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Veröffentlicht am 14.05.2019

Ein Buch, das nachhallt.

Loyalitäten
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Ein eher kurzes Buch, aber die Tiefe und Intensität ist beeindruckend. Die Art, wie Delphine de Vigan schreibt, gefällt mir sehr. Sie braucht nur rund 180 Seiten um unverwechselbare, interessante Charaktere ...

Ein eher kurzes Buch, aber die Tiefe und Intensität ist beeindruckend. Die Art, wie Delphine de Vigan schreibt, gefällt mir sehr. Sie braucht nur rund 180 Seiten um unverwechselbare, interessante Charaktere zu kreieren, ebenso wie ein fesselndes Setting und einen Plot, der mich sehr eingenommen hat und viele ethische und moralische Fragen aufwirft. Ganz toll auch die Übersetzungarbeit von Doris Heinemann, die uns den Text auf Deutsch zugänglich macht, ohne, dass er seinen "französischen Stil" verliert.

Im Buch geht es um Théo, einen Jungen, der von der gescheiterten Ehe seiner Eltern zerrissen wird. In vielerlei Hinsicht ist er der am erwachsenste Charakter der zerstörten Familie, er ist derjenige, der sich um die Bedürfnisse von Vater und Mutter kümmert, die beide in erster Linie mit sich selbst beschäftigt sind. Die Mutter ist verbittert und manipulativ, der Vater in einer ernsten Depression gefangen. Aber Théo ist noch nicht einmal 13 und kann dieser Verantwortung nicht gerecht werden - er ertränkt seinen Kummer darüber in Alkohol, die betäubende Wirkung ist seine Zuflucht. Mathis ist sein bester Freund und Saufkumpan, der Thés Niedergang mit Sorgen beobachtet, ebenso wie Hélène, die Lehrerin der Jungs, die bemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Der letzte erzählende Charakter ist Cécile, die Mutter von Mathis', die auch gewissen Dinge bemerkt, die aber genug eigene Probleme hat, denn ihr Mann scheint nicht der zu sein, für den sie ihn immer gehalten hat.

Der Titel passt perfekt zum Buch: Zu wem sind wir loyal und warum? Verschiedene Arte von Loyalität stehen hier im Fokus: Zwischen Familien, Kindern und Eltern, Freunde und Partnern, Kollegen. Théo ist zu beiden Eltern loyal, innerlich wie äußerlich: Er beschützt sie voreinander und vor der Außenwelt. Mathis ist loyal gegenüber seinem Freund, auch wenn er sich große Sorgen macht. Hélène muss aus beruflichen Gründen ihrem Arbeitgeber gegenüber loyal sein, auch wenn es ihr schwer fällt, die Grenzen einzuhalten. Cécile ist - oder versucht - loyal zu dem Bild vom gemeinsamen Glück zu sein, das sie für sich und ihre Familie erschaffen hat. Irgendwie sind alle gleichzeitig loyal und besorgt, und die Frage ist: Ist Loyalität wirklich immer die beste Lösung? Wann sollte sie aufhören, um jemanden zu beschützen oder zu retten? Ist man noch loyal, wenn man aus diesem Grund, also aus gutem Grund, illoyal sein muss?

Die Thematik ist topaktuell und sehr gut umgesetzt. Mit haben sowohl Schreibstil als auch die Intensität der Geschichte sehr gut gefallen. Ein Buch, das nachhallt.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Leider enttäuschend

Aus dem Dachsbau
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Ach, seufz. Das war leider wenig erfreulich und in vielfacher Hinsicht enttäuschend, denn ich hatte mir weit mehr davon versprochen. Schließlich erzählt hier DvL aus seinem Leben, jener Tocotronic-Dirk, ...

Ach, seufz. Das war leider wenig erfreulich und in vielfacher Hinsicht enttäuschend, denn ich hatte mir weit mehr davon versprochen. Schließlich erzählt hier DvL aus seinem Leben, jener Tocotronic-Dirk, der mich als Künstler bisher alles andere als gelangweilt hat - und dann das hier.

