Puh, was für ein Ritt. Ich habe viele Reviews gelesen, die die Sogwirkung dieses Buches in den Vordergrund stellen und muss sagen: Ja, das stimmt. Auch ich konnte mich der Erzählung kaum entziehen, zu vielfältig und abwechslungsreich waren die einzelnen Plotstränge - vom Aufbau her genau mein Beuteschema.
Im Mittelpunkt stehen toxische Beziehungen, allen voran die der besten Freunde Moritz und Raffael. Klassische Aufteilung: Raffael, ein narzistischer, persönlichkeitsgestörter Meistermanipulator von Kindesbeinen an vs. Moritz, eher zurückhaltend und schüchtern und durch seine (für ihn als Kind unerklärliche) Synästhesie (er sieht Menschen auch farblich) verunsichert. Als junge Erwachsene trennen sich die beiden - die Gründe dafür bilden quasi das mysteriöse Grundgerüst des Romans (wie auch die Frage, warum die beiden überhaupt so lange als unzetrennlich galten). Bekannt ist nur: Es hat mit Johanna zu tun, die erst spät dazustoß und aus dem Duo ein Trio machte.
Vom Aufbau und der Struktur her ist das hier ein Buch wie für mich geschrieben. Wir hören drei Erzählstimmen aus verschiedenen Zeiten, die Handlung umfasst rund 35 Jahre. Erzähler 1 ist Moritz, der in der Gegenwart nach 16 Jahren plötzlich wieder Raffael gegenübersteht steht. Moritz nimmt den alten Kumpel bei sich und seiner hochschwangeren Freundin auf. Dieser Strang lotet aus, wie die Manipulationen von Raffael auf den erwachsenen (und ihm entwachsenen?) Moritz wirken. Parallel dazu erinnert sich Moritz an prägende Momente aus der gemeinsamen Kinder- und Jugendzeit. Moritz ist ein extrem passiver Charakter, der viel will, aber wenig kann. Man fragt sich beim Lesen: Ist das alles nur Raffaels Schuld? Oder die anderer Bezugspersonen? Oder ist Moritz einfach grundsätzlich "schwach"?
Zweite Erzählstimme ist Johanna, die über all die Jahre "dazwischen" über eine ziemlich spezielle, nicht minder verkorkste Beziehung mit Raffael berichtet, auch hier wieder in Form von Erinnerungen und ihrer gegenwärtigen Probleme. Johannas Kapitel sind besonders düster, sie wird von starken Selbstzweifeln (Selbsthass?) gequält, die sich durch physische und psychische Selbstschädigung manifestieren und durch extrem ablehnende Coolness verdeckt werden. Die Frage, inwiefern Raffael am Gemütszustand dieser traurigen Gestalt verantwortlich ist, wird ziemlich schnell beantwortet: Johanna wirkt wie ein verzweifelter Junkie, auf der Suche nach dem nächsten Schuss Raffael.
Dritte Erzählstimme, und das war für mich das Highlight des Buches, ist Marie, die Mutter von Moritz. Ihre Berichte spielen ausschließlich in der Vergangenheit und reichen bis in ihre eigene Jugend zurück. Ihre Aufgabe ist es, die Frage "Aber warum hat die Mutter/haben die Eltern denn nichts unternommen?" zu beantworten. Und das macht die Autorin wirklich richtig toll: Ganz tief reingehen in die Geschichte, alle alten Schichten abkratzen und zurückgehen bis zu dem Punkt, an dem die (vermeintlich?) erste falsche Abzweigung genommen wurde. Auch Marie ist eher passiv und "schwach": Eine etwas weltfremde junge Frau, die mit zwei kleinen Kindern in ein abgelegenes Bergdorf zieht (der Mann ist aus beruflichen Gründen anfangs kaum anwesend) und nirgendwo richtig dazugehört - ich konnte kaum aufhören, vor allem ihre Seiten zu lesen.
Es geht hier also nicht nur um toxische Beziehungen an sich - wie sie entstehen, was sie am Leben hält - sondern auch darum, wie sie verhindert oder unterbunden werden könnten (müssten?) - und warum das manchmal einfach nicht möglich ist, weil das nicht jede*r aus eigener Kraft kann. Alles das bis hierhin aufgezählte hat mich beim Lesen stark angezogen, ich konnte es kaum erwarten, noch eine Schicht (v.a. aus der Vergangenheit) aufzudecken - nicht nur, um dem Geheimnis des Zerwürfnisses auf die Schliche zu kommen, sondern auch, um noch mehr zu vestehen, wie es überhaupt alles soweit kommen konnte.
Ein sehr aufregendes Leseerlebnis und tolles Debüt also, und dennoch mit Luft nach oben. Das Ende war mir persönlich zu wenig, auch die Andeutung der möglichen Zukunft der Charaktere hat mich eher gewundert als befriedigt. Inhaltlich war das Buch an einigen Stellen zu repetitiv, das hätte noch gestrafft werden können. Etwas mehr gehadert, vor allem am Anfang, habe ich mit der Sprache, die mein erträgliches Level an blumiger Umschreibung und hemmungloser, teils auch schiefer Übermetaphorisierung an seine Grenzen gebracht hat. Ich habe mir das ein bisschen mit Moritz' Synästhesie schön geredet, hat aber nicht immer gut geklappt. A propos: Die Synästhesie an sich hätte vielleicht noch mehr "genutzt" werden können. So erklärt sie eigentlich nur einen Großteil der (farbenfrohen) Sprache und, wenn man es so sagen will, verdeutlicht den Umstand, dass der, der eigentlich am meisten sehen kann (Moritz), der Blindeste von allen ist (in Bezug auf Raffael).
Trotzdem dieser stilistischen Anmerkungen, die nicht so ganz meinen persönlichen Geschmack trafen, gibt's hier vier Sterne, denn in so einen Lesesog bin ich schon lange nicht mehr geraten.