Nicht leichtgängig, dafür tiefgründig und vielschichtig
bleib bei mir„Warum kann ich nicht einfach gehen? Weggehen, von M.
Was hält mich dort? Sollte es nicht Liebe sein? Und sollte Liebe nicht etwas Schönes sein, Sicherheit, Wärme?“
Und natürlich sollte es das sein. Liebe ...
„Warum kann ich nicht einfach gehen? Weggehen, von M.
Was hält mich dort? Sollte es nicht Liebe sein? Und sollte Liebe nicht etwas Schönes sein, Sicherheit, Wärme?“
Und natürlich sollte es das sein. Liebe soll und kann etwas Schönes sein, Sicherheit und Wärme.
Und wenn sie es nicht ist, ist es dann Liebe?
„Bleib bei mir“ ist mein erster Roman von Hanne Ørstavik, von der bereits mehrere Roman auch auf Deutsch erschienen sind und die als eine der profiliertesten norwegischen Gegenwartsautorinnen gilt. Es wird vermutlich nicht mein letzter Roman bleiben, denn mich hat Ørstaviks schriftstellerische Kraft direkt emotional erreicht.
In „bleib bei mir“ erzählt Ørstavik detailliert analysierend von Beziehungen, die von Seiten die einseitig stark von Angst geprägt sind. Ist das Liebe? Ihre Erzählerin lernt mit über 50 und nach dem Tod ihres Mannes M. kennen, einen Handwerker, der 17 Jahre jünger ist als sie.
Aber genau wie die Erzählerin hat dieser Mann als Kind Gewalt von nahestehenden Menschen erfahren. Ihre eigenen Erfahrungen mit diesem kindlichen Trauma lassen die Erzählerin große Zärtlichkeit und Mitgefühl für M. empfinden. Auch wenn sich seine Wutausbrüche gegen sie richten und er sie schlecht behandelt. Ist das Liebe?
Ørstavik gibt einen tiefen Einblick die verletzte Seele eines kleinen Kindes, das immer noch im Körper dieser erwachsenen Frau lebt, und nach Liebe und Heilung sucht. Sie die Erzählerin diese Liebe und Bestätigung, die sie bei ihrem Vater nie bekommen hat, bei M. finden?
„Eigentlich bin ich es, die als Erwachsene dort sitzt. Aber wenn ich daran denke, sehe ich nur ein Mädchen.“
Schon die Aufforderung im Romantitel ist klein geschrieben. Sie ist leise, mehr Bitte als Befehl. Es ist Ausdruck des tiefen Minderwertigkeitsgefühl, dass die Erzählerin empfindet.
„Wie kann ich glauben, dass jemand bei mir sein möchte, wenn nicht einmal ich selbst bei mir bin. Wenn ich im Grunde genommen nirgends bin. Wo in mir selbst bin ich?“
Bei mir löst Ørstavik Roman starkes Mitgefühl für die Erzählerin aus und eigentlich für alle Kinder und Erwachsene, die schon früh in ihrer Liebes- und Vertrauensfähigkeit beschädigt wurden. Beschädigungen, die generationenübergreifend weitergegeben werden.
Ich hatte jetzt mit Tove Ditlevsen eine ziemlich schwierige Lektüre mit „Vilhelms Zimmer“. Stilistisch und formal erinnert mich Ørstavik Schreibweise stark an Ditlevsens, doch „bleib bei mir“ ist für mich wesentlich leichter zugänglich. Die Ähnlichkeit sehe ich vielmehr in der Art, Gedanken und Gefühle fragmentarisch mit der erzählten Realität zu verschmelzen.
Auch Ørstavik Roman ist jetzt vielleicht keine einfache, leichtgängige Lektüre, aber eine die tiefer hinter die Mechanismen von disfunktionalen Beziehungen blickt und immer mit einem zärtlichen Auge auf unseren Schwächen und unserer Sehnsucht nach Liebe blickt.
„Ich habe nicht, niemals, geglaubt, dass jemand mich lieben könnte.“