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Veröffentlicht am 27.03.2022

Der Tell macht, was er will

Tell
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Zugegeben: Ich habe mich immer schwer getan mit den Dramen der bedeutenden Dichter und Denker, obwohl das verharmlost ausgedrückt wäre. Ehrlicherweise haben sie mich abgeschreckt, verscheut und den Deutschunterricht ...

Zugegeben: Ich habe mich immer schwer getan mit den Dramen der bedeutenden Dichter und Denker, obwohl das verharmlost ausgedrückt wäre. Ehrlicherweise haben sie mich abgeschreckt, verscheut und den Deutschunterricht in den Vorhof der Hölle verwandelt - "Pole Poppenspäler" hat mich klaustrophobische Züge entwickeln lassen. "Die Leiden des jungen Werther" dachte ich zu einem späteren Zeitpunkt in meiner schulischen Laufbahn Schicht für Schicht freigelegt zu haben, empfand mich gar als Werther Flüsterer, um dann die Quittung meiner Analyse auf den Tisch geknallt zu bekommen. Knapp befriedigend, heißt so viel wie "knapp verstanden", dabei hatte ich mich gar selbst in seinem Leiden gewunden. Und das waren nur zwei von vielen Beispielen der gescheiterten Annäherung. Danach schwor ich diesem Kapitel gänzlich ab. Bis Joachim B. Schmidt mit "Tell" den Finger in die Wunde legte, Salz und Pfeffer darüber streute und mich damit allein ließ.

Bereits "Kalmann" hat mich um den Finger gewickelt durch seinen unkonventionellen Charme und so erschien es nur folgerichtig, auch "Tell" eine Chance zu geben, entgegen meiner frühzeitlichen Prägung. Und was soll ich sagen? Dieses Drama auf dieses mundgerechte Maß reduziert, actionreich und einnehmend, bringt eine traditionelle Geschichte mit neuer Würze auf den Tisch, durch wechselnde Perspektiven und neuzeitlichen Charme, sodass es in einem Happs verschlungen werden kann. Es hat für mich eine alte Barriere durchbrochen, den innerlichen Staudamm der Unfähigkeit diesen Werken etwas abzugewinnen.

Tell, ein einfacher Bergbauer, der seiner Bestimmung folgt, fasziniert seit Generationen und gilt als eine Sage, ob wahr oder erfunden sei dahingestellt, trotzdem stellt es die Basis der Freiheitsbewegung dar und einen Lichtblick am Ende des Tunnels.

Das Tempo rasant, der Stil leicht und der Sprung der Perspektiven herrlich erfrischend und genau das ist das Geheimnis dieses wilden Ritts durch dieses Drama des 14 Jahrhunderts. Und trotzdem bleibt der lyrische Charme, das Mysterium hinter Tell erhalten, gar unantastbar und trotzdem so wirklich, als würde ich in meinem eigenen Ahnenbuch lesen. Ich will jedoch nicht zu viel verraten, dem Zauber seinen Zauber lassen und jeden Willigen auf diese Reise schicken, gar schubsen, denn es ist es wahrlich wert, von jedem Einzelnen verschlungen zu werden. Und ja, es wäre auch es wert, den Pflichtlektüren in der Schule einen neuzeitlichen Compagnon an die Seite zu stellen. Vielleicht verhindert ja genau das weitere gescheiterte Dichter und Denker Beziehungen wie meine eigene durch pure Prävention statt Abschreckung.

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Veröffentlicht am 11.01.2022

Eine Reise durch die Zeit mit nur einer Konstanten

Zum Paradies
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Ich muss zugeben: Romane, die einen gewissen Seitenumfang aufweisen, schrecken mich nicht ab, sondern im Gegenteil. Sie faszinieren mich, fordern mich nahezu heraus. So viele Seiten bedeuten immer auch ...

Ich muss zugeben: Romane, die einen gewissen Seitenumfang aufweisen, schrecken mich nicht ab, sondern im Gegenteil. Sie faszinieren mich, fordern mich nahezu heraus. So viele Seiten bedeuten immer auch so viele Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, eine Epoche, Generationen um Generationen, deren Geschichte weitergetragen wird, deren Erbe sich in der nächsten wiederfindet, all ihre Fehler, all ihre Errungenschaften. Und doch ist man nach zwei Generationen vergessen, das Opfer nicht mehr sichtbar, der Leidensdruck passé und der Erfolg der neue Standard.

All das kommt in Hanya Yanagiharas neuestem Werk "Zum Paradies" zum Tragen. Gekonnt werden drei Geschichten verflochten, die ähnlich sind und doch so anders, die Epochen durchbrechen, authentisch sind und voller Widersprüche.

1893: David, der Spross einer reichen Familie, soll endlich heiraten, doch arrangierte Ehen können doch nicht passen, wenn man wirklich die Liebe sucht?

