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Veröffentlicht am 21.08.2023

Das grüne Haus und seine Gespenster

Das achte Leben (Für Brilka)
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Die Autorin spiegelt anhand einer Familiengeschichte über mehrere Generationen die historischen Ereignisse das 20. Jahrhunderts in Georgien wider. Aus der Ich-Perspektive schreibt Niza (aus der vorletzten ...

Die Autorin spiegelt anhand einer Familiengeschichte über mehrere Generationen die historischen Ereignisse das 20. Jahrhunderts in Georgien wider. Aus der Ich-Perspektive schreibt Niza (aus der vorletzten Generation) über ihre georgische Familie und beginnt mit ihrer im Jahre 1900 geborenen Urgroßmutter Stasi bzw. deren Vater, dem Schokoladenfabrikanten. Immer wieder tritt Niza als Autorin hervor und spricht im Text ihre Nichte Brilka an. Am Ende erklärt sie, warum das so ist und es ist eine zu Herzen gehende "Auflösung". Es ist unglaublich, mit welcher Wucht Haratischwili die Familie entstehen und uns an deren Leben teilnehmen lässt. Was für eine Fantasie! Was für Figuren! Wie unglaublich traurig, dramatisch und fatal (fast schon katastrophal) sind die Biografien jedes einzelnen Familienmitgliedes. Großartig ist die Geschichte Georgiens und damit auch die Geschichte Russlands in diesen Roman eingebunden und die Familie Jaschi (und andere) arbeiten sich an dieser Geschichte ab. Immer in der Hoffnung, dass nun alles besser wird, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Auf jeden Erfolg folgt der um so tiefere Fall.

Der Roman nimmt uns mit auf eine unglaublich interessante Zeitreise, mit wahnsinnig spannenden Charakteren. Ich habe das Buch sehr, sehr gerne gelesen, das mit 1.278 Seiten natürlich schon ein stabiles Werk ist. Es war fast wie eine TV-Serie, in die man immer wieder lesend eintauchen konnte. Etwas gelähmt haben mein Lesevergnügen die Wiederholungen in der Familiengeschichte, da musste ich immer mal wieder überlegen, in welcher Generation ich mich jetzt befinde. Sehr hilfreich ist der Stammbaum am Ende des Buches. Eine klare Leseempfehlung für alle, die die Seitenzahl nicht abschreckt.

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Veröffentlicht am 21.08.2023

Der gestohlene Kessel

Marschlande
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"Wie bin ich hier eigentlich hineingeraten?" (S. 316) Anhand von zwei Frauenschicksalen, die Jahrhunderte auseinanderliegen, führt uns die Autorin vor Augen, was sich seit dem 16. Jahrhundert in Bezug ...

"Wie bin ich hier eigentlich hineingeraten?" (S. 316) Anhand von zwei Frauenschicksalen, die Jahrhunderte auseinanderliegen, führt uns die Autorin vor Augen, was sich seit dem 16. Jahrhundert in Bezug auf Gleichberechtigung bis in unsere Zeit verändert hat - oder nicht.

Abelke Bleken, einst eine selbstbewusste, reiche Bäuerin mit eigenem Hof, endet als Hexe "überführt" auf dem Scheiterhaufen. Gemeinsam mit Britta, die gerade erst mit ihrer Familie in das Hamburger Marschland gezogen ist, erfahren wir immer mehr über das Schicksal von Abelke. Britta hadert mit ihrer verpassten Unikarriere, dem ständig abwesenden Ehemann, dem modernen Haus (neben all den alten Bauernhäusern), den Kindern und diesem unwirtlichen Landstrich, den sie sich völlig anders vorgestellt hat. Je mehr Britta über Abelkes Leben herausfindet, desto mehr scheint sich auch ihr eigenes zu verändern.

Jarka Kubsova hat ein Buch geschrieben, das mich von Beginn an gefangen genommen hat. Die Schilderung des bäuerlichen Lebens im 16. Jahrhundert, die Lebensgeschichte von Abelke Bleken ist ihr glänzend gelungen und lässt diese entbehrungsreiche Zeit lebendig werden. Der schleichende Prozess, den die Bäuerin von der Hofbesitzerin zur Hexe durchmacht, ist absolut nachvollziehbar dargestellt. Gleichzeitig ist die Rahmengeschichte um Britta sehr schön konstruiert. Auch wenn diese Figur einige Stereotype enthält, habe ich mich in so manchem Gedanken von Britta wiedergefunden. Die Verbindungen, die die Autorin zwischen diesen Frauen zieht, die Parallelen, die aufscheinen, machen mehr als nachdenklich. In sich abwechselnden Kapiteln aus der frühen Neuzeit und der Gegenwart entwicklen sich diese zwei Leben.

