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Veröffentlicht am 21.04.2022

Freundschaft ist ein Rätsel und eine Kraft

Ein Wochenende
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Ein Wochenendhaus an der Küste Australiens ist seit Jahrzehnten der Treffpunkt von vier unterschiedlichen Freundinnen. Jetzt ist eine gestorben und die drei anderen treffen sich dort ein letztes Mal, um ...

Ein Wochenendhaus an der Küste Australiens ist seit Jahrzehnten der Treffpunkt von vier unterschiedlichen Freundinnen. Jetzt ist eine gestorben und die drei anderen treffen sich dort ein letztes Mal, um das kleine, etwas heruntergekommene Häuschen auszuräumen. Dabei entledigen sie sich nicht nur des alten Gerümpels, sondern auch einiger Lebenslügen und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.

Charlotte Wood schreibt schonungslos über das Altwerden, indem sie den drei Protagonistinnen Jude, Wendy und Adele extrem nahe kommt; keine Runzel, kein Fettpölsterchen, kein Wehwehchen und kein ungepflegter Fuß bleiben unkommentiert. Was einerseits etwas übertrieben oft dargestellt wird, ist andererseits auch das große Plus des Romans, nämlich die detailreichen Schilderungen, dieses genaue Hinsehen. Dabei bleibt es nicht bei den Äußerlichkeiten, auch das Innenleben der einst erfolgreichen Theaterschauspielerin Adele, der intellektuellen Wendy und der durchorganisierten ehemaligen Restaurantleiterin Jude werden haarklein auseinandergenommen. Als Ersatz für die verstorbenen Sylvie hat Wendy ihren altersschwachen Hund Finn dabei, fast taub, blind und inkontinent. (Er muss ein bisschen oft als Gag-Moment herhalten.) So denkt Wendy über die kleine Truppe auch als die "drei - vier - hinfälligen, gequälten Kreaturen im Sand" (S. 154). Durch den Tod Sylvies gerät das fragile Gefüge der Freundinnen durcheinander und es kommen Lügen und unterdrückte Gefühle an die Oberfläche, dass es nur so kracht.

Auf engstem Raum, eben jenem Strandhaus, und mit nur wenig Personal beschreibt Wood was Freundschaft ausmacht, mal sympathisch schelmisch, mal gnadenlos direkt.

Ich habe das Buch gerne gelesen, hätte mir aber mehr humorvolle Momente gewünscht. Die gab es auch, aber sie wurden von den wenig erfreulich geschilderten Aussichten auf das Altwerden überlagert. Die facettenreichen Charaktere haben mir gut gefallen. Jede der drei Frauen hat ein spannendes Leben von über 70 Jahren bereits hinter sich und die Frage ist, was bleibt, wenn nicht Freundschaft?

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Veröffentlicht am 18.04.2022

Eine Form der Unsterblichkeit

Der große Fehler
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New York hat einem einzigen Mann viel zu verdanken: u.a. den Central Park, den Bronx Zoo, die Public Library und das Metropolitan Museum of Modern Art. Dabei wurde Andrew Green als Kind eines armen Farmers ...

New York hat einem einzigen Mann viel zu verdanken: u.a. den Central Park, den Bronx Zoo, die Public Library und das Metropolitan Museum of Modern Art. Dabei wurde Andrew Green als Kind eines armen Farmers geboren, arbeitete als Verkäufer in einem kleinen Laden und auf Trinidad für einen Zuckerrohrplantagenbesitzer. Schließlich wird er mit 83 Jahren vor seinem Wohnhaus in New York erschossen. Ein umtriebiges Leben, das auf fatale Weise endet.

Jonathan Lee hat Andrew Green ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Bisher sind die öffentlichen Gedenkstätten eher spärlich gesät, angesichts seiner immensen Leistungen.

Lee läßt uns an Greens Leben in blumigen, ausschweifenden und kunstfertigen Sätzen teilhaben. Dabei fokussiert er sich sehr oft auf die Innenansicht des Protagonisten und weniger auf sein äußerliches Leben. Fast wie eine Marotte erscheint die Vorliebe des Autors für die dreifache Wiederholung eines Wortes oder einer Wortfolge (Epizeuxis), dieses Stilmittel verwendet er auffallend häufig. Auch kommt das Buch ohne Anführungszeichen in der wörtlichen Rede aus, was zunächst etwas gewöhnungsbedürftig ist. Die Sprache des Romans entschädigt aber für diese "Mankos".

