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Veröffentlicht am 29.01.2025

Altbekanntes in neuem Gewand: Ein Einzel- und Kollektivschicksal

Portrait meiner Mutter mit Geistern
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Auch im Jahr 2025 scheint die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsgeneration noch nicht abgeschlossen zu sein – so zumindest legt es Rabea Edel mit ihrem Roman „Porträt ...

Auch im Jahr 2025 scheint die literarische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegsgeneration noch nicht abgeschlossen zu sein – so zumindest legt es Rabea Edel mit ihrem Roman „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ nahe. Doch angesichts der Fülle an Geschichten, die bereits über diese Epoche erzählt wurden, stellt sich zwangsläufig die Frage: Was hat dieses Werk zu bieten, das nicht schon gesagt wurde?
Die Handlung dreht sich um die Protagonistin Raisa, die in den 1990er Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter Martha aufwächst. Der Vater ist abwesend, und Martha hüllt sich in Schweigen, was seine Geschichte betrifft. Diese Leerstelle ist zentral für Raisas Kindheit und prägt die Beziehung zu ihrer Mutter. Erst als Martha zu erzählen beginnt, entfaltet sich eine vielschichtige Familiengeschichte, die von Liebe, Verlust und den Narben der Nachkriegszeit gezeichnet ist.
Stilistisch geht Edel dabei ungewöhnliche Wege. Obwohl es sich um einen Roman handelt, wirkt das Werk streckenweise wie eine Biografie. Auffällig ist das nahezu vollständige Fehlen ausführlicher Gefühlsbeschreibungen. Emotionen werden lediglich angedeutet, was den Lesern Raum für eigene Interpretationen lässt, aber auch eine gewisse Distanz schafft. Besonders die Szenen aus Raisas Perspektive, in denen sie ihre Freundschaft mit dem Nachbarsjungen Mat erlebt, kommen einer klassischen Erzählweise am nächsten. Diese Passagen wirken lebendig und vermitteln ein Gefühl von unbeschwerter Kindheit, die jedoch zunehmend von der düsteren Vergangenheit überschattet wird.
Der Fokus des Romans liegt jedoch nicht auf Raisas Erleben, sondern auf der Geschichte ihrer Mutter Martha. Edel wählt eine distanzierte Erzählweise in der dritten Person, die sich weniger um persönliche Reflexionen als um die Schilderung historischer Stationen bemüht. Diese narrative Entscheidung könnte damit zusammenhängen, dass das Werk zumindest teilweise auf wahren Begebenheiten basiert. Edel verarbeitet in „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ offenbar auch die Biografie ihrer eigenen Familie, um den Lebensweg unerschrockener Frauen zu skizzieren, deren Leben vom Krieg und den Nachkriegsjahren geprägt wurden.
So wird Marthas Lebensgeschichte zu einem Spiegelbild ihrer Generation. Ihre Erlebnisse, so spezifisch sie auch erscheinen mögen, repräsentieren das kollektive Schicksal vieler Frauen dieser Zeit. Doch genau hier liegt auch eine Schwäche des Romans: Für Leser, die bereits andere Werke zu diesem Thema kennen, fühlt sich „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ nicht neu an. Die Stationen in Marthas Leben scheinen vertraut, fast archetypisch – ein Schicksal, das in der Literatur schon oft beschrieben wurde.
Auf der Makro-Ebene überzeugt der Roman dennoch. Er vermittelt ein beeindruckendes Gesamtbild der Nachkriegszeit und lädt dazu ein, die Geschichte aus einem übergeordneten Blickwinkel zu betrachten. Im Detail jedoch, auf der Mikro-Ebene, fehlt es dem Werk an Originalität und erzählerischer Finesse, um es von ähnlichen Büchern abzuheben. Die distanzierte Erzählweise und das Fehlen eines innovativen Blickwinkels machen es schwer, sich emotional tief auf die Geschichte einzulassen.
Dennoch bleibt „Porträt meiner Mutter mit Geistern“ ein bedeutsames Werk. Es dokumentiert eine tragische Lebensgeschichte und erinnert an die Narben, die eine Generation von Frauen geprägt haben – eine Erinnerung, die auch heute noch von Relevanz ist. Wer sich für die Nachkriegsgeneration interessiert und bereit ist, Altbekanntes in einem neuen Gewand zu lesen, wird diesem Roman mit Sicherheit etwas abgewinnen können.