Abelke Bleken hat es wirklich gegeben und die bisherigen Forschungsergebnisse zu ihrer Person haben Kubsova zu ihrer Figur Abelke inspiriert. Vieles wurde nicht überliefert und Leerstellen mussten durch die Fantasie gefüllt werden, aber durch die erhaltenen Gerichtsakten war ein stabiler Untergrund vorhanden. Das überaus interessante Nachwort macht noch einmal deutlich - auch schon im Roman selbst thematisiert - , wie viele Frauen, die etwas Außergewöhnliches geleistet haben, in Vergessenheit geraten sind. Wie wichtig es ist, über sie zu forschen und ihnen ein angemessenes Andenken zu Teil werden zu lassen. Nicht bewusst waren mir die Zusammenhänge zwischen dem aufkommenden Kapitalismus und der Herabwürdigung der Frauen. Ein sehr spannendes feministisches Thema.

Besonders gefreut habe ich mich, dass ich den Lorscher Bienensegen nach meinem Studium nochmal gedruckt gesehen habe. Insgesamt waren die historischen und bauhistorischen Elemente sehr gut recherchiert und im Text eingebaut. Mir hat dieses sehr einfühlsam geschriebene Buch wirklich gut gefallen. Es wird mich noch einige Zeit beschäftigen. - Was es mit dem gestohlenen Kessel auf sich hat? Lest es einfach nach.

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Veröffentlicht am 20.06.2023

Am Rande des Dorfes

Die Bagage
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Die Familie Moosbrugger lebt auf der sonnenabgewandten Seite des Tals, ganz am Ende, weit weg von der Dorfgemeinschaft. Die wunderschöne Maria bleibt mit ihren Kindern allein, als ihr Mann Josef in den ...

Die Familie Moosbrugger lebt auf der sonnenabgewandten Seite des Tals, ganz am Ende, weit weg von der Dorfgemeinschaft. Die wunderschöne Maria bleibt mit ihren Kindern allein, als ihr Mann Josef in den Krieg ziehen muss. Der Bürgermeister soll auf die Maria Acht geben, während der Josef fort ist. Aber auch er kann mit dieser Schönheit einfach nicht umgehen. Einzig ihre Kinder halten zu Maria und besonders Sohn Lorenz kümmert sich und beschützt Mutter und Geschwister. Eines Tages kommt Georg aus Hannover ins Dorf und auf den Hof der Moosbruggers. Eifersüchteleien und Gerede stürzen die Familie weiter ins Abseits. Als Maria Grete zur Welt bringt, ist für alle klar, dass das Kind nur von Georg sein kann und nicht von Josef, der mehrmals auf Heimaturlaub da war. So wird Grete, die Mutter der Autorin, zu einem Kind, das der Vater nicht als das eigene ansieht, das er wortwörtlich gar nicht ansieht.

Monika Helfer hat die Geschichte einer im Abseits stehenden und lebenden Familie geschrieben, es ist in weiten Züge ihre eigene Geschichte. Karg, wie die Bergwelt und auf das Nötigste beschränkt, erzählt sie vom Leben in einem engen Tal, in dem ihre Familie nur die "Bagage" ist. Die Autorin trägt diese "Bagage", diese Gepäck, diese Familiengeschichte mit sich herum und schreibt sie erst mit über 70 Jahren auf. Der Schreibstil ist spröde, es gibt Zeitsprünge, plötzlich Bezüge zur Gegenwart und die Autorin tritt selbst immer mal wieder als erzählende Figur in ihrem Roman auf. Den tapferen kleinen Lorenz mochte ich sehr. Der Bürgermeister und noch mehr der Pfarrer sind einfach nur furchtbare Charaktere, die besonders deutlich machen, was die Familie von der Dorfgemeinschaft insgesamt zu erwarten hat.

Das ist kein Wohlfühlbuch, sondern die traurige Geschichte einer Familie, die mir sehr nahe gegangen ist

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Veröffentlicht am 26.05.2023

Kleinstadtstudie, Krimi und Schreibkurs

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
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1975 verschwindet in der Kleinstadt Aurora die 15-jährige Nola Kellergan spurlos. Dreiunddreißig Jahre später: Marcus Goldman, Schriftsteller in einer Schaffenskrise, besucht seinen früheren Dozenten und ...

1975 verschwindet in der Kleinstadt Aurora die 15-jährige Nola Kellergan spurlos. Dreiunddreißig Jahre später: Marcus Goldman, Schriftsteller in einer Schaffenskrise, besucht seinen früheren Dozenten und engen Freund Professor Harry Quebert, seinerseits unumstrittener Starschriftsteller, in Aurora. Kurz darauf werden in Harrys Garten die sterblichen Überreste von Nola gefunden. Skandal! Die beiden sollen eine Beziehung gehabt haben. Harry wandert in Untersuchungshaft, verliert seine Reputation, seinen Job und alle halten ihn für schuldig. Einzig Marcus will dies nicht wahrhaben und betätigt sich als Ermittler. Gemeinsam mit Sergeant Perry Gahalowood dreht er in Aurora alles auf den Kopf und überwindet zudem seine Schaffenskrise.

