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Veröffentlicht am 22.05.2024

Ein wunderbar bewegendes Buch

Auf Erden
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Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? ...

Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? „Fahr einfach, meinetwegen im Kreis bis der Tank leer ist“: Katharina fuhr mit dem Mietwagen, der klapperte und fauchte durch die Nacht und sie erinnerten sich an damals.

Sunny war zwei, als sie mit den Händen an das Krankenhausbett gefesselt war. Der Durst rieb wie Schmiergelpapier in ihrem Hals. Vater kam, löste die Fesseln, ließ sie trinken, hob sie hoch und trug sie nach Hause. Auf eigene Verantwortung riefen sie ihm hinterher.

Sunnys Vater kaufte Musikinstrumente, an die sie sich herantasteten und richtete ihr und ihren beiden Brüdern einen Proberaum unter seiner kleinen Tischlerwerkstatt ein.

Sunny traf Jessi zum ersten Mal in der Schulaula und sah verstohlen auf die feinen Narben an Jessis Handgelenken. Später fand sie heraus, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, was sie mit einer übergroßen Sonnenbrille zu verbergen suchte.

Katharina, das war die ohne Vater, er war weggegangen als sie noch ganz klein war. Sunny sah ihren Kummer, wenn sie anderen Vätern mit ihren Kindern beim Spiel zusah.

Alma, die vierte im Bunde hatte sie einmal mit ihrem Vater in der Stadt getroffen. Er war klein, sprachlos und seine Augen blickten nervös umher. Es war Alma unangenehm, dass Sunny ihn so angestarrt hatte.

Sie waren vier Mädchen, die nichts trennen konnte, bis sie älter wurden, ihre Berufe, andere Freundinnen fanden und das Band poröser wurde.

Fazit: Ein schönes Porträt über Freundschaft, unterschiedliche Herkunftsfamilien, über gesunde (nicht toxische) Männlichkeit, Verlust und den Umgang mit Trauer. Obwohl Anne Kanis eine Ich-Erzählung geschaffen hat, so authentisch wie ein Memoir oder eine Biografie, ist ihre Geschichte fiktiv. Voller Sensibilität erzählt sie die Freundschaft von vier Freund
innen, die sich einige Lebensjahre begleiten und die so unterschiedlich sind wie ihre Väter. Obwohl die Autorin viele traurig stimmende Momente einbringt, macht sie auch Mut, darüber, wie das Leben immer weiter geht und wie wir Herausforderungen meistern, um geläutert und/oder bestärkt daraus hervorzugehen. Ich habe mich in den Charakter von Sunnys Vater verliebt und dieses wunderbar bewegende Buch sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 22.05.2024

Das Psychogramm einer psychisch kranken Frau

Das Leben meiner Schwester
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Mathilde Pécheux ist Französischlehrerin und liebt Focault, den sie gerne im Unterricht durcharbeitet. Sie nimmt sich ganz besonders der Kinder an, die Lernschwierigkeiten zeigen und gibt auch Einzelunterricht. ...

Mathilde Pécheux ist Französischlehrerin und liebt Focault, den sie gerne im Unterricht durcharbeitet. Sie nimmt sich ganz besonders der Kinder an, die Lernschwierigkeiten zeigen und gibt auch Einzelunterricht.

Sie teilt ihr Bett seit fünf Jahren mit ihrem Freund Étienne, den sie in einer schwierigen Lebensphase kennenlernte, als die Liebe seines Lebens ihn verlassen hatte. Mathilde glaubt eine gute Partnerschaft zu haben, deswegen ist sie über Étiennes plötzliche Schweigsamkeit erstaunt. Doch weil sie keinen Druck ausüben möchte, lächelt sie seine Betrübnis einfach weg. Als Étienne ihr dann eröffnet, dass er auszieht, verliert Mathilde den Boden unter den Füßen.

Mathilde will Étiennes Entscheidung nicht verstehen, ruft ihn an, schreibt ihm, fühlt sich abserviert. Ein Freund von Étienne varrät ihr, dass Étienne wieder mit seiner Ex-Freundin zusammen ist, dass sie aus Australien zurückgekehrt ist. Mathilde kann den Verlust nicht hinnehmen, das Gefühl der Erniedrigung nagt an ihr.

