Profilbild von MarionHH

MarionHH

Lesejury Profi
offline

MarionHH ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit MarionHH über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.07.2022

Drei Frauen, zwei Zeitebenen - männlicher Verrat und weibliche Solidarität

Die versteckte Apotheke
0

London, 1791: In einer geheimen Kammer mischt die Apothekerin Nella nicht nur Heiltränke – hinter vorgehaltener Hand wird diese Kunde verbreitet, und in heimlich übermittelten Briefen werden Aufträge für ...

London, 1791: In einer geheimen Kammer mischt die Apothekerin Nella nicht nur Heiltränke – hinter vorgehaltener Hand wird diese Kunde verbreitet, und in heimlich übermittelten Briefen werden Aufträge für Mittel erteilt, die für manche Männer tödlich sind. Als die junge Eliza im Auftrag ihrer Herrin in Nellas Leben tritt, ist auf einmal nichts mehr, wie es war. Nella lässt Eliza näher an sich herankommen, als ihr lieb ist, und auf einmal soll bei einem Auftrag kein Mann sterben, sondern eine Frau. Im London der Gegenwart kämpft die junge Caroline mit dem Betrug ihres Mannes und nutzt kurz entschlossen ihre Hochzeitsreise nach London, um ihr Leben und ihre Ehe zu überdenken. Als sie spontan bei einer Mudlarking-Tour, der Suche nach Dingen im Schlamm der Themse, ein altes Apothekerfläschchen findet, ist ihr Spürsinn geweckt und sie gräbt sich immer tiefer in die Geheimnisse der Geschichte....

Großartiger und spannender Roman mit zwei, nein drei faszinierenden Frauenfiguren, auf zwei Zeitebenen in drei verschiedenen Perspektiven erzählt, der wirklich von der ersten Zeile an fesselt und in die aufregende Welt der Pflanzen und Gifte entführt, aber auch in eine Welt der männlichen Dominanz, in der sich Frauen ein geheimes Netzwerk aufbauen und sich gegenseitig helfen und sich gegen ihre Peiniger wehren. Die Autorin versteht es meisterhaft, die beiden Zeitebenen und ihre Protagonisten autark und selbständig voneinander aufleben zu lassen und sie gleichzeitig subtil und stark miteinander zu verknüpfen. In dem Maße, wie Caroline mehr und mehr in das Zeitalter und in Nellas Geschichte eintaucht und über sie herausfindet, erfährt der Leser auf deren eigener Ebene von den wahren Ereignissen. Beide Ebenen und alle drei Perspektiven sind gleichermaßen spannend und kein Bericht wiederholt sich, man erhält vielmehr intensive Einblicke in die Gefühlswelt der jeweiligen Erzählerin, die allesamt in der Ich-Form erzählen und viel von ihren Ängsten und Geheimnissen preis geben. Der Leser ist aber dennoch nicht allwissend, erfährt Dinge in demselben Maße wie die Protagonisten. So ergibt sich nach und nach ein Bild der Ereignisse im Februar 1791 in einer Zeitspanne von nur zehn Tagen, in der sich für Nella und Eliza ihr Leben komplett verändert. Parallel dazu braucht Caroline fünf Tage, während der sie sich tief in die Geschichte des Fläschchens hineingräbt und unglaubliche Dinge entdeckt und nebenbei ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf und in Frage stellt.