1993: Ein junger Hawaianer liebt einen älteren Mann inmitten einer neuen Krankheitswelle mit Namen AIDS.

2093: Die Erde sieht sich den Folgen des Klimawandels ausgesetzt und eine junge Frau kämpft sich durch ihre Ehe.

Der Stil ist speziell, die Sätze lang und Handlung voller Details. Die Geschichte erzählt alles und nichts und jedes Kapitel ist intensiv. Mich persönlich hat der Roman nicht vollends erreichen können, denn die Reflexionen, die sich über Seiten erstrecken, sind nicht so reichhaltig und divers, dass es mich begeistern könnte. Ich spüre zwar die Emotionalität und ich mag ausschweifende Beschreibungen, jedoch verliert es sich in diesem Fall oft in Belanglosigkeiten. Dabei hat mich die Namensgebung komplett verwirrt und ich hatte Schwierigkeiten, permanent der Handlung zu folgen. Ein wuchtiger Roman mit langatmigen Momenten, den ich Fans empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 16.11.2021

Drei verschiedene Welten

Die Enkelin
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Wir glauben, die engsten Menschen in unserem Leben zu kennen, ihre Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft- alles ist manifestiert, gar asphaltiert, bis ein Schicksalsschlag diesen Pfad aufreißt, ...

Wir glauben, die engsten Menschen in unserem Leben zu kennen, ihre Vergangenheit, die Gegenwart und auch die Zukunft- alles ist manifestiert, gar asphaltiert, bis ein Schicksalsschlag diesen Pfad aufreißt, neue Wege formt und dich auf eine Reise voller Ungereimtheiten und Widersprüche schickt, die damit endet, dass du für dich Familie und Verbundenheit ganz neu interpretieren musst. Bernhard Schlink schafft mit seinem neuesten Roman "Die Enkelin" ein emotionales Epos, eine Achterbahnfahrt der Gefühle und ein Werk voller Konfrontation zwischen alt und jung, neuem und altem Gedankentum auf verquere Weise verdreht.

Birgit und Kasper verbindet eine Liebesgeschichte seit 1965. Durch ihren plötzlichen Tod stößt Kaspar auf ein Manuskript, dass mehr Fragen aufwirft, als Antworten zu geben. Kaspar begibt sich auf eine Reise in Birgits Vergangenheit und findet Menschen und Familie. Doch was so leicht sein könnte, um den Kreis der Verbundenheit zu schließen, stellt sich als das größte Hindernis heraus.


Der Stil ist angenehm, wenn auch die ersten Seiten den Leser direkt ins Geschehen stoßen, in den Moment des plötzlichen Abschiednehmens, aber auch in eine Möglichkeit, das Ganze anders zu begreifen und einen Menschen neu zu verstehen in seiner Komplexität. Birgit bleibt dabei geheimnisvoll wie eine Stimme aus dem Offside. Kaspar hingegen erstaunt und fasziniert durch seine so authentische Darstellung, was es dem Leser so leicht gestaltet, ganz bei ihm zu bleiben. Sigrun ist das beste Beispiel dafür, dass Geschichte dich prägt und auch deine Eltern. Selbst wenn die Gedanken noch so frei sein dürfen, sind wir doch in unseren Mustern gefangen, solange wir die Ketten nicht durchzubrechen vermögen. Ein anspruchsvoller Roman voller Facetten, voller Tiefgang und eine Empfehlung für alle, die bereit sind für eine emotionale Reise durch die deutsche Geschichte.

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Veröffentlicht am 13.11.2021

Wenn ich fort bin, wird alles besser

Wenn ich wiederkomme
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Als ich die ersten Zeilen von Marco Balzanos Familiendrama "Wenn ich wiederkomme" gelesen habe, kamen meine Gedanken bereits ins Stocken. "Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen". Der Satz, ...

Als ich die ersten Zeilen von Marco Balzanos Familiendrama "Wenn ich wiederkomme" gelesen habe, kamen meine Gedanken bereits ins Stocken. "Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen". Der Satz, den eine Mutter vielleicht manchmal denkt, zu schwierigen Zeiten, wenn das ganze Alltagsgerüst über einem zusammenbricht und man am liebsten den Tag unter eine Decke verkrochen verbringen will. Dieser Satz ausgesprochen jedoch, in das Gesicht eben jener Kinder, der ist unwiderruflich und so mächtig in seinen Folgen, wie der Schmetterlingsflügelschlag, der einen Orkan auslöst. Unabsehbare Konsequenzen der Macht unserer Worte, die wir in Momenten, in denen wir nicht bei uns selbst sind, hinaus in die Welt schicken und nicht mehr einzufangen vermögen.

