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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.06.2018

Herzerwärmender, humorvoller Roman mit liebevoll ausgearbeiteten Figuren

Miss Gladys und ihr Astronaut
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Zuerst will niemand es Gladys glauben, hat die alte Dame, die schon auf die 71 zugeht, doch beginnende Demenz: Sie behauptet, sie habe mit dem wohl weltweit bekanntesten ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Zuerst will niemand es Gladys glauben, hat die alte Dame, die schon auf die 71 zugeht, doch beginnende Demenz: Sie behauptet, sie habe mit dem wohl weltweit bekanntesten Astronauten gesprochen – mit Thomas Major. Der mürrische Mann, der als erster Mensch den Mars besiedeln wird und sich in erster Linie in den Weltraum schießen ließ, um von der Welt und ihren grässlichen Bewohnern fortzukommen, hat sich eigentlich nur verwählt. Bald wird jedoch klar, dass Gladys und ihre Familie in großen Schwierigkeiten stecken. Vielleicht ist ein Astronaut ja genau das, was sie in ihrer verzwickten Lage noch retten kann…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: aus verschiedenen Perspektiven (männlich und weiblich)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: - Es wird eine Kuh überfahren und der Vorfall als lustig dargestellt. Auch von genmanipulierten Tieren (hierbei werden auch Züchtungen angedeutet, die als tierquälerisch einzustufen sind) wird berichtet.

Warum dieses Buch?

Ich habe vor dem Lesen so viel Gutes über dieses Buch gehört, und der Klappentext versprach eine ganz und gar ungewöhnliche, interessante Geschichte. Da konnte ich natürlich wieder nicht wiederstehen! Das ungewöhnliche, kreative Cover verstärkte meinen Wunsch, das Buch zu lesen, nur noch zusätzlich.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Ich habe das Buch parallel als Buch und Hörbuch gelesen/gehört, weswegen ich hier auch auf den Aspekt des Sprechers näher eingehen werde. Begonnen habe ich mit dem Hörbuch, und ich hatte überhaupt keine Probleme, in die Geschichte zu finden. Der Sprecher, der sich so viel Mühe gegeben hat (dazu später mehr), hat mir den Einstieg sehr angenehm gemacht. Sofort wollte ich wissen, wie es mit der chaotischen Familie um Gladys und mit dem mürrischen Astronauten weitergeht.

Inhalt, Themen & Botschaften (+)

David M. Barnett erzählt in „Miss Gladys und ihr Astronaut“ eine ungewöhnliche Geschichte, auf die man sich voll und ganz einlassen sollte. Wenn man ausblendet, dass sich die Story um Tom Major nicht immer ganz nahe an der Realität bewegt, wird man dieses kurzweilige, herzerwärmende Buch mit Sicherheit genießen können. Und dieser Roman eignet sich tatsächlich perfekt als Auszeit vom Alltagsstress: Beim Lesen oder Hören konnte ich vollkommen abschalten. Nur allzu gerne begleitet man Ellie, James und Gladys bei ihren Alltagsproblemen, und nur zu gerne lässt man sich von Thomas Major mit in seinen „Schuppen“ im All nehmen.

Beim Lesen kommt tatsächlich (bei all den Anspielungen auf David Bowie kein Wunder!) intensive Weltraumstimmung auf. Solltet ihr beim Lesen das plötzliche Bedürfnis verspüren, euch sämtliche „Space Oddity“-Cover anzuhören und Informationsvideos über das Leben im All anzusehen – ich kann euch beruhigen, das ist ganz normal! Besonders ans Herz legen möchte ich euch jenes Cover, das vom kanadischen Astronauten Chris Hadfield auf der Raumstation ISS aufgenommen wurde. Eines kann ich prophezeien: Nach dem Lesen werdet ihr die Macht der Schwerkraft gleich viel stärker wahrnehmen, und ein vages Fernweh wird euch im Herzen schmerzen. Dieser kleine Schmerz, liebe LeserInnen, ist die Sehnsucht nach Schwerelosigkeit, nach Durch-die-Luft-Schweben, nach einer Reise ins All.

Trotz der Leichtigkeit und der kuriosen Situationen und Wendungen, die die Geschichte durchziehen, gibt es immer wieder auch ernste, sogar traurige Momente, die nachdenklich machen. So gelingt es dem Autor, der Geschichte, die viele verschiedene Themen wie Schuld, Demenz, Alter, Fehler, verpasste Chancen, Trauer, Hoffnung, Mobbing, Familie und Zusammenhalt behandelt, durchaus zwischendurch auch Tiefe zu verleihen.