Das Motiv, das in beiden Ebenen die Hauptrolle spielt, ist die emotionale Abhängigkeit von Männern und ihr Verrat an Frauen. Die Dominanz und die Tatsache, dass sich Männer zu damaligen Zeiten nahezu alles erlauben konnten, führt zu dem geheimen Netzwerk der Frauen und letztendlich dazu, dass sie sich auf drastische Weise von ihren Peinigern befreien und die Männer so zu Opfern machen. Nella ist solidarisch mit Frauen, sie behandelt nur Frauenleiden und hilft ihren Auftraggeberinnen aus Gewalt und Abhängigkeit. Auch bei Caroline spielt die Emanzipation und die Befreiung von ihrem Mann eine große Rolle. Nach seinem Betrug besinnt sie sich auf einmal auf ihre vergessenen und unterdrückten Stärken und sie bekommt Hilfe von einer anderen Frau, auf die sich in Krisenzeiten ebenso verlassen kann wie Nella auf Eliza. Vertrauen, sich aufeinander einlassen, die Stärken ausspielen gegen alle Widerstände, das müssen all drei Frauen erst lernen, und sie lernen von ihren unverhofften Bekanntschaften, die zu Freundinnen werden, wie auch voneinander. Zwei weitere Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch die zwei Zeiten. Sowohl bei Nella als auch bei Caroline spielt der Kinderwunsch eine große Rolle, mit dem Verrat der jeweiligen Männer wird jede von ihnen jedoch gezwungen, sich anderen Aufgaben zu widmen. Und auch die letzte Auftraggeberin tritt aufgrund des Verrats ihres Ehemannes und ihren eigenen Kinderwunsch an Nella heran, und auch ihr wird dieser Wunsch verwehrt. Das zweite, vielleicht etwas kleinere und eher mystische Motiv ist das der Geister. Eliza wird durch die Angst vor dem Geist ihres – von ihr ermordeten Herrn – getrieben und auch für Caroline schwebt der Geist Nellas und Elizas stets über ihr. Die drei Frauen sind jedenfalls aufs Engste miteinander verbunden, und Quintessenz ist und bleibt, dass Geheimnisse zu bewahren auf Dauer krank macht. Erst die Aufarbeitung schlimmer Erlebnisse und die Besinnung auf alte Stärken bringt die Frauen dazu, ihren eigenen erfolgreichen Weg zu gehen.

Fazit: Uneingeschränktes Lesevergnügen mit tollen Settings und Charakteren, wundervoller Schreibstil, ein stilvoll gebundenes Buch und herrliche Zusätze wie eine Karte des alten London und – skurrilerweise – Auszüge aus Nellas Giftapotheke sowie Rezepte – mehr geht nicht. Man taucht ein und vergisst alles um sich herum, es ist einfach, mit Nella, Eliza und Caroline mit zu leben und ihrem Streben, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, zu folgen. Einfach toll!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.06.2022

Gesine Felber, die Friesenbrauerin, ermittelt - Gelungener Auftakt zu neuer Reihe

Die Leiche am Deich
0

An sich können die Sünnumer nicht meckern: Sie leben an einem idyllischen kleinen Örtchen, der zwar nicht auf google Maps auftaucht, trotzdem aber von Touristen besucht wird, so dass sie sich mit Wattführungen ...

An sich können die Sünnumer nicht meckern: Sie leben an einem idyllischen kleinen Örtchen, der zwar nicht auf google Maps auftaucht, trotzdem aber von Touristen besucht wird, so dass sie sich mit Wattführungen und anderen Aktivitäten etwas zu ihrer Landwirtschaft hinzu verdienen können. Herz und Mittelpunkt des Örtchens ist die Friesenbrauerin Gesine Felber, wegen ihres gern gesponnenen Seemannsgarns Tüdelbüdel genannt, die sowohl die einzige Gastwirtschaft, den Kroog, als auch das einzige Lädchen in Sünnum betreibt. Die Idylle wird empfindlich getrübt, als der Milchbauer Burmeister große Ländereien der Bauern aufkauft, um eine Milchfabrik zu errichten. Ein Grundstück fehlt ihm noch, doch der Besitzer stellt sich stur. Da wird eine Leiche angespült, und schnell stellt sich heraus: Es ist Burmeisters Ehefrau Kerstin...

Oha da ist mächtig etwas los im gar nicht so beschaulichen Sünnum! Wer einen Cosy Krimi erwartet hat, wird überrascht sein, denn der Fall gestaltet sich wider Erwarten komplexer als gedacht, und die schnell gefundenen und verhafteten Verdächtigen sind keinesfalls eindeutig überführt. Mit viel Wortwitz, norddeutscher Coolness und friesischer Bauernschläue lässt der Autor seine Protagonisten agieren, die zunächst als sympathisch-trottelige Landeier rüberkommen. Aber Obacht! Auch wenn Friesenbrauerin Gesines Tüdelbräu so manches oberflächliche Problem löst, kocht die Stimmung doch ganz schön hoch, und bald geschehen weitere Verbrechen und ein Mob tobt durch Sünnum und will Lynchjustiz üben. Da ist Schluss mit lustig. Aber auch wenn die Verbrechen nicht ohne sind und die Lösung nicht sofort offen auf der Hand liegt, ist der Grundton der Geschichte eher humorvoll. Der Autor versteht es sehr gut, seinen Figuren Leben einzuhauchen und sie bei aller Originalität nicht flach oder zu klischeehaft werden zu lassen.