Sie lässt sich von einer Therapeutin Krankschreiben, nimmt Beruhigungsmittel und quält sich mit ihren Gedanken an Étienne, glaubt, dass er erkennen wird, wie sehr er sie geliebt hat und dass er bald zu ihr zurückkommt.

Fazit: David Foenkinos hat das Psychogramm einer psychisch kranken Frau erstellt. Der Klappentext liest sich vielversprechend und verspricht Spannung, die der Autor nicht halten kann. Die Protagonistin ist extrem unsympathisch, ich habe in ihrem Charakter nichts gefunden, das auch nur ein Krümelchen Mitgefühl bei mir erzeugt hätte. Alle Frauen in der Geschichte werden einseitig dargestellt. Die Protagonistin ist neidisch, missgünstig, eifersüchtig, rachsüchtig, narzisstisch. Ihre Schwester naiv und oberflächlich. Eine Kollegin geschwätzig, selbstdarstellerisch und unsicher. Für mich hat der Autor jedes Klischee, dass es über Frauen gibt, ausgespielt. Das Ende der Geschichte ist absolut vorhersagbar. Wäre der Plot, ein wenig ausgefeilter, bezüglich der labilen Psyche, der Protagonistin gewesen, hätte mir das Lesen mehr Spaß gemacht. Der pathetische Ton hat mich eher abgeschreckt als in die Geschichte reingezogen. Das hat mir nicht besonders gefallen.

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Veröffentlicht am 16.05.2024

Wieder grandioses Kopfkino

Windstärke 17
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Das Malen hat Ida aufgegeben. Immer düsterer wurden ihre Bilder. Ihre Gedanken haben sich regelrecht darin verfangen. Jetzt schreibt sie, also schrieb, hat alles rausgelassen, bis zu dem Tag, als sie mit ...

Das Malen hat Ida aufgegeben. Immer düsterer wurden ihre Bilder. Ihre Gedanken haben sich regelrecht darin verfangen. Jetzt schreibt sie, also schrieb, hat alles rausgelassen, bis zu dem Tag, als sie mit ihrer besten Freundin Samara aus Prag zurückkam. An den Tag kann sie sich sehr genau erinnern. Während Prag vor ihrem inneren Blickwinkel verschwimmt, sieht sie immer wieder diese Bilder, die sie sah, nachdem sie die Haustür aufgeschlossen und die Treppe nach oben genommen hatte. Schon als sie in die Fröhlichstraße bog, sah sie im oberen Stock der 37, in der sie wohnte kein Licht. Doch eigentlich hätte sie Licht erwartet, weil ihre Mutter zuhause war. Wahrscheinlich lag die wieder besoffen auf der Couch.

Die AirPods dröhnten ihr „It’s my life“ ins Innenohr während sie die Wohnungstür aufschloss. Sie rannte ins Wohnzimmer, das aufgeräumt und sauber war, in die Küche, aufgeräumt und sauber. In Mamas Zimmer dann Mama im Bett, regungslos. Sie rief ihre Schwester Tilda an und brüllte ins Telefon, dass sie rangehen soll, regungslos.

Seitdem findet sie Mama jede Nacht auf, während sie im Bett liegt und an die dunkle Decke starrt. Seitdem überfallen sie regelmäßig die scharfkantigen Eiswürfel und schneiden sie in die Haut. Dann muss sie sich 4-7-8 stark aufs Atmen konzentrieren, wie Tildas Viktor es ihr gezeigt hat. 4 Sekunden einatmen, 7 anhalten, 8 ausatmen. Seitdem trägt sie das verlässliches Brüllen im Kopf und den Klumpen im Bauch, der besonders dann wächst, wenn sie mit Tilda telefoniert.

Fazit: Caroline Wahl ist ein Garant für grandiose Gegenwartsliteratur. Ihre Sprache hat eine so eigene Melodie, die ihre Protagonisten und Nebendarsteller so ganz und gar zeigt. In diesem Buch hat sie die Geschichte Tildas Schwester Ida erzählt, die im Gegensatz zu Tilda bei ihrer Mutter blieb. Die Autorin hat mit aller Konsequenz Idas Co-Abhängigkeit gezeigt. Ihren Selbsthass weil sie glaubt auf ganzer Linie versagt zu haben, die Schuldgefühle weil sie überzeugt ist, dass sie den Tod der Mutter hätte verhindern können wenn sie da geblieben wäre. Wie groß Idas Verantwortungsbewusstsein war. Aber nicht nur das, sie vermisst ihre Mutter auch und wird sich bewusst, wie sehr sie sie geliebt hat. All das überfordert die junge Ida und macht sie psychisch und psychosomatisch fertig. Caroline Wahl hat mich wieder an die Hand genommen, mich lachen, weinen und mit Ida mitleiden lassen. Und sie hat einige sehr hilfreiche und tröstliche Mitmenschen geschaffen, die Ida helfen können heil zu werden. Mit dieser Art Kopfkino zu erzeugen, bewegt Caroline Wahl sich ganz weit vorne.

