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Veröffentlicht am 28.02.2025

Eine gute Idee, aus der man mehr hätte machen können

Mickey und Arlo
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Michelle, genannt "Mickey", und Charlotte, genannt "Arlo" sind Halbschwestern, die sich nicht kennen. Mickey ist die ältere, sie hat mit ihrer Mutter und ihrem Vater einige schöne und viele schlimme Momente ...

Michelle, genannt "Mickey", und Charlotte, genannt "Arlo" sind Halbschwestern, die sich nicht kennen. Mickey ist die ältere, sie hat mit ihrer Mutter und ihrem Vater einige schöne und viele schlimme Momente erlebt - denn der Vater ist Alkoholiker und unter Alkoholeinfluss zeigt er ein anderes Gesicht und wird zum "Angry Dad", der Frau und Tochter demütigt und beschimpft. Als Mickey etwa sieben Jahre alt war, hat der Vater die beiden von heute auf morgen für immer verlassen und ihnen dabei einen Riesenberg Schulden hinterlassen. Mickey und ihre Mutter haben alles verloren, nie wieder vom Vater gehört und ihnen wurde fast alles aus der Wohnung gepfändet und weggenommen, selbst Mickeys Kinderbett. Das hat Mickey bis heute traumatisiert. Sie versucht zwar, ihr Leben einigermaßen zusammenzuhalten, hat einen Job als Vorschullehrerin, den sie liebt (Kinder mag sie, während sie Erwachsenen nicht über den Weg traut und sie für böse und nicht vertrauenswürdig hält), aber keinen Partner, keine Kinder, kaum Freunde und ein Problem mit Alkohol, das sie sich nicht eingestehen will. Jeden Tag zählt sie die Stunden, bis es 17 Uhr ist, ihre Verpflichtung als Lehrerin beendet ist und sie aus dem mitgebrachten Flachmann auf der Toilette Wodka trinken kann.

Der verschwundene Vater hat eine neue Frau gefunden und mit ihr wieder eine Familie gegründet. Zwar hatte er sein Alkoholproblem sein Leben lang, doch insgesamt hat er nun sein Leben deutlich mehr auf die Reihe gebracht, ist zu viel Wohlstand gekommen und hatte zu seiner zweiten Tochter Arlo, die er über alles geliebt hat, eine wesentlich liebevollere Beziehung. Diese ist somit weitaus behüteter aufgewachsen als ihre ältere Halbschwester Mickey. Insbesondere Geld war kein Thema: Arlo konnte an einer renommierten Uni Psychologie studieren und arbeitet nun als Psychologin. Ihre Mutter kleidet sich in Designerware und führt auch sonst einen gehobenen Lebensstil.

Nun ist der Vater verstorben, Arlo hat ihn in seinem letzten Lebensjahr aufopfernd gepflegt und ist zutiefst bestürzt über den Verlust. Noch größer wird ihr Schock, als sie erfahren muss, dass der Vater ihr nichts vererbt hat: er hat all sein Geld seiner ersten Tochter, ihrer unbekannten Halbschwester Michelle, vererbt.

Auch Mickey hätte nie mit so einer Entwicklung gerechnet und weiß gar nicht so recht, was sie damit anfangen soll, dass der Vater, der nie wieder etwas von ihr wissen wollte, sie in seinem Testament bedacht haben soll. Noch dazu ist die Auszahlung des Geldes an eine Bedingung geknüpft: Mickey muss sieben Therapiestunden in Anspruch nehmen, und zwar bei einem vom Vater ausgewählten und vorab bezahlten Therapieinstitut. Da sie das Geld dringend brauchen kann und aufgrund einer Verfehlung gerade auf unbestimmte Zeit von ihrer Tätigkeit als Vorschullehrerin beurlaubt ist, lässt Mickey sich darauf ein... und landet ausgerechnet bei Arlo, ihrer unbekannten Halbschwester, als Therapeutin.

Anfangs wissen beide Frauen nicht, wen sie da jeweils vor sich haben. Dann findet Arlo es heraus, verschweigt es aber ihrer Halbschwester/Klientin und behandelt diese weiter. Auch in der Hoffnung, sie zu überzeugen, das Erbe nicht in Anspruch zu nehmen... so eine verkrachte Existenz wie Mickey würde das Geld eh nur sinnlos durchbringen, ist Arlo überzeugt.