Der Charakter, auf den sich alles stützt, Hauptfigur und vorrangige Sympathieträgerin ist natürlich die Friesenbrauerin Gesine, die mit viel Herz und Empathie alles zusammenhält. Eine ehemaliger Alt-68erin, die weiß, wie man demonstriert und sich der Obrigkeit gegenüber verhält. Pikant, dass ausgerechnet ihre Tochter Wiebke Ordnungshüterin ist und sich als solche an die Vorschriften halten muss. Gesine ist die dominante Figur, aus deren Sichtweise meist erzählt wird, und man folgt ihr gerne und lebt mit ihr mit, wie sie sich mehr als einmal in brenzlige Situationen bringt. Ich fand aber auch die Perspektive des Bösewichts Burmeister gut, die sehr gut seine Motive und Denke offenbart, und als Sympathieträger hat natürlich der brummige alte Seebär Joris viel Potential, der immer zur Stelle ist, wenn man ihn braucht. Teilweise bleiben die anderen Figuren neben diesen etwas flach, und mir war Gesine oft etwas zu militant und störrisch in ihren Aktionen, die meist wenig durchdacht und sehr von ihren Emotionen geprägt sind. Die Ausarbeitung der Charaktere hat durchaus noch Luft nach oben, und auch das Stilmittel, Sätze unvollendet und von anderen beenden zu lassen, wird mir zu inflationär eingesetzt. Alles in allem aber ein schöner Ostfrieslandkrimi mit liebenswerten Figuren und viel Lokalkolorit.

Fazit: Gelungener Auftakt in die neue Reihe um die Friesenbrauerin Gesine im idyllischen – fiktiven – Sünnum. Eine gewisse Affinität zu Norddeutschland und Platt sollte man haben, es hilft ungemein, die Ausdrücke zu verstehen. Aber gerade das macht die Menschen und die Geschichte authentisch und interessant. Wer akribische Ermittler und handfeste Polizeiarbeit möchte, ist hier falsch, wer aber empathische Figuren und witzige Dialoge mag, eingebettet in friesisch-herber Landschaft mit viel lokalem Flair, wird diese neue Reihe lieben!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.06.2022

Auftakt der Bloomsbury Saga – Virginia, die Bloomsbury Group und die Kunst des Schreibens

Die Liebenden von Bloomsbury – Virginia und die neue Zeit
0

London, 1904: Nach dem Tod ihres Vaters ziehen die Geschwister Stephen - Thoby, Vanessa, Virginia und Adrian - aus dem Elternhaus im noblen Stadtteil Kensington, in dem sie mit ihren Halbgeschwistern gewohnt ...

London, 1904: Nach dem Tod ihres Vaters ziehen die Geschwister Stephen - Thoby, Vanessa, Virginia und Adrian - aus dem Elternhaus im noblen Stadtteil Kensington, in dem sie mit ihren Halbgeschwistern gewohnt haben, nach Bloomsbury. In der von Standesdünkeln und strengen Etiketten beherrschten noblen Gesellschaft kommt dies gar nicht gut an, doch für die Geschwister ist es eine Erleichterung und Befreiung. Besonders die beiden Schwestern Vanessa und Virginia sind eng verbunden und haben jede ein großes künstlerisches Talent: Vanessa als Malerin, Virginia als Schriftstellerin. Obwohl sie keine Schulausbildung haben, nehmen sie teil an den wöchentlichen Sitzungen der von ihrem Bruder Thoby mit seinen Studienkollegen gegründeten Bloomsbury Gruppe. Besonders Virginia besticht bald mit ihren klugen Bemerkungen zum Thema Literatur.

Ein wundervoller Roman über die Schwestern Vanessa und Virginia Stephen und deren Abnabelung von ihren dominanten und übergriffigen Halbbrüdern. Gleichzeitig eine Hommage an die Bloomsberries, die Gruppe junger Menschen, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Hause der Stephen-Geschwister im Londoner Stadtteil Bloomsbury gegründet wurde und die das enge viktorianische Korsett in Frage stellten, über Politik, Literatur und Philosophie diskutierten und offen über Sexualität sprachen. In einer Zeit, in der alle Rechte beim männlichen Geschlecht lagen, Homosexualität mit Gefängnis bestraft wurde und Frauen weder wählen durften noch zu einer höheren Bildung zugelassen wurden, keinen Beruf ergreifen, ja nicht einmal allein wohnen oder reisen durften, setzen sich diese jungen Leute, die alle eine viktorianische Erziehung erhalten hatten, über die Schranken hinweg und leben, soweit möglich, ihre Talente und Neigungen aus. Mit ihren klaren Worten und sarkastischen Schriften brechen sie Tabus, kämpfen für freie Entfaltung und sprengen gesellschaftliche und moralische Zwänge.

