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Veröffentlicht am 06.04.2022

Naturgewaltiges Lesehighlight

Der Holländer
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Für Geeske Dobbenga sollte es die letzte Fahrt auf dem Patrouillenboot der niederländischen Grenzschützer sein. Doch anstatt Abschied zu feiern, stößt die Mannschaft auf die Leiche eines bekannten deutschen ...

Für Geeske Dobbenga sollte es die letzte Fahrt auf dem Patrouillenboot der niederländischen Grenzschützer sein. Doch anstatt Abschied zu feiern, stößt die Mannschaft auf die Leiche eines bekannten deutschen Wattwanderers. Deutschland und die Niederlande rangeln um die Ermittlungs-Zuständigkeit. Bis dahin ermittelt Liew Cupido ohne Auftrag aber mit um so mehr Gespür fürs Watt und deren Bewohner.

Mathijs Deen hat einen wundervoll klaren Schreibstil, der schnörkellos und atmosphärisch die Szenerie der Küste und des Watts widerspiegelt. Man spürt den salzigen Wind, hört die Wellen und ahnt, wie unheimlich das Watt sein kann, wenn man sich in ihm verliert. Seine Protagonisten könnten einem an der Küste begegnen und die behördlichen Querelen sind glaubwürdig und nachvollziehbar beschrieben.
Die fast durchgängig düsterere, melancholische Stimmung wird durch unerwartet feine und gezielte humoristische Einlagen gewürzt..

Drei Extrem-Wattwanderer mit ihrer Besessenheit, alle denkbar möglichen Strecken abzugehen, bilden die ungewöhnliche Rahmenhandlung. Bisher hatte ich Landei immer sonnige Ausflüge mit gut gelaunten Grüppchen im Kopf, wenn ich an eine Wattwanderung gedacht habe. Aber hier geht es um bis ins kleinste Detail erarbeitete Strecken, dem Wettrennen mit der Natur und ihren Gezeiten. Es sind starke, Gänsehaut erzeugende Beschreibungen, die zeigen, wie schnell eine Wanderung zum Kampf ums Überleben werden kann.

Besonders die Titelfigur "Der Holländer" alias Liew Cupido hat mir sehr gefallen. Als Kind einer Deutschen und eines holländischen Fischers ist er für diesen Fall mehr als prädestiniert. Wortkarg und voller Eigenarten muss er sich die Sympathie der Leserschar erst erarbeiten. Mich hat er aber in seinen Bann gezogen. Die taktisch geschickte Art, mit Verdächtigen zu sprechen, Vorgesetzten aus dem Weg zu gehen und der Umgang mit einem jungen Kollegen, in dem er Potenzial zum Ermittler vermutet, sind gelungen herausgearbeitet worden.

"Liewe betrachtet noch einmal den Stapel Kleidung, dieses stille Zeugnis von Plänen und Zukunftserwartungen: weiterzuleben, Erfolge zu feiern, zu triumphieren, aber auch, ganz banal, sich in weiche, warme Kleidung zu hüllen."

Mehr Roman als Krimi steigert sich der Spannungsbogen sehr langsam, doch dafür intensiv. Man lernt die Hintergründe der Protagonisten kennen, wird auf falsche Fährten geführt und hin und wieder durch unterhaltsame Momente - wie einen Pathologen, der gleichzeitig Schauspieler ist und mit Bühnenzitaten glänzt - abgelenkt.

Das Finale kommt nicht unerwartet, denn hier geht es nicht um eine Täterjagd, sondern um die Frage, warum es so weit kommen konnte. Wie so oft halten gespielte Fassaden sich nicht dauerhaft und die Wahrheit birgt manche Überraschung.

Nachdem ich meine gedanklichen Gummistiefel aus dem Watt herausgezogen habe, gebe ich eine absolute Leseempfehlung. Ich hoffe von Liew Cupido noch mehr lesen zu dürfen.

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Veröffentlicht am 05.01.2022

Melancholisch düster angehauchter Literaturkrimi

Barbarotti und der schwermütige Busfahrer
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Ein alter Fall begegnet überraschend den Kommissaren Barbarotti und Backmann in Gestalt eines Fahrradfahrers während einer Auszeit auf Gotland. Vor sechs Jahren verschwand der ehemalige Todesbusfahrer, ...