Das Buch an sich ist nicht schlecht, aber es blieb für mich von vorne bis hinten... harmlos. Ohne Höhepunkt, ohne Kitzel, ohne wirkliche Überraschung. Ein paar wenige nette Szenen waren dabei, eine gleich ziemlich am Anfang, noch bei "A" wie "Aliens" - der Gedanke, dass Außerirdische die jährliche Sportqual aka Bundesjugendspiele als getarnte Leistungsüberprüfung der Erdlinge nutzen, fand ich ziemlich erheiternd. Ansonsten - joa, eher gepflegte Langeweile. Leider hat, zu allem Überfluss, DvL bei diesem Audiobook diese durch seinen Vortrag nur noch verstärkt. Seine Art zu lesen hat mir kaum gefallen. Das war also auch nichts. Sehr schade!

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass eingefleischte Tocotronic-Fans hieran sicher sehr viel mehr Freude haben, da in den verschieden langen, bunt zusammengewürfelten Beiträgen sicher viele Hin- und Querverweise zu diversen Songs versteckt sind. Mein Bandwissen reicht allerdings bei Weitem nicht dazu aus, diese auch nur im Ansatz zu entschlüsseln und dieses Werk auf diese Art zu genießen.

Alles in allem also naja, nicht wirklich schlecht - eher (für mich) belanglos und gerade okay zum "nebenbei hören".

Veröffentlicht am 14.05.2019

Mehr Gesellschaftskritik als bahnbrechende Depressionsforschung

Der Welt nicht mehr verbunden
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Dies ist ein gutes Buch, das viele Kritiken an den heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt zusammenfasst und aufzeigt, wie diese Lebensweisen dazu führen, dass so viele Menschen ...

Dies ist ein gutes Buch, das viele Kritiken an den heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt zusammenfasst und aufzeigt, wie diese Lebensweisen dazu führen, dass so viele Menschen dabei "auf der Strecke" bleiben - nicht nur im materialistischen/sozialen, sondern auch im gesundheitlichen Sinn. Depressionen, so der Autor, werden nämlich durch viel mehr ausgelöst als "nur" Leitungsstörungen im Gehirn - und das sei auch der Grund, warum die medizinische Behandlung in Form von Antidepressiva so gut wie nie helfe. Um Depressionen gezielt und dauerhaft zu bekämpfen, müssten neben den biologischen auch die sozialen Faktoren (stärker) mit einbezogen werden. Pillen einzuwerfen allein sei in den meisten Fällen nicht mehr als ein Ratespiel - krank sind nicht die Menschen, die sie nehmen, sondern die Welt um sie herum. Soweit, ganz grob geschildert, die Grundidee dieses Buchs.

Das Fehlen des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, der materielle Egoismus, das ständige Streben nach höher, schneller, weiter, mehr - all dieses sind Faktoren, die viele Menschen psychisch krank machen. So weit, so gut - ich stimme dem Autor in allen diesen Punkten zu. Die Beispiele für eine "bessere Welt", die er im zweiten Teil des Buches reportagenartig vorstellt, fand ich alle anschaulich und interessant: Ob das Berliner Multikulti-Viertel, das sich aufgrund drohender Gentrifizierung von anonymer Nachbarschaft zu einer rührigen Kommune mit Protestcharakter gewandelt hat, oder das Geschäftsmodell eines Fahrradmechanikers, der sein Geschäft in Form einer Genossenschaft aufgezogen hat: Die Menschen, die in diesen Modellen leben oder arbeiten, sind größtenteils glücklicher, zufriedener und weniger krank. Ihr Leben hat einen Sinn, hinter dem sie stehen, mit Leidenschaft und Herz. Sie sind Menschen, die wir uns alle als Beispiele für eine alternative Wohn- oder Lebensweise nehmen könnten. So hat das Buch gut für mich funktioniert: Als Anregung für eine bessere Welt. Von der kleinen Achtsamkeitsübung bis zur ganz großen Kapitalismuskritik.

Was für mich nicht gut funktioniert hat, war der Zusammenhang zu den "wahren Ursachen" und "unerwarteten Lösungen" von und für Depressionen, die der Untertitel suggeriert. Was das angeht, habe ich hier nicht viel Neues erfahren. Der Teil des Buches wäre besser geeignet als Historie über die medizinische Betrachtung der Depression im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ("Was bisher geschah").

Für mich (als Angehörige depressiver Menschen mit Therapie- und Behandlungserfahrung) stand es schon vorher völlig außer Frage, dass auch soziale Faktoren Ursachen einer Depression sind. In einem der ersten Kapitel bemängelt der Autor, dass er in mehr als 30 (!) Jahren Behandlung mit Antidepressiva nicht ein einziges Mal von seinem Arzt gefragt wurde, warum er traurig sei, ob ihn etwas belaste usw. Tut mir leid, aber das kann ich nicht glauben, und da hat der Autor gleich zu Beginn sehr viel Skepsis bei mir gesät. Sind also meine eigenen Erfahrungen mit Psychiatern, Psychotherapeuten, Hausärzten und Therapieeinrichtungen so außergewöhnlich gut, dass ich (und meine betroffenen Angehörigen) zumindest in dieser Hinsicht zu absoluten Glückskindern gehören? Hmmmm...

Auch die Kritik, dass soziale Faktoren keine oder viel zu wenig Berücksichtigung finden, kann ich so nicht bestätigen. Berufswechsel aufgrund akuter Depressionen (die wiederum aufgrund des Berufes ausgelöst und auch so diagnostiziert wurden) mit anschließender bezuschusster Reha/Umschulung - wieder nur ein glücklicher Einzelfall? Jahrelange (akute) therapeutische Behandlung mit Entspannungsübungen und den verschiedensten Kommunikationsformen - ich selbst war Teil einer Therapiesitzung für Angehörige, in der genau jene Fragen (nach den sozialen Faktoren, eventuellen Traumata, Gefühlen von- und zueinander) behandelt wurden - wieder nur ein glücklicher Einzelfall? Ich verstehe das nicht, ganz ehrlich. Und man kann nicht einmal die "vielleicht sind das die Zustände in den USA"-Karte ziehen, denn der Autor benennt mehrfach ausdrücklich die aktuelle Lage in Deutschland und hat hier auch viel recherchiert. Ich bin wirklich ratlos, was diese Passagen des Buches angeht.

Natürlich hat das System jede Menge Lücken und viel Verbesserungspotenzial nach oben, keine Frage. Die Plätze für stationäre Therapie sind zu knapp, die Wartezeiten zu lang, die Dauer oft zu kurz, die Behandlungen nicht immer "treffsicher". Auch die Antidepressiva sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss - allein schon die langwierige Suche nach dem passenden Präparat gibt zu denken. Und dennoch: Alles im Körper beruht nun mal auf chemischen Prozessen, auch im Gehirn. Und der Autor gesteht Betroffenen ja auch durchaus zu, dass (zumindest bei einigen von ihnen) Antidepressiva helfen.

Aber zu sagen, Therapie bestehe im Regelfall nur aus Tablettenlotterie und keiner fragt nach mehr? Und die Idee, auch mal nach anderen Faktoren zu schauen, als bahnbrechende Neuerung zu verkaufen? Das kam bei mir nicht gut an. Und was wäre die Alternative? Nicht jeder Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben einfach mal neu in einer Kommune durchzustarten. Da steht dann wieder das System im Weg, das finanzielle oder mobile Hindernisse aufbaut. Teufelskreis. Auch der grundsätzliche Gedanke "Depression ist keine Krankheit, sondern ein Symptom einer kranken Gesellschaft" - stieß mir sauer auf. Kämpfen die Betroffenen nicht schon viel zu lange dafür, dass die Gesellschaft Depression (und andere psychische Beeinträchtigungen) als Krankheit anerkennt? Dass es eben kein "Jetzt stellt dich nicht so an"-Ding ist, an der die "böse Welt da draußen" Schuld ist? Der Autor geht selbst (kurz) darauf ein, aber mir hat das nicht gereicht. Ich glaube, da tut man der Community auf lange Sicht keinen wirklichen Gefallen mit.

Zu guter Letzt noch eine stilistische Anmerkung: Mit waren zu viele "Cliffhanger" bzw. zu gewollte Überleitungen in dem Buch. Fast jedes Kapitel lief auf eine Formulierung à la "Aber da wusste ich noch nicht, dass ich bald einen Mann treffen sollte, der noch viel beeindruckendere Dinge herausgefunden hatte" heraus. Das hat schnell genervt.

Alles in allem ein gutes gesellschaftskritisches Buch mit unterhaltsamen Reportagen alternativen Lebensweisen. Als bahnbrechendes Werk über Depressionen hat es mir nicht gefallen.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Sympathisch und unterhaltsam

Untenrum frei
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Ein tolles Werk, das so ziemlich alles erfüllt, was ich von einem guten Sachbuch erwarte. Sehr sympathisch und unterhaltsam zu lesen, viele Punkte, die zum Nachdenken anregen, was nicht zuletzt an den ...

Ein tolles Werk, das so ziemlich alles erfüllt, was ich von einem guten Sachbuch erwarte. Sehr sympathisch und unterhaltsam zu lesen, viele Punkte, die zum Nachdenken anregen, was nicht zuletzt an den zahlreichen "Aha-Momenten" liegt.

Worum geht es? Eigentlich darum, wie Frau Stokowski zur Feministin wurde: Anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte, angefangen bei der Kindheit, über die Teenager-Jahre und Studium bis hin zum "Erwachsen sein", schildet die Autorin ihre ganz persönliche und gleichzeitig mit Fakten unterfütterte Geschichte vom Heranwachsenen eines selbstständig, philosophisch denkenden Individuums, das nach und nach Missstände, vor allem sexisitischer Natur, der Gesellschaft erkennt und diese schließlich anprangert.

Wow, das klingt groß und sperrig. Ist aber wirklich toll, nachvollziehbar und, wie bereits erwähnt, sehr sympathisch erzählt. Dass mir der "Ton" von Frau Stokowski gefällt, wusste ich schon aus ihren Kolumnen - dass sie auch über eine längere Strecke gut erzählen kann, hat sie hier nun auch unter Beweis gestellt.

Das Buch hat mich besonders angesprochen, da ich mich an vielen Stellen wiedererkannt und verstanden gefühlt habe: Sei es durch ähnlich erlebte Situationen/Momente, sei es durch ähnliche Handlungs- und Denkweisen. Allgemein fällt mir kein wirklich bedeutender Punkt ein, an dem ich der Autorin nicht zustimme. Auch die Mischung aus persönlichen Erlebnissen und allgemeiner Einordnung dieser hat mir sehr gut gefallen, wobei mich die besonders schlimmen Erlebnisse auch sehr berührt haben.

Ein rundum tolles Leseerlebnis, nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen, die sich mit dieser Thematik (Feminsmus, Seximus, Gleichberechtigung und -behandlung) auseinandersetzen oder vielleicht einfach nur mal mehr darüber erfahren möchten. Hier gibt es einen klugen, sehr unterhaltsamen Einstieg mit viel Inspiration zu weiterführenden Themen, neuen Sichtweisen und Denkanstößen. Und das ohne erhobenen Zeigefinger. Absolute Leseempfehlung! Mein Partner möchte das Buch nun auch lesen - ich freue mich schon jetzt auf die anregenden Gespräche, die wir dann darüber führen werden.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Was für ein wunderbares Buch!

Kleine Feuer überall
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Hier hatte ich ganz viele Gefühle beim Lesen, dank dieser vielen interessanten, alles andere als perfekten Charaktere, die so viele Storylines mit Leben gefüllt haben. Schreibstil, moralische Fragen, Gedankenspiele ...

Hier hatte ich ganz viele Gefühle beim Lesen, dank dieser vielen interessanten, alles andere als perfekten Charaktere, die so viele Storylines mit Leben gefüllt haben. Schreibstil, moralische Fragen, Gedankenspiele - alles top. Das Buch war so klar und deutlich, Kopfkino vom allerfeinsten (der Film hätte nie aufhören sollen!)

Was für eine Art von Buch das ist? Nun, zum Teil ein Familiendrama mit Fokus auf verschiedene Arten von Eltern-Kind-Beziehungen, vor allem Mutter/Tochter. Ein bisschen Mystery schwingt auch mit: Kein Thriller im klassischen Sinne, mehr das langsame Schritt-für-Schritt auf-die-Schliche-kommen eines dunklen Geheimnisses (das wird aber nicht unnätig ausgereizt, sondern gerade richtig erzählt). Außerdem geht es um soziale Ungerechtigkeit, haben oder nicht haben, Rassismus, Privilegien - und Moral und Ethik bei ganz großen Fragen. Nicht zuletzt geht es um Träume, die sich erfüllen oder zerstört werden, um das Gefühl, gefangen zu sein, ohne es zu merken, und die Frage: Was ist richtig, was ist falsch und wieso eigentlich?

Der allwissende Erzähler teilt Fakten und Infos, verurteilt aber nicht. Kein Caharkter ist absolut liebenswert oder verabscheuungswürdig, alle hatten ihre guten und schlechten Momente und waren allesamt lesenwert. Für mich gab es keine langweiligen Passagen, ich habe jede Seite mit Genuss gelesen.

Bonus: Das ungewöhnliche Setting der "geplanten Stadt" Shaker Heights sowie zahlreiche popkulturelle Referenzen an die 90er Jahre, in denen das Buch spielt.