Doch auch Arlos Leben ist bei weitem nicht perfekt, innerlich verfolgt sie nach wie vor der Fall einer Klientin, die unmittelbar nach der Therapiestunde bei ihr Suizid begangen hat. Zwar wurde sie vor Gericht freigesprochen, doch selbst kann sie es sich nicht verzeihen. Und auch ihre Kindheit und Jugend war weit weniger perfekt, als es auf den ersten Blick scheint.

Von der Themenkonstruktion her handelt es sich also um ein sehr spannendes Buch, das abwechselnd aus den Perspektiven der beiden Halbschwestern geschildert ist. Dennoch hätte ich mir aufgrund der Beschreibung und der Leseprobe mehr erwartet.

Es tat beim Lesen fast weh, immer und immer wieder mitzukriegen, auf wie vielen Ebenen Mickey völlig kaputt ist und vor kaum etwas zurückschreckt in ihrer Sucht und ihrem problembehafteten Leben, in dem sie sich immer weiter in Schwierigkeiten verstrickt. Dennoch war Mickey für mich noch der glaubwürdigere und facettenreichere Charakter. Arlo wirkte auf mich seltsam blass, perfektionistisch und nicht wirklich erreichbar und ich habe mich bis zum Ende des Buches kaum in sie einfühlen können.

Grundsätzlich also ein ganz nettes Buch zu einer interessanten Idee, das man lesen kann, aber nicht unbedingt muss.

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Veröffentlicht am 28.02.2025

Stellenweise langatmige Geschichte einer sehr reichen Familie

Die Fletchers von Long Island
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Die Fletchers, eine jüdische Familie auf Long Island, haben richtig viel Geld. Selbst in der reichen Gegend auf Long Island, auf der sie wohnen, stechen sie noch durch ihren besonderen Reichtum unter den ...

Die Fletchers, eine jüdische Familie auf Long Island, haben richtig viel Geld. Selbst in der reichen Gegend auf Long Island, auf der sie wohnen, stechen sie noch durch ihren besonderen Reichtum unter den anderen Familien hervor.

Dabei ist Gründungsvater Zelig Fletcher mit nichts als einer Formel zur Herstellung von Styropor in den 1940er Jahren mit dem Schiff nach Amerika geflüchtet, hat es hier aber mit Intelligenz, Taktik und Glück zu einem wahren Vermögen gebracht. Sein Sohn Carl wächst also schon reich auf, dessen Frau Ruth heiratet in die reiche Familie ein, und die beiden bekommen drei Kinder: Nathan, Bernard ("Beamer") genannt und Jenny. Während der Schwangerschaft mit Jenny wird Carl entführt und fünf Tage gefangen gehalten, bis es durch die Zahlung von Lösegeld gelingt, ihn scheinbar ohne dauerhafte Schäden freizubekommen. Aber nur scheinbar... sowohl Carls Psyche als auch die seiner Frau und der Kinder werden durch diese Erfahrung lebenslang beeinträchtigt sein, wie man im weiteren Verlauf des Buches mitbekommt.

Das Buch beginnt mit der Schilderung der Entführung und der Versuche der Familie, Carl zu finden und schließlich freizubekommen. Schon da lernen wir das sehr reiche Umfeld der Familie, inklusive einer Selbstverständlichkeit zu Schönheitsoperationen, kennen.

Danach widmet sich je ein knappes Drittel des sehr umfangreichen Buches je einem der drei Kinder von Carl und Ruth: zuerst geht es um Beamer, dann um Nathan und schließlich um Ruth. Beamer ist ein erfolgloser Drehbuchautor, der in jedem Drehbuch die Entführung seines Vaters reinszenieren möchte, indem es immer nur um Entführungen geht. Verheiratet ist er mit Noelle, einer Nicht-Jüdin, was seiner Mutter ein Dorn im Auge ist, und die beiden haben miteinander zwei Kinder, die ausgerechnet Liesl und Wolfi heißen. Treu ist er aber nicht, er hat diverse Affären und geht außerdem wöchentlich zu einer Domina und nimmt Drogen.

Nathan ist Anwalt, aber ebenfalls als solcher nicht sonderlich erfolgreich und zum Partner wird er es wohl nie schaffen. Er ist ebenfalls verheiratet und hat nach Intervention der Kinderwunschklinik mit seiner Frau nach langem Probieren doch noch zwei Kinder bekommen. Geprägt ist sein Leben von starken Ängsten und dem Wunsch, absolut alles unter Kontrolle zu haben und abzusichern, so schließt er etwa eine Unzahl an Versicherungen ab.