Im Grunde ist dieses Buch, die Fortsetzung von ihrem Debüt 22 Bahnen, das auch schon ein riesiges Lesevergnügen war.

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Veröffentlicht am 15.05.2024

Was für eine großartige atmosphärische Geschichte

Malnata
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Schwer lag er auf ihr, die Augen glasig. Er hatte sein Knie zwischen ihre Oberschenkel gerammt. Hinter ihm sah sie Malnata, die wollte, dass er aufhörte und tat, was getan werden musste …

Die junge Francesca, ...

Schwer lag er auf ihr, die Augen glasig. Er hatte sein Knie zwischen ihre Oberschenkel gerammt. Hinter ihm sah sie Malnata, die wollte, dass er aufhörte und tat, was getan werden musste …

Die junge Francesca, fast noch ein Kind, lehnt sich jeden Sonntag über die Brüstung und sucht das Flussufer nach ihr ab, sieht, wie sie mit nackten Füßen und schmutzigem Rock mit den beiden Jungs über die Kiesel läuft und wäre so gerne ein Teil von ihr.

Wenn die Malnata in ihren ausgetretenen Sandalen an ihnen vorbei über das Kopfsteinpflaster von Monza schlurfte, mit erhobenem Kinn und in Begleitung von zwei älteren Jungen, beeilen sich die Frauen das Kreuz zu schlagen und ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken, und die Männer spucken auf den Boden. S.22

Die Maddalena hat den Teufel im Leib sagt man, man sieht es am Sturm in ihren Augen. Alle nennen sie Malnata, was Unglück bedeutet, denn genau das macht sie, Unglück über die Menschen bringen, die ihr nah sind.

Als Francescas kleiner Bruder starb war die Mutter unglücklich, aber davor war sie es auch. Sie stand auf der Bühne kurz bevor sie Francescas Vater kennenlernte, glaubte, er würde eine große Schauspielerin aus ihr machen. Nachdem sie ihm zwei Kinder geschenkt, die er sich gewünscht hatte, war ihr Gesicht, der Bauch und die Hüften breiter geworden. Jetzt lässt sie sich vom Signore Colombo tief in die Augen schauen, wenn sie Sonntags die Messe besuchen, der mit dem Automobil und der Parteizugehörigkeit.

Vater sprach kaum noch mit ihr. Sie lebten stumm beieinanderher und hielten Abstand wie zwei alte Hunde auf dem selben Hof, die schon lange kein Interesse mehr am Duft des anderen haben. S. 43

In der Schule muss Francesca jeden Morgen den Duce ehren. Sich wie die anderen neben ihren Stuhl stellen, den Arm ausstrecken und die Hand, in Richtung Mussolinis Bild recken. Manche Mädchen haben ein Foto von ihm im Pult, das sie verstohlen anlächeln.

Fazit: Was für eine gut erzählte atmosphärische Geschichte. Dank Beatrice Salvioni war ich 1935 in Monza, habe die Bewohner kennengelernt, den Zwist, die soziale Ungerechtigkeit, den Hang zu Aberglauben und Verteufeln. Es ist die Zeit der Faschisten, die Zeit in der Männer sich ungestraft nehmen können was sie wollen, weil sie die Krone der Schöpfung sind, als eine elfjährige unbeugsame, charakterstarke und wütende Protagonistin eine Freundin findet. Beide schon jung von ihren Müttern gebeutelt, geben sich gegenseitig Halt und Stärke in einer bösartigen Welt. Die Autorin hat so viele Gefühle in mir geweckt, dass ich das Buch nur als Glanzstück bezeichnen kann. Trotz der schwierigen Themen ist es mit großer Leichtigkeit zu lesen. Chapeau!