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Veröffentlicht am 29.01.2025

Flucht aus der Abhängigkeit

Monique bricht aus
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Bereits des Öfteren hat der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine eigene Familie geschrieben - nicht selten zum Unmut seiner Angehörigen. In seinem neuesten literarischen Werk „Monique bricht ...

Bereits des Öfteren hat der französische Schriftsteller Édouard Louis über seine eigene Familie geschrieben - nicht selten zum Unmut seiner Angehörigen. In seinem neuesten literarischen Werk „Monique bricht aus“, der am 29. Januar 2025 im S. Fischer Verlag erschienen ist, rückt er erneut seine Mutter Monique in den Mittelpunkt.
Die Geschichte beginnt mit einem Hilferuf: Monique, die Protagonistin, ruft verzweifelt ihren Sohn an. Sie hat es zwar geschafft, einer früheren unglücklichen Ehe zu entkommen, findet sich jedoch nun in einer ähnlich bedrückenden Beziehung wieder. Ihr aktueller Partner bedroht und schikaniert sie, bis das Zusammenleben für sie unerträglich wird. Gemeinsam mit ihrem Sohn entwickelt sie einen Plan, um ihrer unhaltbaren Lebenssituation zu entfliehen. Der Roman schildert, wie Monique nicht nur den Mut findet, auszuziehen, sondern sich Schritt für Schritt ein unabhängiges Leben aufbaut – zum ersten Mal überhaupt.
Louis’ Schreibstil bleibt, wie in seinen vorherigen Werken, simpel und zugänglich, aber keineswegs oberflächlich. Mit wenigen, aber präzisen Worten zeichnet er ein Porträt einer Frau, die Zeit ihres Lebens unterdrückt wurde – zuerst von einem patriarchalen Gesellschaftssystem, dann durch ihre Partner. Doch diesmal ist Moniques Geschichte keine von Resignation, sondern von Befreiung. Der Leser begleitet Monique auf einer Reise der Selbstentdeckung und Transformation, bei der sie zur Hauptfigur ihres eigenen Lebens wird. Diese Veränderung, die Louis einfühlsam und dennoch schonungslos beschreibt, verlangt dem Leser Respekt ab, während sie zugleich als Hoffnungsschimmer für andere Frauen in ähnlichen Situationen dient.
Besonders bemerkenswert ist die autobiografische Dimension des Romans. Louis greift auf reale Ereignisse aus dem Leben seiner Mutter zurück, was der Erzählung eine außergewöhnliche Authentizität verleiht. Diese intime Nähe zur Wirklichkeit macht "Monique bricht aus" zu weit mehr als einem fiktionalen Werk. Sie gibt dem Buch eine Intensität und Tiefe, die in einem rein fiktionalen Roman nur schwer zu erreichen wären. Louis’ ungeschönter Blick auf die Umstände seiner Mutter erlaubt dem Leser, die Welt durch die Augen einer Frau zu sehen, die jahrzehntelang keine Kontrolle über ihr eigenes Leben hatte.
Monique wird anfänglich als eingeschüchterte und abhängige Frau beschrieben, die kaum Hoffnung auf ein besseres Leben hat. Doch Louis zeigt mit feiner Beobachtungsgabe, wie sie langsam mutiger und selbstbestimmter wird. Monique entdeckt neue Freuden, etwa in der Freiheit, ihre eigenen Mahlzeiten zu wählen und unbekannte Gerichte zu probieren. Diese kleinen, alltäglichen Veränderungen symbolisieren ihren wachsenden Selbstwert und ihre Emanzipation. Die größte Verwandlung erlebt sie jedoch am Ende, als sie eine neue Haltung gegenüber dem literarischen Werk ihres Sohnes entwickelt – ein Zeichen dafür, dass sie nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Perspektive auf sich selbst und ihre Umwelt grundlegend überdacht hat.
Trotz des kompakten Umfangs von 160 Seiten gelingt es Louis, Moniques Charakter nicht nur plastisch darzustellen, sondern auch zu analysieren. Diese Darstellung wird durch seine eigene Biografie bereichert, da er seine Kindheit und Jugend mit ihr verbracht hat. Seine erwachsene Sicht auf diese Zeit ist differenziert: Neben Vorwürfen und Bitterkeit schwingt auch Verständnis mit. Dieser Umschwung in der Wahrnehmung des Autors ist ebenso faszinierend wie die Transformation seiner Mutter, und zeugt von einer emotionalen Tiefe.
Louis’ Klarheit und Schnörkellosigkeit machen "Monique bricht aus" zu einer beeindruckenden literarischen Leistung. Der Roman illustriert, wie vermeintlich kleine Schritte – gepaart mit ein wenig Unterstützung – ausreichen können, um aus einer hoffnungslosen Lage auszubrechen. Die Botschaft ist klar: Freiheit ist oft greifbarer, als man denkt, wenn man den Mut findet, sie zu ergreifen. Diese Phrase, die schnell abgedroschen wirken kann, wirkt in diesem Fall durch den biografischen Charakter der Lektüre glaubhaft und nachvollziehbar.
Zusammenfassend ist "Monique bricht aus" nicht nur eine Biografie über Édouard Louis’ Mutter, sondern auch ein universell gültiger Appell für Emanzipation und Selbstermächtigung. Louis zeigt, wie Literatur eine Brücke zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen schlagen kann, und beweist einmal mehr, dass die Perspektive junger Autoren eine unverzichtbare Bereicherung für die Buchwelt ist.