Und dann gibt es noch Jennifer, die jüngste und in der Schule als hochbegabt und Wunderkind gehyped, die aber im Studium daran scheitert, sich festzulegen und für ein Fach zu entscheiden, sehr einsam ist und schließlich bei der Gewerkschaft arbeitet, um ihre inneren Schuldgefühle aufgrund ihrer privilegierten Herkunft zu bekämpfen.

Drei verkorkste, im Leben wenig erfolgreiche, reiche Kinder also, die mit viel innerem Ballast zu kämpfen haben und die wir in diesem Buch ausführlich kennen lernen. Und was passiert eigentlich mit diesen erwachsenen Kindern und ihrem Leben, wenn überraschend der finanzielle Wohlstand nicht mehr durch die Mittel der Familie gesichert ist?

Das Buch bietet einigen Stoff zum Nachdenken über soziale Ungleichheit, Klasse und darüber, was es psychologisch mit Kindern macht, sehr privilegiert aufzuwachsen. Die Entführung Carls habe ich eher nur als Aufhänger wahrgenommen - viel von der psychologischen Dynamik der Familie hätte sich problemlos auch ohne diese erzählen und erklären lassen können, alleine durch das so privilegierte Aufwachsen der Kinder und die anderen Familienthemen, die sich über Generationen ziehen, z.B. das Aufwachsen in Armut und sich selbst etwas schaffen bzw. das Einheiraten in eine reiche Familie mit deutlich ärmerem eigenem familiärem Hintergrund.

Denn das ist das übergreifende Thema des Familienromans: was macht es mit Menschen, so privilegiert aufzuwachsen? Wie wirkt es sich auf ihre Persönlichkeit, ihre Weltsicht, ihre Sozialbeziehungen aus? Und woran liegt es, dass so viele Kinder und Enkel aus sehr reichen Familien sich schwer tun, beruflich ihren Platz im Leben zu finden und sich für etwas zu entscheiden?

Mit diesen Hintergrundthemen ist es ein spannendes Buch. Allerdings hat es fast 600 Seiten, von denen man nach meiner Beurteilung locker ein Drittel kürzen hätte können, z.B. hätte ich die endlosen Schilderungen von Beamers Besuchen bei der Domina und seinem Drogen- und Medikamentenmissbrauch nicht in dieser Ausführlichkeit lesen müssen, genauso wie einiges andere - Verknappung und Reduktion auf das Wesentliche hätte diesem Buch also gut getan und dazu beigetragen, die Kernbotschaften prägnanter rüberzubringen und das Leseerlebnis interessanter zu gestalten.

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Veröffentlicht am 27.02.2025

Wie eine Katastrophe eine Familie zerstört

Der Junge
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Im Jahr 1980 ist in der kleinen Stadt Ortuella im spanischen Baskenland eine unvorstellbare Katastrophe passiert: in einer Schule ist es zu einer Gasexplosion gekommen, die 50 Kinder und drei Erwachsene ...

Im Jahr 1980 ist in der kleinen Stadt Ortuella im spanischen Baskenland eine unvorstellbare Katastrophe passiert: in einer Schule ist es zu einer Gasexplosion gekommen, die 50 Kinder und drei Erwachsene getötet haben. Dieser reale Vorfall wird im neuen Roman von Fernando Aramburu literarisch aufgearbeitet, dazu hat er eine der Hinterbliebenen befragt. Dieses Vorhaben ist nicht unumstritten, viele andere Hinterbliebene wollten nun nach 45 Jahren nicht, dass ihre Geschichte dermaßen in den Vordergrund rückt, und es gibt auch Protest gegen die geplante Verfilmung des Romans durch eine Netflix-Serie.

Vielleicht auch deshalb konzentriert sich der Roman sehr stark auf eine einzige Familie und lässt fast alles andere außen vor. Von den anderen trauernden Familien erfahren wir nichts, und auch nicht, ob sich diese in irgendeiner Weise miteinander ausgetauscht oder gegenseitig zur Seite gestanden sind.

Gleich am Anfang des Buches wird klar, dass die Katastrophe passiert ist, und schnell zeigt sich auch: der 6-jährige Nuco, Sonnenschein und Zentrum der Familie, hat nicht überlebt. Zuerst gab es noch Hoffnung, weil er nicht gleich zu den Toten gezählt wurde, sondern erst einmal ins Krankenhaus eingeliefert wurde, doch sein Gesicht war völlig zerstört und auch sein Körper hat aufgegeben, er ist im Krankenhaus gestorben.

