es ihnen sogar, sich einander zu öffnen. Wunderbar poetisch spinnt die Autorin ihre Fäden und setzt sie in Bildern zusammen.
Die Charaktere sind liebevoll und lebendig in Szene gesetzt, mit menschlichen Ecken und Kanten können sie den Leser schnell für sich einnehmen, da sie glaubwürdig und realistisch wirken. Der Leser findet sich schnell in ihrer Mitte wieder, hofft und fiebert mit ihnen gemeinsam. Lisa ist eine zutiefst verletzte junge Frau, die all ihre Gefühle in die Kunst legt, sie hat sonst niemanden, dem sie sich mitteilen kann. Zurückhaltend, aber auch mit Humor gesegnet erobert sie sich schnell einen Platz im Leserherz. Charlotte ist eine warmherzige und gewiefte Frau, die für all ihre Lieben nur das Beste will. Georg ist ein offener und fröhlicher junger Mann, während sein Bruder Robert eher griesgrämig und argwöhnisch durchs Leben geht. Opa Johann ist eine Seele von Mensch mit dem gewissen Schalk im Nacken und immer für eine Überraschung gut.
„Winterleuchten am Liliensee“ besticht mit einer wunderbaren gefühlvollen Geschichte, die den Winter einziehen lässt und das Leserherz für Besinnlichkeit öffnet, denn Hoffnung, Liebe und Zusammengehörigkeitsgefühl strahlen hell aus der Handlung hell hervor. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 06.09.2020

"Zu Münchens schönsten Paradiesen zählt ohne Zweifel seine Wiesn." (Eugen Roth)

Oktoberfest 1900 - Träume und Wagnis
0

Das 31-jährige Schankmädchen Colina hat vor ihrem gewalttätigen Ehemann Reißaus genommen und ihren Sohn Max bei Freunden untergebracht. Mit List und Tücke ergattert sie eine Anstellung beim fränkischen ...