Der Autorin gelingt ein außerordentlicher Spagat zwischen historischen Ereignissen, wahren Erlebnissen der Protagonisten sowie deren Gefühls- und Gedankenwelt und fiktiven Dialogen und Handlungen. Hervorragend recherchiert lässt sie das viktorianische England, besonders London, und andere europäische Schauplätze authentisch und lebendig auferstehen, macht historische Personen zu realen Menschen, gibt ihnen Persönlichkeit und lässt den Leser eintauchen in ihre Welt. Die fortlaufenden Kapitel, jeweils überschrieben mit Ortsangabe und Datum, sind keineswegs eine stumpfe Aneinanderreihung von Geschehnissen. Obwohl ein recht geringer Zeitraum betrachtet wird – nämlich Dezember 1904 bis Mai 1909 – beschreibt die Handlung ausführlich einschneidende Ereignisse im Leben von Virginia und Vanessa und widmet sich zudem ausgiebig und kritisch den wichtigen Fragen der Zeit, wie Frauenrechte und gesellschaftliche Klassenunterschiede. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt und durch die Einschübe von Briefen perfektioniert erhält der Leser aber auch tiefe und intime Einblicke in die Gefühlswelt anderer Protagonisten, etwa Lytton Strachey oder Clive Bells, die bei weitem nicht zu reinen Nebenfiguren verkommen, sondern hervorragend herausgearbeitete, vielschichtige und komplexe Charaktere sind, mit denen man ebenfalls mit lebt. Mir gingen besonders Stracheys unerfüllte Liebe und sein Hadern mit seinem Leben und seiner Homosexualität zu Herzen.

Besonderer Fokus wird auf Virginia und ihre erwachenden literarischen Ambitionen gelegt. Die sensible und hochintelligente junge Frau hat eine labile Persönlichkeit, neigt zum Grübeln und leidet an manisch-depressiven Schüben. Gleichzeitig jedoch sprüht sie vor genialem Wortwitz, tiefschürfenden Gedanken und überbordender Fantasie. Ihre Kindheit war von strenger viktorianischer Erziehung und männlicher Dominanz geprägt. Die Autorin nennt auch explizit den Missbrauch durch den Halbbruder George beim Namen, der möglicherweise der Grund für ihre Krankheit und ihre Abneigung Männern gegenüber ist. Sie bezeichnet sich selbst als Sapphistin, also als jemanden, der Frauen liebt, doch zu dem einem oder anderen der Bloomsbury Gruppe hat sie ebenfalls eine enge freundschaftliche Beziehung. Besonderer Fixpunkt in ihrem Leben ist ihre Schwester Vanessa. Die beiden lieben sich sehr, sind aber gleichzeitig das Gegenstück der anderen. Sie neiden einander das Talent, dürsten aber gleichzeitig nach dem Lob der anderen. Als Vanessa heiratet und Virginia ausziehen muss, drängt sie sich doch immer wieder in das Leben und die Ehe ihrer Schwester. Ihre Hauptbeschäftigung ist schreiben - Briefe, Essays und anderes - und auch ihren Lebensunterhalt verdient sie mit Artikeln und Rezensionen (ihr Unterricht am Morley College wird nicht erwähnt, vielleicht weil es den Rahmen gesprengt hätte). Befeuert durch die Teilnahme am intellektuellen Zirkel der Bloomsberries und den Lobeshymnen ihres Schwagers Clive Bells beginnt sie außerdem ihren ersten Roman. Obwohl sie freizügig mitdiskutiert, thematisiert sie nie die Übergriffe ihres Bruders George. Virginia ist – wie auch ihre Zeitgenossen – absolut ein Kind ihrer Zeit, zwar voller Hoffnung auf Veränderung - der Befreiung von moralischen Zwängen und der männlichen Dominanz - und mit liberaler Grundeinstellung, aber dennoch gefangen in den viktorianischen Fesseln, deren Dogmen man ihr eingebläut hat. Doch trotz aller Schicksals- und Rückschläge weiß sie, dass sie ihre Bestimmung mit dem Schreiben gefunden hat.