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Veröffentlicht am 28.01.2025

Der zweite Teil bietet noch mehr Krimi

Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente: Das Zeichen der Fünf
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Mit „Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente“ ist der amerikanischen Autorin Ali Standish ein unterhaltsamer und vor allem ideenreicher Auftakt in eine Kinderbuchreihe gelungen, ...

Mit „Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente“ ist der amerikanischen Autorin Ali Standish ein unterhaltsamer und vor allem ideenreicher Auftakt in eine Kinderbuchreihe gelungen, die mehr oder weniger im Universum von Arthur Conan Doyle spielt. Seit dem 28. Januar 2025 liegt nun endlich die lang ersehnte Fortsetzung „Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente: Das Zeichen der Fünf“ in deutscher Übersetzung im Hanser Verlag vor. Fans der Reihe sind natürlich gespannt, ob es der Autorin gelingt, das Universum rund um Arthur Doyle und seine Freunde im Internat Baskerville Hall angemessen fortzuführen.
Der erste Band der Reihe konnte mit zahlreichen lustigen Einfällen und einer faszinierenden Erzählwelt punkten, auch wenn er kleinere Schwächen aufwies. Das Gespann rund um den Hauptprotagonisten Arthur Doyle – bestehend aus Mary Morstan, Irene Eagle, Jimmie Moriarty und Grover Kumar – versprach viel Potenzial. Nun kehrt Arthur für sein zweites großes Abenteuer an die Schule Baskerville Hall zurück, diesmal weniger extravagant als im ersten Teil. Doch kaum ist er angekommen und hat sich wieder mit seinen Freunden zusammengefunden, nehmen erneut seltsame Vorkommnisse ihren Lauf.
Arthur findet seinen Lehrer Professor Holmes reglos in dessen Zimmer vor. Zum Glück ist der Professor nicht tot, sondern liegt nur im Koma. Dennoch ist für Arthur sofort klar: Holmes wurde vergiftet. Doch es bleibt nicht bei diesem einen Fall. Nach und nach deckt Arthur ein Geheimnis auf, das vor vielen Jahren seinen Anfang nahm. Dieses Geheimnis steht nicht nur mit einem rätselhaften Zeichen in Verbindung, sondern hängt auch mit den Ereignissen aus dem letzten Abenteuer zusammen.
Ali Standish gelingt es, Arthur und somit die Leser schnell und ohne viel Aufhebens zurück ins Internat zu bringen, wo die Handlung zügig Fahrt aufnimmt. Allerdings fehlt diesmal ein entscheidender Reiz, der den ersten Band so spannend gemacht hat: das Ankommen und Erkunden des Internats. Gemeinsam mit den Protagonisten konnte man im ersten Teil eine fremde und neue Welt entdecken, die sich durch viele Eigenheiten auszeichnete. Da der Handlungsort im zweiten Band jedoch weitgehend bekannt ist, fällt diese Art der Spannung weg. Zudem bringt der zweite Band kaum neue Örtlichkeiten oder Figuren mit sich. Das Personal ist bereits bekannt, und Standish konzentriert sich in erster Linie auf die Entwicklung der Charaktere.
In diesem Punkt zeigt die Autorin allerdings ihre Stärken. Vor allem das zunehmende Misstrauen zwischen Arthur und seinen Freunden sorgt für Dramatik und bringt das Gefüge der Gruppe ins Wanken. Die Handlung selbst weist deutlich mehr kriminalistische Züge auf als im ersten Band. Die vermeintlichen Mordversuche und Arthurs Recherchen erinnern an klassische Kriminalgeschichten, nur eben in einer für Kinder geeigneten Form. Vor allem im Mittelteil wirkt die Geschichte dadurch weniger magisch und rätselhaft, als man es aus dem ersten Teil gewohnt ist. Dennoch baut sie eine gewisse Spannung auf, und junge Leser dürften ihren Spaß daran haben, herumzurätseln, wie sich die verschiedenen Puzzlestücke am Ende zusammenfügen.
Fans des ersten Teils können sich auf jeden Fall auf eine gelungene Fortsetzung freuen, auch wenn der zweite Band nicht vollends an die Qualität seines Vorgängers heranreicht. Hauptgrund dafür ist das Fehlen wirklich neuer Elemente. Zudem zeigt sich, dass das Figurenensemble in seiner Gesamtheit etwas zu umfangreich angelegt ist. Während die vielen unterschiedlichen Charaktere im ersten Band mit ihren Eigenheiten und ihrer Eigenwilligkeit für viel Unterhaltung sorgten, kann ihr Potenzial in einem einzigen Folgeband nicht voll ausgeschöpft werden. Hier fehlt es schlichtweg an Kapazität. Umso mehr kann man jedoch in den kommenden Bänden von ihrer Entwicklung erwarten.
Somit sollte die Reihe „Baskerville Hall“ auch weiterhin auf dem Radar ihrer Leserschaft stehen. Für den dritten Teil dürfte die Autorin jedoch gerne mit etwas Unerwartetem überraschen, um das Universum rund um Arthur Doyle und Baskerville Hall erneut mit frischen Ideen zu bereichern.