Das 31-jährige Schankmädchen Colina hat vor ihrem gewalttätigen Ehemann Reißaus genommen und ihren Sohn Max bei Freunden untergebracht. Mit List und Tücke ergattert sie eine Anstellung beim fränkischen Bierbrauer Curt Prank als Gouvernante für dessen 19-jährige Tochter Clara. Prank möchte unbedingt auf dem Münchner Oktoberfest an Einfluss gewinnen und ein kürzlich erlassenes Gesetz umgehen, Clara soll seine Eintrittskarte sein und eine arrangierte Heirat eingehen. Aber Clara denkt gar nicht daran, sich verschachern zu lassen. Deshalb flieht sie aus dem elterlichen Haus, was einem Skandal gleichkommt, während Colina aufgrund der Vernachlässigung ihrer Pflichten ihre Anstellung verliert und sich erneut als Schankmädchen auf dem Oktoberfest verdingen muss…
Petra Grill hat mit „Oktoberfest 1900-Träume und Wagnis“ einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der für die gleichnamige ARD-Serie als Vorlage dient, die noch in diesem Jahr ausgestrahlt werden soll. Der flüssige und farbenfrohe Erzählstil lässt den Leser 120 Jahre zurück in die Vergangenheit reisen, um im damaligen München auf Colina zu treffen, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Die Autorin stellt ihre Ortskunde mit einigem Lokalkolorit sowie guter historischer Hintergrundrecherche unter Beweis, beides verleiht der Geschichte eine gewisse Authentizität. So gibt Grill einen guten Einblick in die damalige Münchner Gesellschaftsschichten und deren Arbeits- und Lebensbedingungen sowie über die politische Lage. Colina muss sich als Schankmädchen so einiges gefallen lassen, sexuelle Belästigung gab es auch damals schon, wurde allerdings damals nicht thematisiert. Frauen waren Freiwild, entweder als Kellnerin, die sich während ihrer Arbeit begrapschen lassen musste, aber auch als junge Frau, die sich den Plänen des Familienoberhauptes zu fügen hatte. Zudem bestand der Lohn der Schankmädchen nur aus dem erworbenen Trinkgeld, der Wirt zahlte ihnen nichts, was viele zu verzweifelten Taten trieb. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass auf dem Oktoberfest früher Wirtsleute mit Schanklizenz ihr Geschäft betrieben, die großen Brauereien allerdings nicht vertreten waren. Diese kauften nach und nach die Wirte auf, um deren Schanklizenzen für sich selbst zu nutzen und so das Oktoberfest nachhaltig zu verändern. Aus der damals gemütlichen Wiesn ist ein heute ein kommerzieller Riesenrummel geworden. Spannung erzeugt die Autorin nicht nur mit ihren lebhaften Protagonisten, sondern auch mit Todesfällen, die zu einiger Unruhe auf den Festwiesen führen. Mit wechselnden Perspektiven zwischen Colina und dem Polizisten Lorenz Aulehner wird nicht nur der Spannungsbogen immer weiter angehoben, sondern liefert dem Leser auch einen guten Einblick in die jeweilige Lebens- und Arbeitswelt.
Die Charaktere sind lebhaft und glaubwürdig zugeschnitten, ihnen wurde regelrecht Leben eingehaucht. Mit ihren menschlichen Zügen können sie den Leser schnell überzeugen, der sich ihnen gern anschließt. Colina hat das Herz am rechten Fleck, ist etwas ausgebufft, mutig und lässt sich so schnell nichts vormachen. Lorenz Aulehner ist ein ehrlicher, aufrichtiger Mann, der privat selbst seine Päckchen zu tragen hat. Clara ist eine verwöhnte junge Frau, die erst etwas naiv und weltfremd wirkt, um den Leser dann mit Stärke und Selbstbewusstsein zu überraschen. Aber auch Eder und Prank sowie einige andere tragen zum Unterhaltungswert der Handlung bei.
„Oktoberfest 1900-Träume und Wagnis“ ist ein unterhaltsamer historischer Roman angefüllt mit intriganten Machenschaften, Familiengeheimissen, Mord und viel Lokalkolorit, so dass der Leser sich auf einen interessanten Wiesnbesuch freuen kann. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 06.09.2020

"Die größten Menschen sind jene, die anderen Hoffnung geben können." (Jean Jaurès)

Am Himmel drei Sterne
0

Während des Zweiten Weltkrieges und auch in der Zeit danach wurden Kriegsgefangene und Angehörige von Minderheiten von den Russen in Arbeitslager deportiert, um dort zu arbeiten. So ergeht es im rumänischen ...