Das waren 725 Seiten super Unterhaltung. Dicker hat eine Vorzeigekleinstadt an der Ostküste geschaffen, die von einem Skandal erschüttert wird und nicht nur Harry in den Abgrund reißt. Nach und nach reißen die Fassaden ein und man schlittert als Leserin von einer Ohnmacht in die nächste. Die Story ist schlau aufgebaut und schlägt reichlich Haken. Dicker versteht es, die Figuren sehr lebendig zu schildern. Es ist, als würde man sich mit den Charakteren in Aurora bewegen, ins Clark's gehen, wo Harry seinen berühmten Roman schrieb oder auf der Terrasse der Schriftstellervilla sitzen und auf das Meer schauen. Der Autor schreibt sehr dicht, ausführlich und dennoch war keine Seite zu viel. Der Aufbau des Buches hat mir sehr gefallen. Die 31 Ratschläge für ein gutes Buch, die Harry einst seinem Schüler Marcus gab, bilden die Kapitel des Buches, sie laufen allerdings rückwärts, die erste Lektion kommt ganz am Ende. Denn gleichzeitig mit dem Fortgang der Geschichte wird auch ein Buch geschrieben, nämlich "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert". Da kann man noch was lernen. So heißt z.B. die Lektion für das erste Kapitel (Kapitel 31): "Das erste Kapitel, Marcus, ist entscheidend. Gefällt es den Lesern nicht, werden sie Ihr Buch nicht weiterlesen." Es hat mir gefallen, ich habe weitergelesen und es nicht bereut. Jetzt weiß ich u.a. auch, warum Verhafteten in den USA ihre Rechte vorgelesen werden müssen. Das steht auf Seite 56. Immer wieder wird in Rückblicken die Vergangenheit der Figuren näher beleuchtet und langsam fügen sich die einzelnen Puzzleteile zusammen und die Sicht auf einige Figuren verändert sich erheblich. Der Roman hat für mich eine Sogwirkung gehabt und ich habe ihn sehr schnell durchgelesen.

Ich freue mich auf den zweiten Teil, der zehn Jahre nach "Harry" im Juni erscheinen wird.

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Veröffentlicht am 15.05.2023

Der Sturm im Reagenzglas

Eine Frage der Chemie
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Im Klappentext heißt es: "Elizabeth Zott ist vergesslich, und ihre Geschichte entlässt uns mit einem Lächeln aus diesem Roman." Nein, so ist es nicht, denn ich habe am Ende auch ganz schön geheult. Hiermit ...

Im Klappentext heißt es: "Elizabeth Zott ist vergesslich, und ihre Geschichte entlässt uns mit einem Lächeln aus diesem Roman." Nein, so ist es nicht, denn ich habe am Ende auch ganz schön geheult. Hiermit reihe ich mich ein in den Strom der Zott-Fans und ich tue es so gerne. Ein wunderbares Buch, so witzig und so traurig. Das ist einfach eine ganz tolle Lektüre, die uns den Spiegel vorhält, wie unsagbar schwer es Frauen hatten, in der Wissenschaft (und in anderen Bereichen) voranzukommen und ernst genommen zu werden. Man hängt an den Lippen der Protagonistin, die eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechtes einfach nicht hinnehmen will und kann kaum glauben, was ihr alles widerfährt und welche Rückschläge sie hinnehmen muss. Von der erfolgreichen Wissenschaftskarriere als herausragende Chemikerin bleibt ihr letztlich der Brotjob als Moderatorin einer halbstündige Kochsendung am Nachmittag - aber was für eine halbe Stunde. Da Kochen auch viel mit Chemie zu tun hat und es heißt Chemie ist Veränderung, geht für Elizabeth diese geforderte Veränderung natürlich weit über das Zubereiten von Mahlzeiten hinaus.

Nicht nur eine großartige, liebenswerte, streitbare und intelligente Protagonistin hat Garmus hier in die Welt geschickt, sondern auch einen Haufen toller Nebencharaktere, die die Geschichte bereichern, spannend und lebendig machen. Mit Nachbarin Harriet und "Kollegin" Miss Frask wird ebenfalls aufgezeigt, wie sich die Frauen zu Beginn der 60er Jahre unterzuordnen hatten, beruflich und privat. Walter, der TV-Produzent der Kochsendung, ist mir der liebste Nebencharakter, seine Zusammentreffen mit Elizabeth sind der klassischen Screwball-Komödie entliehen. Seine Verzweiflung, wenn die von ihm angeworbene Forscherin das gesamte überflüssige Inventar der Fernsehküche an das Studiopublikum verschenkt oder sich nicht an die Texte der Tafeln hält, ist einfach köstlich. Insgesamt ist die Geschichte unheimlich flott, witzig und ironisch geschrieben, mit sehr gelungenen Dialogen. Oft bleibt einem aber auch das Lachen im Halse stecken, wenn die unhaltbaren Zustände geschildert werden, die der weibliche Teil der Gesellschaft damals einfach hinnehmen musste. Mir gefällt auch die Konstruktion der Geschichte, das Vor- und Zurückspringen in der Handlung, so bleibt zunächst einiges ungesagt, die Neugierde aufrechterhalten und erst am Ende klärt sich alles auf.

Lest das Buch und nehmt auch teil am Chemieunterricht von Elizabeth Zott, man lernt für's Leben und überlegt, mit dem Rudersport zu beginnen oder seinen Hund auch Halbsieben zu nennen.

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