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Veröffentlicht am 14.05.2024

Ein Buch über weibliche Selbstermächtigung

Sorry not sorry
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Anika Landsteiner stellt sich der Frage warum wir Frauen besonders häufig dieses mulmige Gefühl der Scham verspüren und beginnt ihre Suche mit dem Beispiel ihrer Großmutter. Die Familie verbot dieser, ...

Anika Landsteiner stellt sich der Frage warum wir Frauen besonders häufig dieses mulmige Gefühl der Scham verspüren und beginnt ihre Suche mit dem Beispiel ihrer Großmutter. Die Familie verbot dieser, darüber zu sprechen, was mehrere Männer ihr angetan hatten, zu groß sei die Angst vor der Schande für die Familie gewesen.

Die Autorin rollt Einzelheiten aus der Geschichte auf, die sie in anschließenden Kapiteln genauer beleuchtet. Beginnend bei Adam und Eva, die erst in das Gefühl von Scham kamen, nachdem Eva den verbotenen Apfel gekostet hat und dann von Gott beschämt wurde, weil sie nicht auf ihn gehört hatte. Die schwache Eva hatte sich von der Schlange veführen lassen und war fortan schuldig. Anika Landsteiner stilisiert Eva zur Galionsfigur der weiblichen Scham.

Damit wäre die Schuldfrage geklärt. Was dazu führt, dass Frauen der Gesellschaft etwas schulden. „Sie müssen stets etwas leisten, um die Schuld und ihre Schwäche abzubauen“. S. 13

An zahlreichen archetypischen Beispielen erläutert die Autorin, wie die Rollenbilder in unseren Köpfen entstanden sind. Sie hält die Scham für ein Werkzeug patriarchaler Unterdrückung, die auf zwei Wegen spürbar gemacht wird:

1. Du bist nicht genug
2. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?

Sie spricht über die Sexualisierung gerade heranwachsender weiblicher Körper, eine ganze Beauty Industrie, die uns Frauen bombadiert und Bedürfnisse weckt. Über den Gender-Gap, Care-Arbeit und die Institution der Ehe. Die Menstruation, Endometriose, Abtreibung und das Altern, übergriffige und gewalttätige misogyne Männer und Anika Landsteiner spricht über sich und bringt zahlreiche Beispiele aus ihrem Leben ein.

Fazit: In diesem Buch stecken reichlich Informationen über die immer noch systemische Benachteiligung von Frauen, die gesellschaftliche Akzeptanz finden. Ich mag die Intention, ein Buch für weibliche Selbstermächtigung zu schreiben sehr, weil es helfen kann, Missstände bewusst zu machen. Ich finde auch, dass man gar nicht genug auf Stereotype hinweisen kann und dass wir Frauen weniger perfekt und im Tausch entspannter sein könnten. Manche Aussagen hätte ich mir allerdings besser untermauert gewünscht, mehr Fakten weniger Behauptungen. So glaubt sie zu wissen, dass viele Frauen sich während der Menstruation unter Schmerzen zur Arbeit schleppen, weil die Scham zu groß sei, wegen Unterleibschmerzen zu Hause zu bleiben. Ich denke, wer sich krank meldet, muss keine Gründe angeben, es geht niemanden etwas an, was eine*n kränkeln lässt.

Viele Frauen seien wenige Tage nach ihrer Hochzeit enttäuscht und zeigten depressive Verstimmungen. Da denke ich, das ist etwas einseitig dargestellt. Es geht den Männern nicht anders, denn auf der Life-Event-Skala erreichen Männer, was den Stresslevel, durch die vermutete Erwartungshaltung an sie, stets eine Familie versorgen zu können, angeht, 10 von 10 Punkten. Wir sind eben alle geprägt von bestimmten Rollenbildern, die uns mehr schaden als dass sie Sinn ergeben. Manche Kapitel fand ich ermüdend, was glaube ich daran liegt, dass sie nah an „Was wollt ihr denn noch alles?“ von Alexandra Zykunov schreibt. Am besten fand ich die beiden letzten Kapitel über Misogynie und die #metoo Debatte. Da schien sie sich eingeschrieben zu haben, weswegen Reichelt, Valentin Moritz, Trump und Lindemann ihr wohlverdientes Fett abgekriegt haben. Ab da hat mir das Buch so richtig Spaß gemacht. Gerne möchte ich an dieser Stelle abschließend auch ihren Roman „Nachts erzähle ich dir alles“ empfehlen, den ich großartig fand.

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