Während des Zweiten Weltkrieges und auch in der Zeit danach wurden Kriegsgefangene und Angehörige von Minderheiten von den Russen in Arbeitslager deportiert, um dort zu arbeiten. So ergeht es im rumänischen Siebenbürgen 1945 auch Selma, ihrer Schwester Irma und Freundin Gisela, als sich Rumänien den Alliierten anschließt und somit die Deutschen in ihrem Land zum Abschuss freigibt. Die drei jungen Frauen müssen eine furchtbare Reise unter menschenunwürdigen Bedingungen hinter sich bringen, in deren Folge Irma schwer krank wird. Selma hat Angst um Irma und versucht alles, um ihre Schwester zu beschützen. Sie hat nur einen Gedanken, sie müssen aus dem Lager fliehen, um zu überleben. Ein Russe namens Efrem unterstützt sie dabei...
Maya Freiberger hat mit „Am Himmel drei Sterne“ einen sehr berührenden Roman basierend auf Tatsachen aus dem eigenen Umfeld vorgelegt, der dem Leser ein weiteres düsteres Kapitel als Folge des Zweiten Weltkrieges vor Augen führt. Der flüssige, farbenfrohe und einfühlsame Schreibstil nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise, wo er an der Seite von Selma, Irma und Gisela das erschütternde Schicksal der Deportierten in den russischen Arbeitslagern hautnah miterlebt. Durch die bildhafte Erzählweise wird beim Leser ein sehr lebendiges Kopfkino in Gang gebracht. Die unmenschlichen Zustände in den russischen Gulags sowie die düstere und ausweglose Atmosphäre wirken erdrückend und machen regelrecht atemlos, während man sich selbst die Frage stellt, ob man solch ein Märtyrium durchgestanden hätte. Da flößt es einem geradezu Respekt ein, wie Menschen unter diesen Bedingungen durchhalten konnten, ihre Hoffnung bewahrten und vor allem auch den Mut fanden, sich gegen diese Zustände zur Wehr zu setzen, um endlich wieder frei zu sein, egal zu welchem Preis und auch andere dabei in ihre Gedanken miteinbezogen. Während der Lektüre wird der Leser durch eine Achterbahn der Gefühle geschickt und fragt sich dabei, wieviel Grausamkeit und Menschenverachtung man überhaupt überleben kann. Der Spannungsbogen zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte und wartet auch mit einigen Wendungen auf.
Die Charaktere sind liebevoll mit glaubwürdigen Eigenschaften ausgestattet und in Szene gesetzt, wodurch sie realistisch sowie lebendig wirken und dem Leser die Möglichkeit eröffnen, sich ihnen anzunähern und ihr Schicksal zu teilen. Selma ist eine starke und mutige junge Frau, die sich nicht unterkriegen lässt. Sie ist hilfsbereit, fürsorglich und vor allem mit einem gesegnet: unerschütterlichem Optimismus, der nicht nur ihr durch die schreckliche Zeit hilft. Irma ist eher zurückhaltend, zart besaitet und vor allem mit einer wenig robusten Konstitution geschlagen. Die Schwestern eint ein enges Band der Liebe. Aber auch Gisela, Efrem und Johannes sowie einige andere Protagonisten verleihen der Handlung mit ihren Auftritten Spannung und runden die Geschichte ab.
„Am Himmel drei Sterne“ ist eine Geschichte über den Überlebenskampf von zwei Schwestern und die Hoffnung, endlich in Freiheit leben zu können. Spannend mit viel Empathie und Gefühl erzählt, hält es die Erinnerung an die damals Geknechteten wach und lässt im Kopf des Lesers einmal mehr den Wunsch aufkommen, dass sich solche Dinge niemals wiederholen werden. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 06.09.2020

Zwei Seiten einer Medaille

Menschliche Dinge
0

2016. Der 70-jährige Politik-Journalist Jean Farel ist schon lange für seine TV-Sendungen berühmt und lebt mit seiner 27 Jahre jüngeren Ehefrau Claire, einer ebenfalls bekannten und nicht gerade öffentlichkeitsscheuen ...