Eine besonders enge Beziehung hatte der Großvater Nicasio zu Nuco. Oft hat er ihn in die Schule begleitet. Für Nicasio, der auch noch vor wenigen Jahren seine Frau an den Krebs verloren hat, ist der Tod seines Enkels eine unvorstellbare Katastrophe. So unvorstellbar, dass er sie gar nicht wahrhaben will und seine Bewältigung in der Leugnung sucht: er geht auf imaginierte Spaziergänge mit dem toten Enkel, unterhält sich mit ihm, als wenn er am Leben wäre, stellt in seinem eigenen Haus dessen ehemaligen Zimmer (das die Eltern los werden wollten, um nicht ständig an den Schmerz erinnert zu werden) originalgetreu nach, mauert dafür sogar ein Fenster zu und lebt mit dem vorgestellten "Geist" von Nuco an seiner Seite. Das ist berührend zu lesen und gleichzeitig schmerzhaft, man fühlt mit dem Großvater seine tiefe Verzweiflung.

Dann gibt es die Eltern des verstorbenen Jungen: Mariaje und José Miguel. Verliebt war Mariaje nie in José Miguel, sie hält ihn für gutmütig, aber langweilig, und hat sich aus Vernunftgründen und auf Rat ihrer Eltern als sehr junge Frau für die Ehe mit ihm entschieden. Die Ehe blieb einige Jahre kinderlos, erst dann kam Nuco, der ihr einziges Kind bleiben sollte, und den sie nun verloren haben. José Miguel schlägt nun nach dem Tod des Jungen vor, ein weiteres Kind zu zeugen... das wird erfolglos bleiben und es werden sich einige Abgründe auftun, die die Ehe der beiden, die ganze Familie und ganz besonders Mariajes Charakter in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Mariaje, die Mutter der verstorbenen Jungen... trauert bestimmt auf ihre Weise und ist auch mit ihrer Perspektive stark ins Buch eingeflossen - für sie gab es wohl ein reales Vorbild, eine Hinterbliebene, die als alte Frau mit dem Autor die Geschichte geteilt hat. Sie ist eine sehr pragmatische Frau, die doch auch ihr eigenes Wohl und Überleben in den Vordergrund stellt... in manchem verständlich, insgesamt aber moralisch zumindest sehr ambivalent bis klar verwerflich (je nach eigenem moralischen Kompass und je nachdem, wie man es letztendlich nach der Lektüre des Buches beurteilt).

"Der Junge" ist kein entspannendes Buch. Es ist in vielen Strecken sehr hart, sich mit diesem harten Schicksalsschlag und all seinen Konsequenzen für die Familie auseinanderzusetzen. Gleichzeitig ist es ein wertvolles Buch und insbesondere die Trauer des Großvaters und das schrittweise Auseinander-Fallen der Familie nach dem Todesfall werden sehr berührend und authentisch gezeigt. Interessant ist auch, dass der Autor immer wieder kleine Abschnitte eingefügt hat, die "aus der Perspektive des Buches" seine Überlegungen während des Schreibprozesses zeigen.

Etwas hat mir aber gefehlt, um das Buch wirklich rund zu machen: vielleicht vielfältige Perspektiven auch anderer Betroffener, und insgesamt lag für mich etwas zu sehr der Fokus auf der moralisch sehr ambivalenten Figur der Mariaje, deshalb 4 Sterne von 5.

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Veröffentlicht am 25.02.2025

Die "ganz normalen Menschen" & der Nationalsozialismus

Ginsterburg
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Noch ein Buch über die NS-Zeit? Ist über diese Zeit nicht längst schon alles gesagt und erzählt worden in den letzten 80 Jahren? Kann noch etwas Neues dazu gezeigt werden?

Ich gebe zu, ich habe gezögert, ...

Noch ein Buch über die NS-Zeit? Ist über diese Zeit nicht längst schon alles gesagt und erzählt worden in den letzten 80 Jahren? Kann noch etwas Neues dazu gezeigt werden?

Ich gebe zu, ich habe gezögert, mich für dieses Buch zu entscheiden, denn ich war des Themas schon etwas müde, hatte schon dutzende, wenn nicht hunderte, Bücher dazu gelesen in meinem Leben... doch einige Empfehlungen haben den Ausschlag gegeben, es lesen zu wollen. Ich bin so froh darüber, es getan zu haben!