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Veröffentlicht am 28.01.2025

In der Vergangenheit graben

Diese brennende Leere
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Eine junge Physikerin begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit über ihre verstorbenen Eltern und deckt dabei ein Geheimnis auf, das über Jahre hinweg vor ihr verborgen wurde. Diese Ausgangslage bildet ...

Eine junge Physikerin begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit über ihre verstorbenen Eltern und deckt dabei ein Geheimnis auf, das über Jahre hinweg vor ihr verborgen wurde. Diese Ausgangslage bildet das zentrale Thema des zweiten Romans „Diese brennende Leere“ des mexikanischen Autors Jorge Comensal, der Ende Januar im Rowohlt Verlag erschienen ist.
Die Geschichte wird aus den Perspektiven zweier Protagonisten erzählt: Karina, einer ehrgeizigen Doktorandin der Quantenphysik, und Silvio, einem orientierungslosen Friedhofswärter. Diese beiden Erzählstränge kreuzen sich relativ früh in der Handlung, was Potenzial für eine spannende Beziehung zwischen den Charakteren bietet. Doch obwohl ihr Zusammenspiel interessante Momente erzeugt, sind es die individuellen Entwicklungen der beiden Figuren, die den Roman vorantreiben.
Karina ist eine strebsame, selbstbewusste Protagonistin, die seit Jahren ihre Großmutter Rebeca pflegt. Rebecas Verhalten gibt Karina jedoch immer mehr Rätsel auf, vor allem in Bezug auf den angeblichen Unfalltod ihrer Eltern. Getrieben von Zweifeln beginnt Karina, in der Vergangenheit zu graben – sowohl im metaphorischen als auch im wörtlichen Sinne. Ihre Obsession führt sie dazu, Silvio um Hilfe zu bitten, das Grab ihrer Eltern zu öffnen, um neue Hinweise zu finden. Dieser Moment markiert eine entscheidende Wendung in ihrer Entwicklung: Aus der rational denkenden Wissenschaftlerin wird eine von ihrer Suche nach der Wahrheit besessene Frau, die bereit ist, gesellschaftliche Normen zu überschreiten. Ihre Methoden werden zunehmend unkonventioneller, bis hin zu fragwürdigen Entscheidungen wie das Vortäuschen einer falschen Identität, um Informationen zu erhalten. Trotz ihrer Handlungen bleibt Karina eine Figur, mit der sich Leserinnen und Leser identifizieren können – ihr innerer Konflikt ist authentisch und nachvollziehbar.
Silvio hingegen ist Karinas Gegenpol. Sein Leben scheint von einem Mangel an Richtung geprägt zu sein. Nach einem verheerenden Brand an seinem Arbeitsplatz, der nicht nur den Friedhof, sondern auch den benachbarten Zoo zerstört, gerät Silvios Leben aus den Fugen. Er beginnt, sich illegal mit dem Öffnen von Gräbern zu verdingen, ein grotesker Beruf, der ihn in Konflikt mit seiner eigenen Vergangenheit bringt. Silvios Beziehung zu seiner Tochter, die er jahrelang vernachlässigt hat, gewinnt im Verlauf der Handlung an Bedeutung. Seine Tochter, eine entschlossene Aktivistin, wird zu einem Symbol für die junge Generation, die gegen die drohenden Gefahren der Zukunft ankämpft. Silvio, dessen Leben bislang von Passivität geprägt war, findet durch diese Beziehung neue Impulse, sich mit größeren Fragen auseinanderzusetzen.