2016. Der 70-jährige Politik-Journalist Jean Farel ist schon lange für seine TV-Sendungen berühmt und lebt mit seiner 27 Jahre jüngeren Ehefrau Claire, einer ebenfalls bekannten und nicht gerade öffentlichkeitsscheuen Feministin in Paris, während der 21-jährige Sohn Alexandre in Kalifornien an der Stanford Universität studiert. Während Jean bei einer exklusiven Abendveranstaltung vom französischen Präsidenten für besondere Verdienste den Orden der Ehrenlegion überreicht bekommt, feiert Alexandre mit Studienfreunden ausgelassen eine Party, die zur Folge hat, dass die Welt der Farels mit dem Auftauchen der Polizei vor ihrer Haustür am nächsten Morgen in Stücke fällt…
Karine Tuil hat mit „Menschliche Dinge“ einen intelligenten und hochspannenden Roman vorgelegt, in dem sie mit ihrer Geschichte die heutige Gesellschaft sehr genau und kritisch unter die Lupe nimmt und deren Eigenschaften wiederspiegelt. Angelehnt an die großen Sexismus-Skandale der Gegenwart wirkt die Handlung sehr glaubwürdig und gewährt dem Leser nicht nur Einblick hinter die Kulisse in das Gefüge der Familie mit all ihren Gedanken und Gefühlen, sondern auch in den sehr öffentlich ausgetragenen Umgang der Gesellschaft mit den Vorkommnissen. Dabei schwankt man als Leser immer zwischen zwei Seiten hin und her, denn aus der Sicht der Männer ist es neben Macht und Geld ein Spiel um Selbstgerechtigkeit und Selbstdarstellung, während es bei den Frauen oftmals Selbstbestimmung, verletzter Stolz oder auch verschmähte Liebe ist. Beide Seiten sind durch die Natur der Menschen durchweg nachvollziehbar, wenn auch nicht zu goutieren. Mit wechselnden Perspektiven gelingt es der Autorin, die unterschiedlichen Auffassungen des Vorfalls an den Leser zu bringen, der dazu „verdammt“ ist, selbst abzuwägen, auf welcher Seite er steht. Doch so einfach ist es dann doch nicht, denn aufgrund unserer jeweiligen Erziehung und Position in der Gesellschaft neigt man leider nur zu oft dazu, sich auf eine Seite zu schlagen und sich eine Meinung zu bilden, ohne der Gegenseite genug Gehör geschenkt zu haben. Gerade diese Tatsache führt dazu, dass ganze Existenzen allein auf Hörensagen zerstört werden und die Betroffenen fortan als personae non gratae in dieser Gesellschaft gelten. Tuil hat ihren Spannungsbogen gemächlich angelegt, zieht aber im Verlauf der Handlung die Fäden immer mehr an, so dass der Leser bis zum Ende an den Seiten klebt.
Die Charaktere sind sehr glaubwürdig und authentisch inszeniert, so dass sie wie aus der Realität gegriffen wirken. Jederzeit kann man als Leser auf sie treffen, ob sie einem sympathisch sind, ist eine andere Frage. Jean Farel hat sich sein Ansehen und Ruhm hart erarbeitet, was ihm eine gewisse Aura der Arroganz sowie Egoismus verleiht. Er fühlt sich überlegen und unantastbar, ist kein Kostverächter, denn das Eheleben mit Claire ist Fassade. Claire ist ebenfalls erfolgreich, doch wird sie am Ende ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, da sie zwar nach außen gepredigt, aber innerlich das Gegenteil getan hat. Alexandre ist ein intelligenter und fleißiger junger Mann, der dem Druck seiner Eltern gerecht werden möchte, doch seine Unsicherheit und Sensibilität ihm dabei im Weg stehen. Aber auch Mila und ihre Mutter sowie weitere Protagonisten runden mit ihren Auftritten diesen Roman ab.
Mit „Menschliche Dinge“ ist Karine Tuil eine meisterhafte Gesellschaftsstudie der heutigen Zeit in Romanform gelungen, die dem Leser noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Es gilt beide Seiten einer Medaille zu betrachten und Raum für Möglichkeiten miteinzubeziehen, bevor man vorschnell ein Urteil fällt. Die kontroverse Betrachtung des Umgangs zwischen Männern und Frauen ist heutzutage wichtig, um dauerhaft an sich zu arbeiten und Werte zu leben. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 05.09.2020

"Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme." (Friedrich Schiller)

Das Glück in vollen Zügen
0

Marie Brunner hat sich zusammen mit Hündin Dexter in einem Bauwagen mit Blick auf den Ammersee auf dem Grundstück ihrer Mutter eingerichtet, um einerseits unabhängig und andererseits in der Nähe ihrer ...