Fazit: Eine wundervolle, zutiefst berührende Geschichte, ein literarisches Denkmal und ein großartiger historischer Roman – der Autorin ist ein hervorragender Einstieg in die Reihe gelungen, die nicht nur Lust auf die weiteren Bände macht, sondern auch zum Nachdenken anregt. Ich war begeistert von dem gehobenen und doch sehr eingängigen Schreibstil und gefesselt von den intensiven und faszinierenden Charakteren, und mich regte es sehr an, mich näher mit Virginia Woolf, ihrer Zeit und ihren Zeitgenossen zu befassen. Die Folgebände werden sich mit Vanessa Stephen/Bell und mit Vita Sackville-West beschäftigen, und damit wird auch Virginias Lebensgeschichte fortgeführt – ich freue mich drauf!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.05.2022

Neue aufregende Ereignisse um die Hafenärztin im Hamburg der Kaiserzeit

Die Hafenärztin. Ein Leben für das Glück der Kinder (Hafenärztin 2)
0

Nach den schrecklichen Ereignissen im November 1910 ist das Leben für die Ärztin Anne Fitzpatrick, die Pastorentochter Helene Curtius und den Kriminalkommissar Berthold Rheydt in Hamburg weiter gegangen. ...

Nach den schrecklichen Ereignissen im November 1910 ist das Leben für die Ärztin Anne Fitzpatrick, die Pastorentochter Helene Curtius und den Kriminalkommissar Berthold Rheydt in Hamburg weiter gegangen. Im März des Jahres 1911 steht Helene kurz vor dem Abschluss im Lehrerinnenseminar und macht ein Praktikum in den Auswandererhallen von Albert Ballin auf der Veddel, wo auch Anne neben ihrer eigenen Praxis als Urlaubsvertretung arbeitet. Als das erste Kind stirbt, denkt man sich noch nichts Schlimmes - das passiert eben. Als das zweite stirbt, glaubt man an eine Choleraepidemie, doch Anne kennt die Symptome, diese sind anders. Alles deutet auf eine Vergiftung hin. Sie beginnt eigene Forschungen anzustellen. Gleichzeitig wird Berthold ins Verbrecherviertel gerufen: Ein jüdischer Krimineller wurde ermordet, neben ihm ein Giftkoffer. Außerdem verschwindet ein jüdisches Auswanderermädchen und eine Gruppe junger Frauen macht mit Überfällen von sich reden. Hängt dies alles zusammen, und können die drei, ähnlich wie im November, ihre Kräfte vereinen und gemeinsam dieses Wirrwarr lösen?

Packend geschriebene, spannende Fortsetzung des ersten Bandes um die Hafenärztin Anne Fitzpatrick, die mit Helene und Berthold zwei ebenbürtige, starke Charaktere an ihrer Seite hat. In bewährter Manier verknüpft die Autorin sehr gekonnt verschiedene Handlungsstränge, die erst einmal nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, und erzählt aus den Perspektiven der drei Hauptprotagonisten Anne, Helene und Berthold eine stringente und homogene Geschichte. Dabei bleibt sie ihrem Stil treu und verwebt einen Kriminalfall im “Milieu" und den damit einher gehenden Ermittlungen der Kriminalpolizei mit den Erlebnissen der aufstrebenden Bürgerstochter Helene und der für Frauenrechte kämpfenden Ärztin Anne und zeigt dabei durchaus auch gesellschaftskritische Ansätze, indem sie etwa den menschenverachtenden Umgang mit den Auswanderern oder den bereits zutage tretenden Antisemitismus aufzeigt. Wie im ersten Band verlaufen die Ereignisse zunächst parallel und werden aus den drei verschiedene Sichtweisen erzählt, ohne jedoch inhaltlich etwas zu wiederholen. Der Leser erhält so Einblicke in das Familienleben Helenes und das Seelenleben und die Gedankenwelt aller drei Hauptfiguren. Nach und nach verbinden sich dann die Erzählstränge miteinander, in dem Maße wie die Protagonisten miteinader interagieren und sich über ihre Erkenntnisse austauschen. Im Vordergrund steht hierbei nicht nur ein Aspekt, etwa die Ermittlungsarbeit oder nur gesellschaftliche Belange, vielmehr ergibt sich aus allen Aspekten ein großes Ganzes. Die Fälle selbst nehmen jedoch gehörig Fahrt auf und sind komplexer als zunächst angenommen.