Daniela lebt in einer rumänischen Stadt am Existenzminimum zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Wie viele träumt sie von einem besseren Leben für ihre Kinder und schlussendlich auch sich selbst, also sucht sie das Glück in Mailand. Die Arbeit ist beschwerlich und sie vermisst ihr Leben und vor allem ihre Kinder. Als ihr Sohn einen schwerwiegenden Unfall erleidet, sieht sie sich gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu blicken, denn Glück bedeutet nicht nur ein gewisser Wohlstand, sondern Glück bedeutet auch Zeit.

Der Stil ist nahezu erschreckend leicht, was in Kontrast zur schweren Thematik steht. Das erzeugt jedoch eine gewisse objektive Gleichgültigkeit auf die subjektive Sicht auf die Dinge, die dem Leser aus allen Perspektiven entgegenschallt. Egal, wie intensiv die Gedanken sind, der Leser kratzt durch die Wechsel immer nur an der Oberfläche und so fühlte ich mich über weite Strecken versunken im Sumpf der ungehörten Gedanken und verborgenen Emotionen. Vor allem die Wechsel der Protagonisten hat mir sehr gut gefallen, dabei bleibt die Erzählsicht spannend und fesselnd. Viele wunderbare Metaphern und visuelle Momente erzeugen nahezu einen Klang in meinem Kopf, wie eine Sinfonie der Sinnlosigkeit der Situation. Die Protagonisten sind dabei gut skizziert, nicht zu komplex dargestellt und bleiben doch mysteriös. Es fühlt sich an wie eine Begegnung auf der Straße, die auf einen Kaffee reicht, einige Gespräche und die dich dann auf unbestimmte Zeit in die Nacht entlässt. Eine Empfehlung für alle, die vielschichtige Romane schätzen, die mehr über die "Italienkrankheit" erfahren möchten und die viel aus einer Geschichte mitnehmen können, die dich mit Fragezeichen im Kopf in den Alltag entlässt.

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Veröffentlicht am 04.09.2021

Es liegt in der Luft

Tote schweigen nie
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Eine Mischung aus Formaldehyd, Desinfektionsmittel und Süße der Verwesung liegt in der Luft, unverkennbar und doch so unbekannt. Direkt zu Beginn und immer wieder zwischen den Zeilen der Worte dieses Thrillers. ...

Eine Mischung aus Formaldehyd, Desinfektionsmittel und Süße der Verwesung liegt in der Luft, unverkennbar und doch so unbekannt. Direkt zu Beginn und immer wieder zwischen den Zeilen der Worte dieses Thrillers. Kleine Nuancen, die zur besonderen Atmosphäre dieses Thrillers beitragen. Der Geruch des Todes, in seiner gänzlichen Blüte, auf normalem Wege oder herbeigeführt durch die Hand anderer. Und doch ist in der Leichenhalle diese unglaubliche Ruhe, durchbrochen von Zeit zu Zeit durch die wenigen Worte, die die Verstorbenen an Cassie Raven richten, Assistentin der Gerichtsmedizin. Vielleicht ist es Aberglaube, vielleicht ist es eine spirituelle Kraft, oder auch einfach nur ihr Auge für die Details, die ihren ersten großen Fall ins Rollen bringen.

Cassie Raven liebt ihren Job- das mögen andere absonderlich finden, denn den Großteil verbringt sie in der Leichenhalle-, doch ihr Talent gibt ihr Recht. Äußerlich Gothic Punk und eher distanziert, schafft sie es, durch ihre empathischen Fähigkeiten und Genauigkeit in ihrer Analyse Verborgenes zutage zu bringen und selbst klare Todesfälle zu hinterfragen. Eines Tages erblickt sie ihre Mentorin auf dem Seziertisch, ein Badewannenunfall, wie er gelegentlich passieren kann, nicht unbedingt außergewöhnlich. Doch Cassie lässt dieser Fall nicht mehr los und schnell findet sie sich in einem Strudel der Ereignisse wieder.

Der Stil ist leicht, die Satzung etwas gewöhnungsbedürftig, dann aber stößt sich der Leser nicht mehr an dieser. Besonders Cassie Raven ist für mich wirklich gut gezeichnet, wirkt mehrdimensional und dadurch vielschichtig, interessant, glaubwürdig, angenehm verrückt und auf ihre Art und Weise sympathisch. Der Fall beinhaltet alles, was sich Thriller Fans nur wünschen können: Angst, Trauer, Melancholie, dazu Spannung und eng verwobene Handlungsstränge, falsche Richtungen, alte Geschichten, Erinnerungen und neue Wendungen. DS Phyllida Flyte, die als Kommissarin ebenfalls eine Rolle spielt, konnte mich nicht auf ganzer Linie überzeugen, ihre Gedankengänge und Wesenszüge wirkten auf mich manchmal zu sprunghaft und konstruiert. Trotzdem ein würdiger Auftakt einer sicherlich spannenden Serie, der ich mit freudiger Erwartung entgegenblicke.

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