Comensal verlegt die Handlung leicht in die Zukunft, um aktuelle gesellschaftliche Probleme in einem weiter fortgeschrittenen Kontext zu betrachten. Themen wie das Artensterben und Tierrechte, was unter anderem durch den Brand im Zoo metaphorisch dargestellt wird, und neue Entwicklungen in der Klontechnologie werden angerissen. Dabei bleibt der Roman jedoch nur unterschwellig dystopisch und verzichtet auf überzogene Zukunftsszenarien. Stattdessen setzt der Autor auf eine realistische Erzählweise, die den Fokus auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und inneren Konflikte der Figuren legt. Besonders Silvios Erzählstrang rechtfertigt diese zeitliche Verlagerung, da er sich zunehmend in einer Welt wiederfindet, in der die Konsequenzen des menschlichen Handelns sichtbarer werden.
Trotz dieser interessanten Ansätze bleibt der Roman in vielerlei Hinsicht oberflächlich. Die zentrale Thematik – Karinas Suche nach Ungereimtheiten in ihrer Familiengeschichte – bietet nur wenig Substanz für einen wirklich mitreißenden Plot. Die Handlung verläuft weitgehend geradlinig und birgt kaum Überraschungen. Der Versuch, Spannung durch Karinas obsessives Verhalten und ihre Ermittlungen zu erzeugen, scheitert daran, dass die aufgedeckte Wahrheit letztlich wenig Relevanz hat. Es fehlt an einem dichter gesponnenen Netz von Intrigen oder Enthüllungen, das den Leser bis zum Schluss fesselt.
Was den Roman jedoch vor dem Mittelmaß rettet, sind die vielen kleinen Nebengeschichten und skurrilen Details. Silvios grotesker Beruf als Grabschänder ist eine originelle Idee, die sowohl morbide Faszination als auch tragische Tiefe birgt. Auch seine ambivalente Beziehung zur Nähe des Todes und seine wachsende Verbindung zu seiner Tochter verleihen seiner Figur Komplexität. Diese Elemente sind es, die den Leser dazu bringen, am Ball zu bleiben, selbst wenn die Hauptgeschichte zu schwächeln beginnt.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Erzählstruktur: Der ständige Perspektivwechsel zwischen Karina und Silvio sorgt für ein abwechslungsreiches Tempo und erlaubt es dem Leser, beide Figuren und ihre Weltsichten besser kennenzulernen. Dieser Wechsel verhindert, dass die Geschichte trotz ihrer inhaltlichen Schwächen langweilig wird. Allerdings wird auch hier das Potenzial nicht voll ausgeschöpft. Die Verbindung zwischen den beiden Erzählsträngen bleibt lose und wirkt oftmals konstruiert, anstatt organisch zu wachsen.
Der Brand im Zoo, der symbolisch für den Verlust von Artenvielfalt steht, und die Erwähnung von Aktivismus und Klimafragen verleihen dem Roman zwar eine gewisse Aktualität, doch gelingt es Comensal nicht, diesen Themen neue Perspektiven abzugewinnen. Die dystopischen Ansätze bleiben oberflächlich und dienen mehr als Hintergrundrauschen denn als zentrale Konflikte. Auch die wissenschaftlichen Aspekte von Karinas Arbeit hätten deutlich mehr Gewicht erhalten können, um die gesellschaftliche Brisanz der Geschichte zu erhöhen.
Unterm Strich ist „Diese brennende Leere“ ein akzeptabler Unterhaltungsroman, der mit einigen interessanten Ideen und Figuren punkten kann, jedoch nicht das Potenzial seiner Prämisse ausschöpft. Jorge Comensal gelingt es zwar, einzelne Momente und Nebengeschichten in Szene zu setzen, doch bleibt die Hauptgeschichte zu blass und die thematische Tiefe zu gering, um nachhaltig Eindruck zu hinterlassen. Wer eine kurzweilige Lektüre sucht, die einen Hauch von Dystopie und Familiengeheimnissen vereint, wird hier fündig. Ein herausragendes Zeugnis mexikanischer Gegenwartsliteratur ist der Roman jedoch nicht.