Ein alter Fall begegnet überraschend den Kommissaren Barbarotti und Backmann in Gestalt eines Fahrradfahrers während einer Auszeit auf Gotland. Vor sechs Jahren verschwand der ehemalige Todesbusfahrer, getrieben von Morddrohungen spurlos. Barbarotti lässt der alte Fall keine Ruhe und zusammen mit seiner Partnerin beginnt er erneut zu ermitteln.

Håkan Nesser ist erneut ein Krimi gelungen, der literarischen Romanen gleichgestellt ist. Dank der detaillierten und bildhaften Beschreibung fühlt man sich sofort nach Südschweden versetzt. Die Handlungsstränge wechseln zwischen der aktuellen Ermittlung, dem damaligen Fall und den Tagebucheinträgen des Busfahrers Albert Runge. Im Buch ist dies sicher leichter zu verfolgen wie im Hörbuch.

Einen Spannungsbogen kann man nur leicht erahnen. Dies passt aber hervorragend zur durchgehend düsteren, melancholischen Stimmung des Krimis. Besonders der Charakter Albert Runge mit seinem schrecklichen Schicksal wird gekonnt herausgearbeitet. Die Aussage seines Psychiaters, "Runge, sei schon vor langer Zeit gestorben", ist deutlich zu spüren. Hier hadert ein Mensch mit seinem Leben und dessen, was durch ihn geschehen ist.

Aber auch Barbarotti und Backmann sind herrliche Protagonisten, die man bildlich vor Augen hat. Ein Paar, das auch privat verbandelt ist und gemeinsam eine schwere Zeit meistert. Die beiden ergänzen sich beruflich wie privat ohne große Wogen zu schlagen. Die leisen Töne ihres Miteinanders haben mir sehr gefallen.

Dietmar Bär gibt diesem Hörbuch eine besondere Note und passt sich der langsamen Handlung und der stillen Spannung gekonnt an.

Dieser Roman ist nichts für Krimifans, die schnelle Ermittlungen und große Spannungsmomente erwarten. Hier wird eine langsamere Gangart eingeschlagen, die Zeit für Nebenschauplätze, Gefühle und Gedanken einräumt. Auf einen besonderen Plot am Ende muss man aber nicht verzichten. Denn diesen gelungenen Schluss habe ich so nicht erwartet.

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Veröffentlicht am 05.01.2022

"Die Welt ist genug, so wie sie ist."

Wolkenkuckucksland
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Wenn die Welt um einen herum wankt und man keinen Halt findet, geben Geschichten, die zu Träumen werden, neue Zuversicht. So ergeht es Anna und Omeir 1453 während der Belagerung Konstantinopels, Zeno und ...

Wenn die Welt um einen herum wankt und man keinen Halt findet, geben Geschichten, die zu Träumen werden, neue Zuversicht. So ergeht es Anna und Omeir 1453 während der Belagerung Konstantinopels, Zeno und Seymour 2020 in Idaho und Konstance in der Zukunft im Raumschiff "Argos". Ein antikes Manuskript mit einer Geschichte über ein magisches Land in den Wolken überdauert Zeit und Raum und wird zum Begleiter all dieser unterschiedlichen Menschen.

Anthony Doerrs Roman ist eine Liebeserklärung an alle Geschichten, die uns so fesseln, faszinieren und in ihren Bann ziehen. Das Papier, auf den diese Schätze geschrieben stehen, ist nicht von Dauer. Doch geliebte Geschichten werden immer weiter erzählt, neu aufgeschrieben und im Herzen getragen. Genau dies passiert mit der utopischen Geschichte des Wolkenkuckuckslandes.

"Blättere eine Seite um, folge dem Gang der Sätze: Der Sänger tritt hervor und bläst den Atem einer Welt voller Farben und Geräusche in deinen Kopf"

Was anfänglich beim Lesen verwirrt, sind die zeitlichen und örtlichen Sprünge. Von der Zukunft in das Jahr 1453 und zurück in eine Passage der geheimnisvollen Suche Aethons nach dem Land in den Wolken. Doch je länger man liest, desto mehr nimmt einen die Magie des Romans gefangen. Man möchte gar nicht mehr aufhören zu lesen und gleichzeitig hofft man, nicht zu schnell dem Ende nah zu sein. Die unterschiedlichen Handlungsstränge finden über die gemeinsame Verbindung der historischen Geschichte immer wieder zusammen, sodass man leicht in die unterschiedlichen Zeiten eintauchen kann.