Ja, dieses Buch schafft es - nach all den bestehenden eindringlichen Werken zum Thema - etwas grundlegend Neues zu schaffen und damit die Menschen noch einmal anders als bisher zum Denken anzuregen. Es geht um eine schreckliche Zeit, doch die allseits bekannten Schrecken werden nur subtil angedeutet: ein Kalendereintrag hier, eine kleine Bemerkung da... und doch wissen wir alle, worum es geht, und das macht es noch beklemmender zu lesen.

Die fiktive deutsche Kleinstadt "Ginsterburg" wird im Roman zu drei Zeitpunkten beschrieben: ausführlich im Jahr 1935 und 1940 sowie knapp am Ende im Jahr 1945. Wir erleben die Stadt und das Zeitgeschehen durch die Augen ihrer Bewohner. Im Jahr 1935 gibt es einen Wanderzirkus mit altem Tiger, Motorradkünstler und Wahrsagerin... diese tauchen später nicht mehr auf, so etwas wird aus dem Zeitbild verschwunden sein. Es gibt die Buchhändlerin Merle, eine überzeugte Sozialistin, die wird es weiterhin geben... mit angepasstem Buchsortiment... und kritische Worte wird man von ihr nur mehr sehr spärlich vernehmen, und schon gar nicht öffentlich... es überwiegt die Sorge um sich und ihren Sohn Lothar.

Ja, Lothar, den habe ich ins Herz geschlossen am Anfang des Buches. Ein sensibler, ruhiger, stiller, intelligenter Junge. Einer, der lieber für sich alleine ist und die Natur erforscht, der keinem Verein und keiner Gruppe beitreten will, von anderen gemobbt wird und vom Fliegen träumt. Das Fliegen, das wird dann auch sein Schicksal und gibt seinen Weg vor, denn Flieger werden kann er nur im vorherrschenden System und das ist nationalsozialistische... also findet auch er zur HJ und wird später Kampfflieger, einer der besten, geehrt und bewundert. Der Redakteur Eugen, so stolz auf seinen Intellekt, seine Bildung und seine kritischen Glossen... auch er wird sich dem System anpassen und hoffen, dass seine scharfen Worte von früher unentdeckt bleiben und ihm nicht zum Nachteil geraten. Weitere Menschen, auch solche in scheinbaren Machtpositionen, die sich aber auch erpressbar machen, etwa durch abweichende sexuelle Neigungen, von denen keiner wissen darf und für die sie verfolgt werden könnten...

Alle diese und viele weitere, sind "ganz normale Menschen", wie es sie auch heute in jeder Kleinstadt zu finden gibt. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, die individuell das Beste aus ihrem Leben machen möchten unter den vorherrschenden Bedingungen. Auch einige Menschen mit starken politischen Überzeugungen - aber kaum welche, die bereit sind, dafür in der Diktatur Leib und Leben zu opfern... da passen sie sich doch lieber an... würden wir unter diesen Bedingungen wirklich anders handeln und uns und unsere Familien gefährden? Viele kritische und auch unbequeme Fragen wirft das Buch auf.

Natürlich gibt es auch richtig unsympathische Menschen in dem Buch, solche, die voll von der vorherrschenden Ideologie überzeugt sind, und ihr alles opfern, selbst das eigene Kind. Blockwarte, Denunzianten und Sadisten hat es natürlich auch immer gegeben... doch auf diesen ist nicht das Hauptaugenmerk des Buches, sondern auf den "normalen", Menschen wie wir alle.

Das Jahr 1940... die Euphorie über den erfolgreichen Blitzkrieg und der Glaube, dass der Krieg nun vorbei und alles gewonnen sei... und die Desillusionierung 1945. Und all die Gräuel des Nationalsozialismus (angedeutet, aber nicht explizit auserzählt... ein Buch, das so vielen expliziten Schilderungen zu diesen Themen folgt, darf das machen, finde ich... denn bekannt sind die schrecklichen Details mittlerweile) und die menschenverachtende Ideologie dahinter, mit der insbesondere die Kinder und Jugendlichen zutiefst indoktriniert wurden.

Wer hätte etwas dagegen machen können? Wann hätte man noch etwas machen können? Wann war es zu spät? Und was hätte es gebraucht, damit sich nicht alle (oder fast alle) so dermaßen angepasst und mitgemacht hätten?