Marie Brunner hat sich zusammen mit Hündin Dexter in einem Bauwagen mit Blick auf den Ammersee auf dem Grundstück ihrer Mutter eingerichtet, um einerseits unabhängig und andererseits in der Nähe ihrer Mutter zu sein, die den Tod ihres Ehemannes noch nicht ganz verkraftet hat. Jeden Tag fährt Marie mit der S-Bahn nach München rein, um dort ihren Traumjob als Produktdesignerin auszuüben, was ihr eigentlich nichts ausmacht. Schrecklich nervig während der täglichen Fahrt ist nur der Typ, der mit seinen lautstarken Telefonaten immer den ganzen Wagon unterhält. Sein Job bei BMW lässt Johannes Schraml nicht viel Freizeit, nebenbei muss er sich noch um seinen 72-jährigen Vater Horst kümmern, der unter Alzheimer leidet und nicht mehr ganz allein zurechtkommt. Deshalb ist Johannes auch bei ihm eingezogen. Die Tussi, die ihn in der S-Bahn immer so grimmig ansieht, findet er eigentlich ganz niedlich, denn sie wäre genau sein Typ. Als sie plötzlich nicht mehr die tägliche Fahrt mit ihm teilt, steht Johannes vor der Frage, wie er sie finden soll, vielleicht über eine Dating-App?
Lisa Kirsch hat mit „Das Glück in vollen Zügen“ einen warmherzigen und tiefgründigen Roman als Debüt vorgelegt, der wie mitten aus dem Leben gegriffen wirkt. Der locker-flüssige, farbenfrohe und gefühlvolle Erzählstil mit einer Prise Witz lässt den Leser ab den ersten Zeilen zwischen den Seiten abtauchen und das Kopfkino anspringen, um Marie und Johannes durch ihren Alltag zu begleiten und ihnen bei ihrem Handeln und Tun über die Schulter zu sehen. Durch die wechselnden Perspektiven zwischen Johannes und Marie erhält der Leser ein gutes Gesamtbild sowie Einblick in die Gedanken- und Seelenwelt der Protagonisten. Interessant sind die Gedankengänge und Schlussfolgerungen der beiden, wenn der jeweils andere telefoniert und sie einige Bruchstücke der Gespräche erhaschen. Dies kann man tagtäglich selbst immer wieder beobachten auf dem Weg zur Arbeit. Die Menschen reden immer weniger miteinander, lieber starren und hacken sie auf ihren Mobilgeräten herum. Sowohl Marie als auch Johannes haben privat ihre Päckchen zu tragen, die sich in gewisser Weise sogar ähneln, denn beide kümmern sich liebevoll um die eigenen Eltern, was einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch nimmt. Da bleibt neben einem Job nicht viel Zeit für eigene Interessen oder Verabredungen, wobei sich Marie und Johannes doch mehrmals über den Weg laufen. Die anrührenden Szenen aus den beiden Leben gehen ans Herz, machen nachdenklich und lassen den Leser seitenlang hoffen, dass diese zwei Seelen endlich den Sprung wagen. Das Ende kommt leider etwas überhastet und lässt den Leser etwas überrumpelt zurück.
Die Charaktere sind mit individuellen Ecken und Kanten liebevoll und lebendig gestrickt, so dass sie wie Phoenix aus der Asche vor dem inneren Auge des Lesers erscheinen, der sich ihnen schnell annähert und mit ihnen bangt, hofft, zweifelt und fiebert. Marie ist mit ihren 31 Jahren eine offene und selbstbewusste Frau. Sie trägt das Herz auf der Zunge, ist freundlich, extrovertiert und hilfsbereit. Innerlich aber sehnt sie sich nach einer Schulter zum Anlehne und jemanden, der ihre Sorgen mit ihr teilt. Johannes ist fleißig, fürsorglich, eher zurückhaltend und hat zu viel Respekt vor der eigenen Courage. Aber auch die Eltern, Freunde und Nachbarn der beiden bringen frischen Wind in die kurzweilige Geschichte.
„Das Glück in vollen Zügen“ ist ein unterhaltsamer Liebesroman, der sich durch die Probleme seiner Protagonisten ganz nah am heutigen Zeitgeist orientiert und deshalb sehr realitätsnah und authentisch wirkt. Ein schönes und abwechslungsreiches Kopfkino mit verdienter Leseempfehlung!