Der Roman bietet viel Platz zum Nachdenken und Innehalten. Die Zerstörung der Natur und des Lebens durch den Menschen findet genauso einen Platz wie die Gabe, sich durch Geschichten in andere Welten zu träumen und dadurch neue Kraft zu finden. Ein Hauch griechische Lyrik und Mythologie zeigt, wie überdauernd und aktuell Erzählungen sein können.

Durchzogen von spannenden Momenten, liebevollen Gesten und überraschenden Erkenntnissen werden erst nach und nach immer mehr Zusammenhänge sichtbar, die einfach pure 525 Seiten Lesefreude garantieren.

Mich hat dieser Roman durch die wundervolle Sprache, die Leidenschaft und die Lebendigkeit der Protagonisten begeistert und daran erinnert, warum ich so gerne lese und die Geschichten ins Herz schließe.

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Veröffentlicht am 23.11.2021

Eine starke Frau in schweren Zeiten

Sturmvögel
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Emmys Welt besteht aus einer kleinen Insel in der Nordsee. Hier wächst sie in einfachen Verhältnissen, aber mit liebevollen Eltern auf, bis Krankheit und Krieg ihr die Eltern rauben. In den 20er-Jahren ...



Emmys Welt besteht aus einer kleinen Insel in der Nordsee. Hier wächst sie in einfachen Verhältnissen, aber mit liebevollen Eltern auf, bis Krankheit und Krieg ihr die Eltern rauben. In den 20er-Jahren kommt sie als junges Mädchen nach Berlin, um als Dienstmagd zu arbeiten. Im Alter von 86 Jahren blickt Emmy zurück und denkt an die schwere Zeit während des Zweiten Weltkrieges, an Ehepflicht und heimliche Liebe. Aber auch daran, dass ihre Tage gezählt sind und sie ihr Erbe weitergeben möchte. Allerdings anders als ihre Kinder sich es heimlich erhofft haben.

Manuela Golz hat sich von ihrer Oma zu diesem Familienroman inspirieren lassen. Auf verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit und Gegenwart wird Emmys Geschichte erzählt. Trotz all der Schicksalsschläge, die schon die kleine Emmy erleiden muss, findet sie immer einen Weg, um nach vorne zu schauen. Als alte 86-jährige Frau ist sie immer noch aufgeräumt, vorausschauend und liebevoll, aber durchaus mit Ecken und Kanten, die besonders ihrer ältesten Tochter zu schaffen machen.

Der Schreibstil ist kurzweilig und unterhaltsam, bleibt dadurch aber auch zu sehr an der Oberfläche. Viele Szenen werden zu schnell wieder verlassen. Immer wenn es etwas in die Tiefe ging, sprang die Handlung an einen anderen Ort. Emmys Liebe zu einem Sohn aus reichem Haus ist solange reizvoll, bis sie schwanger wird. Hier hätte ich gern mehr über die Gefühle der Protagonistin gelesen. Besonders die schweren Jahre während des Krieges, in dem Emmy mit drei kleinen Kindern ums Überleben kämpft, gehen einem nahe. Man meint die Nähe der Autorin zur Romanfigur zu spüren.

Die Gegenwart der alten Dame ist vorwiegend durch Handlungen ihrer erwachsenen Kinder geprägt. Hilde und Otto sind darauf erpicht zu erfahren, was ihre Mutter ihnen als Erbe vermachen wird. Diese unverhohlene Gier nach Geld und der Neid auf die aufgenommene Ziehtochter Anni der jüngsten Schwester waren für mich nur schwer nachvollziehbar und wirkten zu sehr am Reißbrett entworfen. Die Treffen der Geschwister, deren Dialoge und die anschließende Auflösung des ominösen Kellerfundes haben mich wenig in ihren Bann gezogen.

Für mich ist die Mischung aus Vergangenheits- und Gegenwartsroman nicht aufgegangen. Die wundervoll schwunghafte und lebensfrohe Emmy hätte ich gern vertieft kennengelernt. So blieb sie am Ende doch ein wenig blass und nicht lange in Erinnerung.