Mir gefallen nach wie vor alle drei Protagonisten ganz hervorragend, wie schon im ersten Band lebte ich sofort mit allen dreien intensiv mit. Mich begeisterten Helenes Energie und Empathie ebenso sehr wie Bertholds Hartnäckigkeit und Verletzlichkeit und Annes ärztliches Können. Obwohl sie aus drei unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten kommen und diese auch verkörpern, bündeln sie ihre Kräfte für den Kampf um Gerechtigkeit, so dass die Klassenunterschiede nach und nach verschwimmen. Ein jeder hat sein Päckchen zu tragen, selbst die unverbrauchte Helene, und als vielschichtige und intelligente Persönlichkeiten, die sie alle sind, reflektieren sie permanent ihr Tun und hinterfragen die bestehende Ordnung. Alle hängen in ihren Metiers neuen Methoden und Denkweisen an und brechen aus starren Strukturen aus. Schön fand ich außerdem, dass auch die Polizeitruppe um Rheydt zueinander findet und deren Geschichte ebenfalls weiter erzählt wird. Auch wenn die Nebenfiguren neben den drei Hauptpersonen mitunter ein wenig verblassen, sind sie doch gut charakterisiert und sie tragen maßgeblich zum Handlungsfortschritt bei. Der Mordfall, das verschwundene Mädchen, die geheimnvolle Frauentruppe - all das ist in sich spannend und ich fand es sehr schlüssig und gekonnt, wie die Autorin alles zu einem großen Ganzen verknüpft.

Fazit: Sehr gut gelungene Fortsetzung der Hafenärztin Anne und ihre Mitstreiter Helene und Berthold, die sich wieder ausgesprochen flüssig und eingängig lesen lässt und sofort fesselt. Meines Erachtens lässt sich zwar Band 2 auch ohne Kenntnis von Band 1 lesen, es werden durchaus knappe Rückblenden gegeben, aber erstens ist es schade um die schöne Geschichte, die man verpassen würde, und zweitens trifft man als geneigter Leser lieb gewonnene Figuren wieder, deren Leben weitergeführt wird, und man versteht die Hintergründe der Figuren sehr viel besser. Die Autorin hat eine schönen, gut zu lesenden Schreibstil, besticht durch authentische Beschreibungen des historischen Hamburgs und der gesellschaftlichen Gegebenheiten und haucht ihren Figuren viel Leben ein. Der Kriminalfall ist zur Zufriedenheit gelöst, die Geschichte um Anne, Helene und Berthold jedoch geht weiter!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2022

Mehrere Kriminalgeschichten in einem Buch – Horowitz at its best!

Der Tote aus Zimmer 12
0

Da bekommt man etwas für sein Geld! Gleich mehrere Kriminalgeschichten vereint dieser Band. Aber von Anfang an: Susan Ryeland hat sich nach dem verstörenden Todesfall ihres Erfolgsautors Alan Conway aus ...

Da bekommt man etwas für sein Geld! Gleich mehrere Kriminalgeschichten vereint dieser Band. Aber von Anfang an: Susan Ryeland hat sich nach dem verstörenden Todesfall ihres Erfolgsautors Alan Conway aus dem Verlagsgeschäft zurückgezogen und führt nun ein Hotel auf Kreta mit ihrem griechischen Lebensgefährten Andreas. So richtig prickelnd läuft es nicht. Da kommt ihr der Auftrag des Hotelehepaares Treherne gerade recht: Sie soll herausfinden, was das Verschwinden der Treherne-Tochter Cecily mit einem Band von Conways Atticus-Pünd-Reihe zu tun hat. Es winken Abwechslung und jede Menge Geld. Leider gestalten sich die Ermittlungen weitaus schwieriger als gedacht und Susan gerät in einen Sumpf aus Intrigen und Lügen und in Lebensgefahr.