Es ist ein wertvolles, ein besonderes Buch, das zum Nachdenken anregt. Der Autor hat extrem sorgfältig recherchiert, sein Wissen über die damalige Zeit zeigt sich in vielen Details. Auch sprachlich zeichnet sich das Buch aus. Ganz besonders mochte ich die vielfältigen Perspektiven, die subtilen Andeutungen, die Einladungen, selbst zu hinterfragen und nachzudenken und wie es dem Autor gelingt, die Atmosphäre zunehmender Bedrohlichkeit und Vereinnahmung durch das System durch stilistische Mittel zu zeigen (z.B. wird der sensible Junge Lothar ganz nahe in vielen Szenen geschildert, während wir über den Kampfpiloten Lothar fünf bis zehn Jahre später eher aus den Erzählungen anderer hören, aber nicht mehr so wirklich mitkriegen, wie es ihm wirklich damit geht).

Auch das Coverbild passt hervorragend zum Buch. die Wolke, die die idyllische Stadt bedroht, kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden: als die herannahenden feindlichen Bomber, die die Stadt dem Erdboden gleichmachen werden (Hinweise darauf gibt es schon sehr früh, denn eingestreut sind kurze Ausschnitte der Perspektive eines jungen englischen Kampfpiloten, der aus dem Flugzeug fällt und mit seinem Fallschirm auf Ginsterburg zusteuert), aber auch als das giftige nationalsozialistische Klima, das die Stadt und ihre Bewohner immer mehr vergiftet.

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Veröffentlicht am 25.02.2025

Unterhaltsam - witzig - bitterböse: schwarzer Humor vom Feinsten

Ganz die Deine
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Ein so witziges und unterhaltsames Buch wie dieses habe ich schon lange nicht mehr gelesen.

Inés lebt gemeinsam mit ihrem Mann Ernesto und der gemeinsamen, jugendlichen Tochter Laura, genannt "Lali", ...

Ein so witziges und unterhaltsames Buch wie dieses habe ich schon lange nicht mehr gelesen.

Inés lebt gemeinsam mit ihrem Mann Ernesto und der gemeinsamen, jugendlichen Tochter Laura, genannt "Lali", in einem Haus in Buenos Aires. Die Ehe ist mit den Jahren leidenschaftslos geworden, Sex gibt es nur noch selten, doch damit hat sich Inés im Großen und Ganzen arrangiert. Sowieso hat sie einen eher zynischen Blick auf das Leben und Beziehungen und geht davon aus, dass jede Frau früher oder später betrogen wird, was für sich betrachtet auch gar nicht so schlimm sei.

So verliert sie auch nicht die Nerven, als sie bei ihrem Mann Zettel findet, die mit "Ganz die Deine" unterschrieben sind, und als sie ihrem Mann des Nachts nachfährt und beobachtet, wie bei einem heftigen Streit mit seiner Geliebten diese durch einen starken Stoß versehentlich zu Tode kommt, ist sie sogar erst einmal bereit, gemeinsam mit ihrem Mann den Tod zu vertuschen und ihm ein Alibi zu liefern, denn, typisch Inés' pragmatische Einstellung zum Leben: "Was Ernesto und mich anging: Unsere Pflicht war es, die Sache so schnell wie möglich zu vergessen und nach vorne zu blicken. Das würde ich zu ihm sagen, sobald er mir alles gestanden hätte."

Inés ist also bereit, an ihrem bisherigen doch recht komfortablen Leben und dem damit verbundenen Familienkonstrukt festzuhalten, auch wenn Ernesto sie betrogen hat. Aber alles hat Grenzen... und so wird es irgendwann möglicherweise eine weitere Leiche geben.

Das Buch ist in kurzen Kapiteln geschrieben. Abwechselnd erzählt Inés aus der Ich-Perspektive, manchmal lesen wir in der dritten Person von ihr, dazwischen sind Dialoge zwischen der jugendlichen Tochter Lali, die mit ihren ganz eigenen Problemen kämpft (wovon die Mutter nichts ahnt und auch nichts sehen will, denn die beiden haben sich stark voneinander entfremdet) und verschiedenen Personen in deren Leben, und auch Ernesto kommt zwischendurch mal aus seiner Perspektive zu Wort, wodurch sich auch wieder Neues und Überraschendes zeigt. Dazwischen gibt es Einschübe aus verschiedenen Büchern zu den unterschiedlichen Todesarten und wie man die damit verbundenen Spuren verwischt.

Das Buch kann man an einem Abend entspannt weglesen und wird dabei bestens unterhalten - witzige Unterhaltungsliteratur vom Feinsten - Leseempfehlung!

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