Green ist von Beginn an ein Charakter, der in allem Potential und Verbesserungsmöglichkeiten sieht. Zielstrebig verfolgt er sein Begehren, ein Gentleman in New York zu werden, nicht ohne die eine oder andere List anzuwenden oder sich zu verstellen. Seine homosexuelle Neigung stürzt ihn mehrfach in Krisen und bestimmt in weiten Strecken sein Leben. Seine Haushälterin Mrs. Bray ist mir der liebste Charakter, gewitzt und zupackend. Die Figur des Inspector McClunsky, der den Mord an Green aufklären soll, kann ich nicht richtig greifen, sie erscheint mir etwas wirr. Die Spannung zieht das Buch nicht aus dem Krimianteil, also dem Tod des Protagonisten, sondern aus seinem ungewöhnlichen Leben. Und das wäre auch der größte Kritikpunkt, denn das kommt meines Erachtens zu kurz. Über die bedeutenden Projekte hätte ich gerne mehr erfahren, denn die Schnipsel und Szenen, die der Autor uns zuwirft, sind wirklich unglaublich interessant.

Die Kapitelüberschriften des Buches sind übrigens die Namen der Tore des Central Parks, immer auch mit einer inhaltlichen Entsprechung, das ist sehr schön gemacht. Das Cover-Motiv des Elefanten findet seinen Bezug im Roman zu Inspector McClusky. Der Titel des Buches wird mehrfach im Text erwähnt und läßt sich auf unterschiedliche Art deuten, auch dies ein bemerkenswerter Aspekt des Romans.

Insgesamt ein Roman in einer eigenwilligen, blumigen Sprache, die Atmosphäre erzeugt. Wie unter einem Brennglas werden einzelne Lebensepisoden des Protagonisten sehr detailliert geschildert, die für die Entwicklung der Person relevant sind. Bei den Nebenfiguren war das gelegentlich etwas viel. Mir scheint, dass das hektische Großstadtleben mit seinen vielen verschiedenen Facetten hier abgebildet werden soll, so wie Green einst mit den Tornamen des Central Parks die Facetten der Stadt abbilden wollte.

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, hätte mir aber mehr Informationen zu den interessanten Bauprojekten Greens gewünscht. Für alle New York Fans ist das Buch ohne Frage ein Gewinn.

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Veröffentlicht am 31.03.2022

Schlaflosigkeit, Narkose und Tagebücher

Eine Art Familie
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Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren ...

Anker im sturmgepeitschten 20. Jahrhundert ist die Hausgemeinschaft von Ludwig Lendle, seinem Patenkind Alma Grau (fast gleichaltrig) und der Haushälterin Fräulein Gerner. Mit ihnen streifen wir die Wirren der beiden Weltkriege, die Teilung Deutschlands und die Errungenschaften der Pharmakologie.

In kurzen Kapiteln und kleinen Szenen wird das Leben von Waisenkind Alma, die ihren Patenonkel Professor Lud Lendle ebenso heimlich liebt, wie sie heimlich seine Tagebücher liest, ebendiesem und dem Fräulein mit den geschichtlichen Ereignissen in Deutschland höchst geschickt verflochten. Dabei schimmert vieles oft nur durch, wird angedeutet oder in einem Nebensatz "versteckt". Die Dialoge und Gedanken der Personen werden eher nüchtern dargestellt, allerdings hat der Autor einen ganz eigenen Ton gefunden. Oft kurze, knackige Sätze, durchsetzt mit Witz und Ironie, Melancholie und treffenden Beschreibungen. Das liest sich fast durchgängig ganz leicht, verleitet aber dazu, die vielen klugen Sätze zu schnell zu lesen.

"Die Zeit flatterte an ihm vorüber, während er selbst stehen zu bleiben schien. Sein Leben, so viel war ihm mittlerweile klar, würde langsamer verstreichen, wenn er mehr erlebte. Dafür aber hätte man sich getrauen müssen, das Leben auf sich wirken zu lassen. Sich herzuschenken, es so tief zu inhalieren, dass es einen berührte. Er dagegen atmete flach hindurch." (S. 178)

Lud ist fasziniert vom Schlaf und fokussiert seine Forschungstätigkeit ganz auf den künstlichen Schlaf, die Narkose. So lenkt er sich ab, von der Person, an die er immer wieder denken muss. Alma sucht derweil im Wald, was sie von Lud nicht bekommen kann. Dann gibt es noch Luds Bruder Wilhelm und dessen Familie, aber dem Professor ist seine kleine WG näher. Am Küchentisch wird über Jahrzehnte politisches, persönliches und wissenschaftliches Geschehen diskutiert.

Erstaunlicherweise hatte ich bisher nichts von diesem Buch gehört. Wenn man sich ein wenig in diesen besonderen Sprachstil eingelesen hat, ist es ein Vergnügen. Ich wünsche dem Buch von Herzen noch viele Leser*innen.

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Veröffentlicht am 25.03.2022

Wie die Welt langsam verschwindet

Insel der verlorenen Erinnerung
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Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung ...

Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung daran. Es ruft keine Gefühle hervor, wenn Glöckchen, Bänder oder Briefmarken, Rosen, bestimmte Tiere oder gar Fotografien verschwinden. Nur wenige haben die Fähigkeit, die Erinnerung an diese verschwundenen Dinge zu bewahren. Diese Menschen sind das erklärte Ziel der Erinnerungspolizei, die immer häufiger, öffentlicher und brutaler auf die Suche nach diesen Personen geht. Wer Glück hat, findet einen Mutigen, der ihn versteckt. So findet der Verleger R Unterschlupf bei einer seiner Autorinnen, die bereits ihre Mutter an die Erinnerungspolizei verloren hat. Unaufhaltsam werden die Dinge auf der Insel weniger, das Überleben schwieriger.

In einer sehr poetischen, sanften, leisen und höflichen Sprache werden diese schlimmen Ereignisse, denen sich die Menschen scheinbar willenlos fügen, von der Protagonistin, eben jener namenlosen Romanautorin, aus der Ich-Perspektive erzählt. Die handelnden Charakter sind übersichtlich. Es sind drei Personen, die die Geschichte tragen. Neben der Autorin und ihrem Verleger gibt es noch einen alten Mann, der den beiden anderen hilft und mir während des Lesens besonders ans Herz gewachsen ist. Die Lebensumstände verarbeitet die Protagonistin in ihren Romanen. Ihre Texte sind Metafiktion in Ogawas Roman. Diese Textpassagen sind zunächst banal, entwickeln sich aber in eine bedrohliche Richtung, die immer mehr die Realität abbilden.

Die Geschichte handelt vom Verschwinden und Erinnern, vom Eingesperrtsein und der Hoffnung. Anspielungen finden sich nicht nur auf die NS-Diktatur, sondern auch z.B. auf "1984" von Orwell. Ogawas Roman läßt einen verstört zurück, regt aber auch unbedingt zum Nachdenken an. Nichts für ein lauschiges Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 13.03.2022

Staub soweit das Auge reicht

Die vier Winde
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Elsa, von jeher wegen ihrer zarten Natur von der Familie in die Schranken gewiesen, heiratet unter ihrem Stand einen jungen italienischstämmigen Mann. Fortan lebt sie mit ihm auf der Farm seiner Eltern, ...

Elsa, von jeher wegen ihrer zarten Natur von der Familie in die Schranken gewiesen, heiratet unter ihrem Stand einen jungen italienischstämmigen Mann. Fortan lebt sie mit ihm auf der Farm seiner Eltern, die es durch viel Fleiß und harte Arbeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht haben. Doch die guten Jahre der 1920er in Texas sind irgendwann zu Ende. Die einst herrlichen und ertragreichen Weizenfelder sind nur noch staubige Ebenen. Es wird ein furchtbares Jahrzehnt werden, in dem sehr wenig Regen fällt. Täglich kämpft Elsa mit ihrer Familie um das Überleben, um genug Nahrung, Wasser und Schutz vor den alles verschlingenden Sandstürmen.

Kristin Hannah zeichnet an Elsa das Schicksal der Menschen in der Dust Bowl in den 1930er Jahren nach. Neben der Weltwirtschaftskrise machten die Trockenheit und die Sandstürme in den Great Plains aus hunderttausenden von Amerikanerinnen und Amerikanern bettelarme Menschen. Eine riesige Gruppe von Wanderarbeitern entstand, die ihr Glück in Kalifornien suchte. Die unglaubliche Naturkatastrophe und das daraus resultierende Leid schildert Hannah ebenso eindringlich wie das erniedrigende Leben als Wanderarbeiter*in auf der Suche nach einem Job, um nicht zu verhungern.

Die Handlung begann für mich etwas klischeehaft und seicht. Als aber die schweren Zeiten hereinbrachen, hat die Geschichte eine große Sogkraft entwickelt. Diese Schilderungen fand ich sehr gelungen, auch wenn mir die Protagonistin nicht ans Herz gewachsen ist und ich mich ihr nicht nahe gefühlt habe. Das Elend, der Kummer um das verlorene Land und die Tiere, die Demütigungen als besitzlose Menschen und das Ausbeutertum der Plantagenbesitzer in Kalifornien werden schonungslos aufgezeigt. Einige historische Details kannte ich bereits, vieles war mir aber auch neu.

Mir hat das Buch wirklich gut gefallen. Die Handlung entwickelt sich und läßt die Leser nicht mehr los. Eine wohl verpackte Geschichtsstunde, die aufrüttelt und obwohl die Ereignisse fast 100 Jahre zurückliegen, hochaktuell ist. Es geht um selbstgemachte Katastrophen, Gier, Flucht und wie mit Menschen umgegangen wird, die alles verloren haben. Es geht aber auch um Freundschaft in schwierigsten Zeiten und helfende Hände, vor allem aber um die Frauen, die große Stärke beweisen und schier Übermenschliches leisten, um ihre Familien zu retten.

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