Für Lesefreunde leichter Kost ist dieser Familienroman aber sicherlich eine gelungene Herbstlektüre.

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Veröffentlicht am 14.11.2021

Dem Wind lauschen – und den Stimmen der Vergangenheit nahe sein

Die Telefonzelle am Ende der Welt
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Sich von geliebten Menschen vor dem Tod verabschieden zu können, ist den Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe 2011 in Japan nicht vergönnt gewesen. Viele wurden förmlich aus dem Leben gerissen und hinterlassen ...

Sich von geliebten Menschen vor dem Tod verabschieden zu können, ist den Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe 2011 in Japan nicht vergönnt gewesen. Viele wurden förmlich aus dem Leben gerissen und hinterlassen eine ungeheuer große und schmerzliche Lücke. Eine Telefonzelle in einem Garten am Meer scheint der Ausweg für viele Trauernde zu sein. Hier an diesem besonderen Ort trägt der Wind ihre Gedanken und Worte zu den Verstorbenen. Auch der Arzt Takeshi Fujita und die Radiomoderation Yui Hasegawa suchen Trost in Bell Gardia. Gemeinsam kehren sie immer wieder in den Garten zurück und nähern sich langsam und voller Ängste einander an.

Laura Imai Messina hat einen sehr bewegenden Roman geschrieben, der die Themen Verlust, Trauerbewältigung, Hoffnung und Liebe in feiner, leiser und schmerzvoll stiller Art umsetzt. Ein Ort, den es in Japan tatsächlich gibt, dient als Rahmenhandlung. Die Telefonzelle des Windes (https://bell-gardia.jp/the-phone-of-the-wind/) wird von tausenden Menschen aufgesucht, um unausgesprochene Worte mit geliebten Menschen auszutauschen. Am Ende findet sich ein ausführliches Glossar der japanischen Begriffe und Schriftzeichen, die es uns westlich orientierten LeserInnen vereinfacht, den Inhalt besser zu verstehen.

Die Begegnung zwischen Yui und Takeshi wird sehr leise erzählt. Zwei Trauernde, die sich kennen und schätzen lernen und die gemeinsam regelmäßig die lange Fahrt von Tokio zum Garten der Telefonzelle auf sich nehmen. Ihre Geschichte wird in kleinen Abschnitten erzählt, die erst am Ende ein Gesamtbild zulassen. Besonders Yuis Trauer um ihre verstorbene Mutter und ihre kleine Tochter geht an Herz. Zu erfahren, dass die vermeintlich in Sicherheit befindenden geliebten Menschen ums Leben gekommen sind, muss einem schier den Verstand rauben. Yui muss bei jeder Fahrt mit Übelkeit kämpfen, wenn sie das grausame Meer sieht.

Nach und nach kommen immer mehr Figuren zur Telefonzelle und werden ein Teil von Yuis und Takeshis Leben. Jeder hat seine eigene schreckliche Geschichte, die er zu verarbeiten sucht. Ein Vater, der nicht begreifen kann, warum sein Sohn während des Tsunamis so leichtfertig handeln konnte. Ein Sohn, der seinen Vater lieber tod als tieftraurig schweigend sieht und Takeshis Tochter Hana, die seid dem Tod ihrer Mutter nicht mehr spricht.

Trotz all der Trauer erleben Takeshi und Yui Alltägliches. Diese kurzen Abschnitte erlauben es auch den LeserInnen Abstand von den traurigen Dingen zu nehmen, die einen beschäftigen. Kleine Details wie die Auflistung einer Bento-Box oder die Zusammenfassung einer Radiomoderation Yuis rücken den Focus zurück auf das Leben.

"Wir müssen selbst Freude im Überfluss besitzen, um sie anderen schenken zu können."

Mir hat besonders das feinfühlige Herantasten an einen neuen Lebensabschnitt der beiden Protagonisten gefallen. Das Verständnis um die Trauer des anderen und dennoch die warme Zuneigung, die wie eine kleine Pflanze langsam Blüten entfaltet.

Den Gedanken, über eine dem Wind überlassene Unterhaltung Verbindung zu Verstorbenen aufzunehmen, nehme ich mit und hoffe, so schnell keine Verwendung dafür zu finden.

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