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Veröffentlicht am 28.01.2025

Kammerspielartige Studie einer Dreiecksbeziehung

Die Verdorbenen
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Michael Köhlmeier beweist mit seinem neuen Roman „Die Verdorbenen“ erneut, dass er die Kunst der kurzen Form beherrscht. Bekannt unter anderem auch für umfangreiche Werke, widmet er sich hier einer kompakten ...

Michael Köhlmeier beweist mit seinem neuen Roman „Die Verdorbenen“ erneut, dass er die Kunst der kurzen Form beherrscht. Bekannt unter anderem auch für umfangreiche Werke, widmet er sich hier einer kompakten Erzählung, die das Leben von Johann und insbesondere seine turbulente Zeit als junger Erwachsener beleuchtet. Auf nur wenigen Seiten schafft Köhlmeier ein vielschichtiges Psychodrama, das von Spannungen zwischen den Figuren und wechselhaften Beziehungen geprägt ist.
Der Roman beginnt mit einem prägnanten Dialog zwischen Johann und seinem Vater. Als dieser ihn fragt, was er sich vorgenommen habe, zumindest einmal im Leben zu tun, bleibt Johann die Antwort schuldig. Doch innerlich formuliert er eine düstere Vision: Eines Tages möchte er einen Mann töten. Diese verstörende Offenbarung legt den Grundstein für die Erzählung und deutet darauf hin, worauf die Geschichte unausweichlich zusteuert. Ob Johann seinen Wunsch tatsächlich erfüllt, bleibt jedoch lange unklar, denn Köhlmeier konzentriert sich zunächst auf die Schilderung von Johanns Werdegang.
Als Student zieht Johann in eine fremde Stadt und knüpft dort enge Kontakte zu Christiane und Tommi. Die drei entwickeln eine ungewöhnliche Dreiecksbeziehung, die von schwankenden Gefühlen und durchaus auch gegenseitiger Apathie geprägt ist. Köhlmeier illustriert diese Beziehung mit Präzision und feinem Gespür für die zwischenmenschlichen Untertönen der Figuren. Mal scheint Tommi die Kontrolle zu haben und Christianes Aufmerksamkeit zu gewinnen, mal rückt Johann in den Vordergrund, nur um sich plötzlich wieder zurückzuziehen. Immer wieder entsteht der Verdacht, dass die Charaktere sich gegenseitig ausnutzen und ein falsches Spiel miteinander treiben. Dieser ständige Wechsel der Machtverhältnisse sorgt für eine unterschwellige Spannung, die den Leser fesselt und die Handlung vorantreibt.
Johann selbst ist eine ambivalente Figur. Er erscheint als kluger und zielstrebiger junger Mann, gleichzeitig aber auch als egozentrisch und manipulativ. Seine Fixierung auf sich selbst durchzieht den gesamten Roman und lässt ihn selten sympathisch wirken. Auch sein Interesse an Christiane scheint weniger aus echter Zuneigung, sondern vielmehr aus eigennützigen Motiven zu entspringen. Köhlmeier zeichnet Johann mit einer Schärfe, die den Leser zugleich fasziniert und abstößt. Außerdem gelingt es dem Autor, die inneren Konflikte und psychologischen Feinheiten der Figuren auf kleinem Raum zu schildern. Dabei bleibt die Handlung selbst überschaubar, was dem Roman eine fast kammerspielartige Intensität verleiht.
Trotz der gelungenen Figurenzeichnung und der atmosphärischen Dichte erreicht „Die Verdorbenen“ zwar nicht die erzählerische Tiefe von Köhlmeiers größeren Werken, stellt aber gleichwohl eine kurze, prägnante Studie über junge Menschen dar, die auf der Suche nach sich selbst und ihren Träumen alles riskieren, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Für einen Roman, den man „nebenbei“ lesen kann, ist „Die Verdorbenen“ eine exzellente Wahl. Köhlmeier liefert eine kleine, feine Erzählung, die durch ihre ungewöhnliche Figurenkonstellation und die psychologische Spannung überzeugt.

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