Besser geht es nicht: ein unglaublich intelligenter, raffiniert verschachtelter und hervorragend geschriebener Kriminalroman. Der Autor versteht es blendend, eine Geschichte in die andere einzubetten, ohne langatmig oder zwanghaft konstruiert zu wirken. Dabei bedingt eine Geschichte die andere, sie bauen aufeinander auf und brauchen einander wie der Fisch das Wasser. Zunächst einmal kommt das Hardcover als schön gebundenes Buch mit sehr gelungen gestaltetem Einband daher. Die fortlaufenden Kapitel sind mit treffenden Überschriften versehen. Dieser Stil wird bei der im Buch eingebetteten Atticus unterwegs-Geschichte fortgeführt und auch danach beibehalten. Ein Fall ergibt sich aus dem anderen: Der Atticus-Roman aus dem Mord an Frank Parris vor acht Jahren und Cecilys Verschwinden, das Susan untersuchen soll, wiederum aus dem Lesen des Atticus-Romans. De facto hat Susan also zwei Fragen zu klären: Ist der Verurteilte schuldig oder unschuldig und was geschah mit Cecily?

Susans Ermittlungen beginnen recht harmlos, sie bekommt eine Suite im renommierten Hotel der Trehernes, freie Kost und Logis und die Möglichkeit mit allen Beteiligten zu reden. Nebenbei spricht sie mit jeder Menge Bekannten und merkt, wie sie das Verlagswesen und London vermisst hat und hinterfragt ihr Leben und ihre Beziehung zu Andreas. Als Charakter ist sie dennoch nicht übertrieben emotional, eher rational und strukturiert, ihr Verstand arbeitet analytisch, sie verliert ihr Ziel nie aus dem Blick und entspricht hierin ihrem Pendant Atticus Pünd. Beide gehen empirisch vor und finden noch die kleinste Abweichung und Besonderheit und den geringsten Widerspruch in einer Aussage. Bis sie – und damit der Leser – Atticus unterwegs liest, vergeht geraume Zeit, in der sie Aussagen und Eindrücke sammelt. Dies ist notwendig, um die Zusammenhänge zu verstehen und die Verbindungen zwischen den Fällen herzustellen. Susan schaut jedoch über den Tellerrand und muss in diesem Fall noch weiter als die acht Jahre bis zum Mord zurückgehen. Hierbei kommt ihr zugute, dass sie den Autor Conway fast so gut kannte wie sich selbst und noch immer sehr gute Kontakte zu seinem näheren Umfeld hat. Conway, nicht gerade ein sympathischer Zeitgenosse, aber ein kluger Beobachter, hat jede Menge Hinweise hinterlassen. Diese zu erkennen und die Schlüsse daraus zu ziehen kostet Susans ganze Konzentration. Beides sind starke Persönlichkeiten, Susan ist aber in der Geschichte die hauptsächlich agierende Protagonistin, auf die sich die Handlung fokussiert und aus deren Sicht erzählt wird. Dementsprechend lebt und ermittelt man sehr intensiv mit ihr mit, am liebsten würde man sich einklinken und mit ihr die Fakten durchgehen. Der Geist Conways scheint dennoch immer über allem zu schweben. Susan übernimmt sogar – wenn auch nicht ganz freiwillig - seine Vorliebe, am Schluss die Hauptakteure zu versammeln und in einer ausführlichen Rede die Lösung zu präsentieren. Hierbei wird deutlich, dass jedes noch so kleines Detail, das Susan zusammengetragen hat, wichtig war, und jedes Gespräch, das sie geführt hat, etwas zur Lösung beigetragen hat.
Es ist meines Erachtens für den Leser durchaus von Vorteil, den Vorgänger-Band Die Morde in Pye Hall zu kennen, denn es gibt einige Verweise, man kennt einfach die Charaktereigenschaften und das Verhältnis von Susans und Conway. Zwangsläufig schienen mir die weiteren Protagonisten schwächer dargestellt zu sein, es gibt jedoch bei allen sehr klar zugewiesene Eigenschaften mit hohem Wiederkennungswert und viele Protagonisten, die sehr vielschichtig und interessant gezeichnet sind, zum Beispiel Cecilys Schwester Lisa oder der zuständige Ermittler Locke.

Fazit: Eine großartige Kriminalgeschichte verwoben mit einer klassischen Detektivgeschichte mit starker Heldin, die Spürnasenqualitäten aufweist und sich nicht ins Bockshorn jagen lässt. Man fiebert von der ersten Zeile an mit und es wird dringend empfohlen, das Ganze sehr aufmerksam zu lesen und sich nichts entgehen zu lassen. So erschließt sich einem nach und nach eine stringente und klug konstruierte Geschichte, die ungemein fesselt und einen nicht mehr loslässt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere