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Veröffentlicht am 18.06.2025

Ein konstruierter Roman ohne Tiefe und Poesie

Strandgut
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Mit „Offene See“ gelang Benjamin Myers ein literarischer Überraschungserfolg, der vor allem im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Die berührende Geschichte um den jungen ...

Mit „Offene See“ gelang Benjamin Myers ein literarischer Überraschungserfolg, der vor allem im deutschsprachigen Raum mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Die berührende Geschichte um den jungen Robert und die exzentrische Dulcie war nicht nur feinfühlig erzählt, sondern zeichnete sich auch durch eine besondere Sprache und eine leise, aber eindringliche Atmosphäre aus – und umso gespannter war man nun auf seinen neuen Roman „Strandgut“, der vom Verlag nicht zufällig mit dem Erfolgsbuch in Verbindung gebracht wird. Doch handelt es sich in Wahrheit über eine vollkommen andere Art von Geschichte – und leider auch ein gänzlich anderes Leseerlebnis.
Im Zentrum von „Strandgut“ steht nicht mehr ein junger Mann am Beginn seines Lebenswegs, sondern Bucky, ein in die Jahre gekommener Soulsänger, der einst einen einzigen Hit hatte und seither in Vergessenheit geraten ist. Nach dem Tod seiner Frau lebt er ein freudloses, eintöniges Leben in den USA – bis ihn eines Tages überraschend die Einladung erreicht, in einer kleinen englischen Gemeinde aufzutreten. Die Reise über den Atlantik nimmt er spontan auf – ein ungewohnt impulsiver Schritt für jemanden, dessen Leben zuvor von Stillstand geprägt war.
Was zunächst wie der Auftakt zu einer bewegenden Selbsterkenntnis-Reise klingt, entwickelt sich leider bald zu einer eher schleppenden und wenig fesselnden Erzählung. Myers versucht durchaus, Buckys Vergangenheit zu beleuchten und seinen Charakter durch Erinnerungen und Reflexionen zu vertiefen. Doch anders als in „Offene See“ gelingt es ihm nicht, eine Figur zu schaffen, mit der man sich gerne auseinandersetzt oder die einen länger beschäftigt. Bucky wirkt oft grobschlächtig, unnahbar, mitunter sogar unsympathisch – was ihn als Hauptfigur schwer erträglich macht. Zwar bleibt er nicht blass, doch emotionale Nähe oder gar Empathie mag beim Lesen kaum entstehen.
Ähnlich problematisch sind auch die Nebenfiguren, insbesondere Dinah, die zweite zentrale Figur des Romans. Zwischen ihr und Bucky soll sich eine besondere Verbindung entwickeln – ähnlich wie zwischen Robert und Dulcie im Vorgängerroman. Doch wo dort ein literarischer Zauber entstand, bleibt die Beziehung in „Strandgut“ seltsam leblos. Zwar tauschen sich beide über ihre inneren Nöte aus, doch der emotionale Gehalt wirkt konstruiert, die Dialoge oftmals flach, und das finale „Zusammenraufen“ beider Figuren ist enttäuschend banal. Auch Dinahs Familie – ihr Sohn und ihr Ehemann – bleiben eindimensionale, teils karikaturhafte Figuren. Myers greift zu plumpen Mitteln wie Körpergerüchen, Fäkalhumor und aggressivem Verhalten, um die Charaktere zu skizzieren – statt sie zu entwickeln oder ihnen Tiefe zu verleihen.
Hinzu kommt, dass die gesamte Thematik des Romans fragwürdig erscheint: Ein abgehalfterter Soulsänger auf einer letzten Tournee – das mag für eine kurzweilige Erzählung reichen, doch nicht für einen Roman, der mehr sein will als seichte Unterhaltung. Die Geschichte kratzt bestenfalls an der Oberfläche, literarische Tiefe sucht man vergebens. Die melancholischen Töne, die „Offene See“ so auszeichneten, fehlen hier fast gänzlich, ebenso die leise Poesie, mit der Myers einst seine Leser gewann. Die Leichtigkeit, die seinen Erfolgsroman prägte, hat sich nahezu ins Gegenteil verwandelt. Alles an „Strandgut“ wirkt bemüht und angestrengt, der Autor hat sichtlich Mühe, die Geschichte und seine Figuren zu entwickeln. Dabei kommt ein konstruiertes Machwerk zustande, dessen Bauplan man als Leser rasch durchschaut.
Letztlich bleibt der Eindruck, dass Myers an seinem eigenen Anspruch scheitert, einen Gegenwartsroman zu schreiben, der zugleich unterhält und literarischen Anspruch besitzt. Ohne das historische Setting des Zweiten Weltkriegs, das „Offene See“ so glaubwürdig und atmosphärisch machte, treten die stilistischen Schwächen und die erzählerische Eintönigkeit in „Strandgut“ nur umso deutlicher hervor.
„Strandgut“ ist ein enttäuschender Roman, der kaum mit dem Vorgänger mithalten kann. Die Figuren bleiben blass oder unsympathisch, die Handlung flach, die Emotionen konstruiert. Selbst Fans von „Offene See“ sollten sich genau überlegen, ob sie sich auf diese Reise begeben wollen.

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Veröffentlicht am 31.05.2025

Berkels Lehrjahre

Sputnik
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Autobiografische Romane erfreuen sich seit Jahren ungebrochener Beliebtheit – längst haben sich einige Werke dieses Genres herauskristallisiert, die eine große Anhängerschaft gewinnen konnten. In dieser ...

Autobiografische Romane erfreuen sich seit Jahren ungebrochener Beliebtheit – längst haben sich einige Werke dieses Genres herauskristallisiert, die eine große Anhängerschaft gewinnen konnten. In dieser literarischen Tradition legt nun auch Christian Berkel mit „Sputnik“ einen weiteren autobiografisch gefärbten Roman vor, der sich deutlich stärker als seine Vorgänger „Der Apfelbaum“ und „Ada“ auf die eigene Person konzentriert. Statt primär die deutsche Geschichte oder die jüdische Herkunft seiner Mutter in den Mittelpunkt zu stellen, steht diesmal Berkels persönlicher Werdegang im Fokus – insbesondere sein Weg zum Schauspieler.
Die Leser erfahren viel über Berkels Kindheit, seine Eltern und seine abwesende Schwester. Zentrale Station des Romans ist jedoch Berkels Zeit in Frankreich, wo er die Grundlagen seiner späteren Schauspielkunst erlernt. Dieser Abschnitt nimmt viel Raum ein und wirkt beinahe wie das Herzstück des Buches.
Wie prominente Vorbilder vor ihm – man denkt unweigerlich an Joachim Meyerhoff – öffnet sich Berkel seinen Lesern und gewährt intime Einblicke in familiäre und persönliche Erfahrungen, ohne sich dabei selbstgefällig zu inszenieren. Trotz der Ich-Perspektive wahrt der Text eine gewisse Distanz, die es erlaubt, sich nicht nur mit Berkel, sondern auch mit den Menschen um ihn herum zu identifizieren.
Themen wie der Zweite Weltkrieg, die jüdische Identität seiner Mutter und sein eigenes Aufwachsen als sogenannter „Halb-Jude“ durchziehen das Buch zwar, dominieren es jedoch nicht. Eine Ausnahme bildet das Ende des Romans: Eine intensive Familiendebatte über die NS-Vergangenheit nimmt sowohl thematisch als auch stilistisch eine Sonderstellung ein – die Szene ist wie ein Theaterstück aufgebaut und in ihrer Genauigkeit auffallend detailliert. Im restlichen Roman streift der Roman viele Stationen von Berkels Leben eher flüchtig – vom Kind bis zum jungen Erwachsenen galoppiert die Erzählung stellenweise im Eiltempo, was zwar auf der einen Seite eine gewisse Dynamik schafft, auf der anderen Seite aber zu Lasten der Tiefe geht. Im Vergleich zu mehrbändigen Lebensläufen, wie sie in diesem Genre nicht selten zu finden sind, fehlt es daher oftmals an narrativer Dichte.
Trotzdem bleibt „Sputnik“ eine lesenswerte Lektüre, die auf engem Raum faszinierende Einblicke in ein Künstlerleben bietet. Leser von Berkels früheren Büchern werden auch diesmal nicht enttäuscht sein – auch wenn das Werk am Ende nicht mit Joachim Meyerhoffs gekonntem Wechsel zwischen Humor, Ernst und Selbstreflexion oder gar der literarischen Qualität von Karl Ove Knausgard mithalten kann.

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Veröffentlicht am 13.05.2025

Poesie der Trostlosigkeit

Der Kaiser der Freude
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Nach dem gefeierten Welterfolg „Auf Erden sind wir kurz grandios“ legt Ocean Vuong endlich seinen lang erwarteten zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ vor. Und wie schon beim Debüt gelingt Vuong eine ...

Nach dem gefeierten Welterfolg „Auf Erden sind wir kurz grandios“ legt Ocean Vuong endlich seinen lang erwarteten zweiten Roman „Der Kaiser der Freude“ vor. Und wie schon beim Debüt gelingt Vuong eine zutiefst bewegende Geschichte über Identität, Schmerz und die flüchtige Hoffnung auf Erlösung. Der neue Roman ist deutlich umfangreicher als der erste, doch thematisch knüpft Vuong an sein bisheriges Werk an: Wieder steht ein junger Amerikaner vietnamesischer Herkunft im Mittelpunkt, der versucht, seinen Platz in einer Welt zu finden, die ihm kaum Raum zum Atmen lässt.
Hai, der Protagonist, befindet sich zu Beginn des Romans in einem Zustand völliger Desorientierung. Bereits als Jugendlicher ist er abhängig von Pillen, verloren, erschöpft und seelisch gebrochen. Ein Sprung von einer Brücke scheint in greifbarer Nähe, doch in letzter Sekunde wird Hai von einer älteren Frau gerettet: Grazina, eine exzentrische Litauerin mit körperlichen Gebrechen und einem Geist, der in der Vergangenheit verhaftet ist. Sie lebt in einem Haus, das ebenso von Erinnerungen wie von Halluzinationen bewohnt wird – Spukgestalten, die ihr keine Ruhe gönnen. Hai zieht vorübergehend bei ihr ein, und so beginnt eine ungewöhnliche Beziehung zwischen zwei zutiefst verletzten Menschen.
Im weiteren Verlauf entwickelt sich „Der Kaiser der Freude“ zu einem modernen Bildungsroman – allerdings nicht im klassischen Sinne. Hais Entwicklung verläuft nicht geradlinig, es gibt keine großen Ziele, keine spektakulären Wendungen. Und doch geschieht Wandel. Er findet eine Stelle in einem heruntergekommenen Diner, lernt andere Gestrandete kennen: Menschen, die sich tagein, tagaus durch einen entmutigenden Alltag kämpfen. Die Realität, die Vuong zeichnet, ist weit entfernt von den Versprechungen der Werbung: Sie ist grau, von harter Arbeit und geringen Aussichten geprägt. Und doch erwächst zwischen den Figuren eine stille Solidarität, ein zartes Gefühl von Zusammenhalt, das sich wie ein feiner Lichtstrahl durch die düstere Szenerie zieht.
East Gladness, der Handlungsort, wirkt wie ein Ort kurz vor dem Verfall – trist, melancholisch, beinahe entrückt. Die Atmosphäre des Romans erinnert an Herbstabende, wenn das Licht schwindet und die Welt in Schatten getaucht wird. Doch gerade in dieser Trostlosigkeit liegt Vuongs große Kunst: Immer wieder lässt er Hoffnungsschimmer aufblitzen, die mehr gespürt als ausgesprochen werden. Hai ist dabei ein ungewöhnlicher Held – nicht, weil er große Ambitionen verfolgt (sein Traum, zu schreiben, bleibt vage und unerfüllt), sondern weil er durchhält. Jeden Tag aufs Neue.
Die Beziehung zu Grazina vertieft sich dabei zunehmend. Je mehr sie sich von der Realität entfernt, desto stärker wird Hais Rolle als Stütze. In ihrer gemeinsamen Verletzlichkeit entsteht eine leise, aber tragfähige Verbindung. Der Roman folgt dabei keinem klassischen Spannungsbogen. Es gibt kein Ziel, das erreicht werden müsste, keinen großen Abschluss. Vielmehr konzentriert sich Vuong auf die inneren Bewegungen seiner Figuren – ihre Erinnerungen, Verluste und Versuche, zu verstehen, woher sie kommen und wohin sie wollen. Hai setzt sich mit seiner Herkunft auseinander, mit seiner Mutter, mit dem Schmerz seiner Vergangenheit – und schafft es, wenigstens ansatzweise Frieden zu finden.
Stilistisch bleibt Vuong sich treu. Seine Sprache ist poetisch. Besonders die Eröffnung des Romans ist von solcher sprachlichen Kraft, dass man einzelne Sätze mehrfach lesen möchte. Diese Poesie ist jedoch nicht konstant – in manchen Passagen wirkt die Sprache flüchtiger, weniger ausgefeilt. Dennoch ist es der Übersetzung von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl hoch anzurechnen, wie viel von Vuongs Tonfall erhalten bleibt.
„Der Kaiser der Freude“ ist ein leiser, eindringlicher Roman, der nicht mit Handlung glänzt, sondern mit Tiefe. Was auf den ersten Blick ziellos und fragmentarisch wirkt, entpuppt sich als präzises Porträt einer jungen Seele im Aufbruch. Ein Buch, das die hässlichen Seiten des Lebens zeigt, und dennoch schön ist.

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Veröffentlicht am 10.05.2025

Eine Jugend für die Freiheit

Himmlischer Frieden
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Wie bei vielen chinesischen Romanen, die im Exil entstanden sind, steht auch bei Lai Wens „Himmlischer Frieden“ die politische und gesellschaftliche Kritik im Vordergrund. Doch anders als viele andere ...

Wie bei vielen chinesischen Romanen, die im Exil entstanden sind, steht auch bei Lai Wens „Himmlischer Frieden“ die politische und gesellschaftliche Kritik im Vordergrund. Doch anders als viele andere Werke beginnt dieser Roman vor allem mit leisen Tönen. Eindringlich beschreibt Lai ihre Kindheit in Peking, in der sie vor allem durch ihre Großmutter, eine Figur voller Eigensinn und Wärme, geprägt wird – ein emotionaler Anker des Romans.
Bereits in diesen Kindheitsszenen schimmern jedoch erste Konfliktlinien durch. Beim Spiel mit den Nachbarskindern zeigt sich, wie Lai, obwohl sie eher zurückhaltend ist, durch äußere Impulse zu mutigem Verhalten angestachelt wird – eine Eigenschaft, die sie später in der Studentenzeit erneut begleiten wird. Früh gerät sie durch solche Begebenheiten in das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und staatlicher Repression – ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht.
Lai, eine introvertierte, literaturbegeisterte junge Frau, schafft es trotz aller Widerstände an die Universität. Dort wird sie, vor allem durch die Wiederbegegnung mit einem Kindheitsfreund, zunehmend in die aufkeimende Studentenrevolution hineingezogen. Was sich hier wie ein klassischer Erzählverlauf anhört, gewinnt durch den autobiografischen Hintergrund der Autorin enorme Authentizität. Lai Wens eigene Erlebnisse und Erinnerungen verleihen der Geschichte eine Tiefe, die rein fiktive Werke oft nicht erreichen.
Besonders hervorzuheben ist, dass der Roman sich nicht allein auf seine politische Brisanz verlässt. Lai Wen versteht es, mit einer feinfühligen und facettenreichen Sprache ihre Leser in das Alltagsleben der 70er- und 80er-Jahre hineinzuziehen. Familie, Freundschaft, Literatur und leise Romanzen bilden das Fundament, auf dem sich die politische Dimension des Romans aufbaut.
Die Studentenrevolution – unbestritten das Herzstück des Romans – nimmt so erst im letzten Drittel wirklich Raum ein. Doch diese dramaturgische Entscheidung erweist sich als klug: Sie erlaubt es den Lesern, Lai als Mensch zu verstehen, bevor sie ihre Haltung in historischen Krisenzeiten beurteilen. So wirkt ihre Beteiligung an den Protesten nie aufgesetzt, sondern nachvollziehbar und bewegend.
„Himmlischer Frieden“ erzählt mit leiser Stimme große Wahrheiten – und verfällt dabei weder in Pathos noch in ideologische Plattitüden. Ein erwähnenswerter Beitrag zur Exilliteratur und ein eindrückliches Zeugnis über den Wunsch nach Freiheit.

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Veröffentlicht am 22.04.2025

Starker Start, dann driftet der Roman zu sehr ab

Wenn die Tage länger werden
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Anne Sterns Roman „Wenn die Tage länger werden“ beginnt als intensive Innenschau einer Frau am Rande ihrer Kräfte. Lisa, eine alleinerziehende Musiklehrerin, jongliert zwischen Schulalltag und der Erziehung ...

Anne Sterns Roman „Wenn die Tage länger werden“ beginnt als intensive Innenschau einer Frau am Rande ihrer Kräfte. Lisa, eine alleinerziehende Musiklehrerin, jongliert zwischen Schulalltag und der Erziehung ihres Sohnes – eine Aufgabe, die ihr kaum Raum für eigene Bedürfnisse lässt. In kurzen, prägnanten Aussagesätzen zeichnet Stern das Porträt einer Frau, die sich selbst über Jahre hinweg vergessen hat – mitsamt ihren Träumen, insbesondere jenem, eine professionelle Violinistin zu werden.
Diese bedrückende, aber überaus realistische Darstellung weiblicher Selbstaufopferung ist das große Pfund des Romans – zumindest in seiner ersten Hälfte. Stern gelingt es, mit hoher Sensibilität und sprachlicher Klarheit die erschöpfte Lebensrealität vieler Frauen einzufangen, ohne ins Klagende abzudriften.
Doch mit Beginn der Sommerferien erfährt die Erzählung eine abrupte Wende: Lisa gibt ihren Sohn für einige Wochen in die Obhut seines Vaters und gewinnt dadurch zum ersten Mal seit Jahren Zeit für sich selbst. Als sie ihre geerbte Geige zur Reparatur bringt, öffnet sich nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein historisches Fenster. Der Roman wechselt nun in eine Spurensuche, die über die Geschichte der Geige zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs führt.
Diese zweite Hälfte wirkt jedoch weniger kohärent. Der Fokus verlagert sich von Lisas emotionaler Innenwelt zu einer losen und stellenweise konstruiert wirkenden Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Die Verbindungen zwischen Lisa, der Geige und deren Geschichte erscheinen oft zufällig und lassen den sorgfältigen Aufbau der ersten Kapitel seltsam wirkungslos, wenn gar überflüssig erscheinen. Fragen nach Identität, Verantwortung und persönlicher Entwicklung werden zugunsten eines zunehmend unterhaltungsorientierten Plots nur oberflächlich gestreift.
Was als vielversprechende Reflexion über moderne Mutterschaft und weibliche Selbstverwirklichung beginnt, verliert sich zunehmend in einer etwas beliebig wirkenden Vergangenheitsgeschichte. Die Tiefe des Auftakts wird nicht gehalten, die Themen der Überforderung und Selbstfindung weichen einer Story, die mehr auf Spannung als auf Relevanz setzt.
Als reiner Unterhaltungsroman erfüllt „Wenn die Tage länger werden“ seine Funktion – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenngleich der Anfang deutlich mehr versprach.

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