Schreibstil (+)

Der Schreibstil ist flüssig und sehr angenehm zu lesen. Dabei sind die Beschreibungen sehr anschaulich und machen es einfach, das Kopfkino anzuwerfen. Die Sätze bestehen hauptsächlich aus Satzgefügen, die Sprache ist also keinesfalls zu einfach oder gar plump. Im Gegenteil – meiner Meinung nach hat David M. Barnett für diese Geschichte die perfekte Sprache gewählt, denn dadurch ist dieser Roman herzerwärmend, witzig, traurig und hoch emotional!

Protagonistin & Figuren (+/-)

Die Figuren machen vielleicht die größte Stärke des Romans aus. Bis in die Nebenfiguren sind sie einmalig und liebevollst ausgearbeitet, jede Person hat ihre Stärken, Schwächen, Macken und ganz eigene (oft schmerzhafte) Vorgeschichte. Besonders glänzen können aber natürlich die Hauptfiguren. Sie sind dreidimensional und komplex und machen eine glaubwürdige Entwicklung durch. Zahlreiche Rückblenden erklären vor allem Toms Vergangenheit und machen es leichter, sein Verhalten zu verstehen. Diese Rückblenden haben mich zwar manchmal etwas aus dem Lesefluss gerissen, jedoch waren sie niemals belanglos oder langweilig, sondern gaben wichtige Hintergrundinformationen preis. Auch wenn die Charaktere sich nicht immer vollkommen sympathisch verhalten, werden ihre Handlungsmotive, Ängste und Sorgen deutlich und man kann gar nicht anders, als sie ins Herz zu schließen.

Besonders toll fand ich natürlich Gladys: Sowohl die ernsten, tragischen als auch die amüsanten Seiten ihrer Altersdemenz werden im Roman thematisiert, dabei wird die alte, teilweise recht naive Dame aber nie nur durch ihre Krankheit definiert: Im Gegenteil, sie hat eine starke Persönlichkeit und ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie Probleme gelöst werden können. Eine tolle Figur! Einziger Wermutstropfen: Ich hätte mir gewünscht, noch mehr von Gladys und Major Toms Alltag zu lesen – hier wurde meiner Meinung nach Potential verschenkt.

Spannung & Atmosphäre (+)

Diesem Buch gelingt es hervorragend eine breite Palette von Gefühlen abzudecken: Die Geschichte lädt die Lesenden ein, mitzufühlen, mitzuhoffen und mitzuleiden und weckt Emotionen. Die Atmosphäre reicht von ernst, hoffnungslos, traurig und wütend über hoffnungsvoll, unbeschwert und glücklich bis hin zu amüsant. „Miss Gladys und ihr Astronaut“ ist stellenweise ein eher ruhiges Buch, das jedoch niemals langweilig wird. Immer wieder gibt es kleine, unerwartete Wendungen und natürlich will man wissen, wie die Geschichte schließlich für Ellie, James, Gladys und Major Tom ausgeht.

Humor (+/-)

Der Humor hat mir über weite Teile sehr gut gefallen. Mehrmals habe ich geschmunzelt oder sogar aufgelacht. An anderen Stellen jedoch wurde mein Humor jedoch leider gar nicht getroffen, hier waren mir die Witze zu flapsig und unangebracht.

Sprecher (♥)

Das Beste am Hörbuch war mit Sicherheit der hervorragende Sprecher, Simon Jäger. Er hat beim Lesen wirklich alles gegeben, viele Emotionen hineingelegt und mit seiner angenehmen Stimme souverän und talentiert durch die Geschichte geführt. Jede Figur erhält ihre eigene Stimme, besonders Gladys wurde wundervoll vertont! Das Buch wurde durch seine Sprechweise noch emotionaler, noch humorvoller, einfach insgesamt noch besser. Ich (als jemand, der schnell von fremden Stimmen genervt ist) werde den Sprecher im Hinterkopf behalten. Es wird mit Sicherheit nicht mein letztes Hörbuch von ihm bleiben.

Geschlechterrollen (+/-)

Hier bin ich zwiegespalten, da ich doch einige Kritikpunkte habe. Einerseits gibt es viele starke Frauenfiguren, die wissen, was sie wollen und das auch kommunizieren. Ellie ergreift zum Beispiel in Bezug auf Delil die Initiative, es gibt Frauen in Führungspositionen und generell selbstbewusste weibliche Figuren mit Vorbildwirkung. Andererseits gibt es teilweise auch unangebrachte Vergleiche, das alte Rollenverständnis, und das Wort „Schla***“ wird mehrfach benutzt, sowohl von Erwachsenen als auch von Kindern. Letzteres ist etwas, was ich ganz schlimm finde: dass schon so junge Menschen diese sexistischen Beschimpfungen verinnerlicht haben. Hier würde ich mir in Zukunft vom Autor mehr Sensibilität für dieses Thema wünschen, da Medien uns unbewusst stark beeinflussen können.

Mein Fazit

"Miss Gladys und ihr Astronaut" von David M. Barnett ist ein solider, herzerwärmender, humorvoller Roman, der vor allem mit seinem angenehmen Schreibstil und mit den liebevoll ausgearbeiteten Figuren punktet. Lediglich an manchen Stellen war mir der Humor zu flapsig und traf nicht ganz meinen Geschmack. Von Gladys und dem Alltag des Astronauten hätte ich zudem gerne mehr gelesen. Beim Lesen kommt richtige Weltraumstimmung auf (Musik-Tipp: Space Oddity von David Bowie und das Astronauten-Cover), und wenn man sich vollkommen auf die nicht immer ganz realistische Geschichte einlässt, wird man mit einem sehr kurzweiligen, angenehmen, durchaus tiefgründigen Leseerlebnis belohnt.

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die dem Alltag einmal entfliehen möchten und Lust auf eine Reise ins Weltall haben.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonist/innen: 5 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 15.06.2018

Gelungener, feministischer Roman mit Schwächen

Der Zopf
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt drei Geschichten von drei ganz unterschiedlichen Frauen und verflicht diese zu einem literarischen Zopf. Die Inderin Smita setzt alle Hebel in Bewegung, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die Autorin erzählt drei Geschichten von drei ganz unterschiedlichen Frauen und verflicht diese zu einem literarischen Zopf. Die Inderin Smita setzt alle Hebel in Bewegung, um ihrer Tochter die Schule zu ermöglichen. Die Italienerin Giulia kämpft um das Weiterbestehen der Firma ihres Vaters, und die erfolgreiche Anwältin Sarah erhält auf dem Höhepunkt ihrer Karriere eine niederschmetternde Diagnose. Neben ihrem Mut, ihrer Kraft und Entschlossenheit haben die Frauen noch etwas anderes gemeinsam: Haare bedeuten ihnen auf ganz unterschiedliche Art die Welt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: aus drei verschiedenen Perspektiven (Smita, Giulia, Sarah)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: - Es wird genau beschrieben, wie Ratten getötet werden. Allerdings werden diese dann zumindest auch verwertet, indem sie gegessen werden. So war ihr Tod wenigstens nicht ganz umsonst. Es gibt außerdem einen Vergleich mit einem sterbenden Stier in der Arena.
Gewalt gegen Kinder: - Ein Mädchen wird von seiner Mutter geschlagen.

Warum dieses Buch?

Im Vorfeld habe ich nur positive Lesermeinungen gehört. Dadurch wurde meine Neugier entfacht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Ich habe sehr schnell und leicht ins Buch gefunden. Die Schilderungen des Lebensalltages in Indien haben mich sehr schockiert und sofort mit Smita mitfühlen lassen. Zu den anderen Figuren habe ich langsamer eine Bindung aufgebaut, aber auch das dauerte nicht allzu lange. Bezeichnend ist bereits die Widmung („Den mutigen Frauen!“), die ankündigt, dass es sich um ein feministisches Buch handeln wird.

„Heute ist ein Tag, an den sie sich ihr Leben lang erinnern wird. Heute kommt ihre Tochter in die Schule.
Smita selbst hat keine Schule je von innen gesehen. In Badlapur haben Leute wie sie da nichts zu suchen. Smita ist eine Dalit. Eine Unberührbare.“ E-Book, Position 48

Inhalt, Themen & Botschaften (+)

„Der Zopf“ erzählt drei ganz unterschiedliche Geschichten, die alle durch das Thema Haare eher lose, aber dennoch geschickt miteinander verknüpft sind. Nicht alle Leben sind dabei immer gleich interessant, dennoch wird es, auch durch die kleinen Cliffhanger am Kapitelende, niemals langatmig. Ich war stets neugierig, wie es weitergehen würde. Am interessantesten fand ich jedoch Smitas Erzählstrang. Die Unberührbare hat so gut wie keine Rechte, ihre tägliche Arbeit besteht im Leeren der Toilettenecken in den Höfen und Häusern. Der Gestank wird so eindringlich beschrieben, dass man beim Lesen lieber nicht gerade frühstücken sollte. Die Lebensumstände und der Alltag in Indien erschrecken: überall Dreck, in Flüssen treiben Opfergaben, Blumen und Leichen, deren Einäscherung nicht bezahlt werden kann, nebeneinander dahin, durch die schlechte hygienische Lage gibt es viele Krankheiten. Am schockierendsten für jeden Menschen mit einem Funken Mitgefühl, besonders aber für FeministInnen wie mich ist die Stellung der Frau. Heiße Wut beginnt im Bauch zu brodeln, wenn man liest, wie Vergehen in Indien hauptsächlich bestraft werden: durch Vergewaltigungen. Als wäre diese Strafe nicht schrecklich genug, werden Frauen nicht nur für eigene Vergehen bestraft, sondern auch für jene ihrer Ehemänner, Väter und Brüder. Die Zustände dort sind unerträglich. Auch heute noch weibliche Babys lebend begraben, werden Frauen meist von ihren Schwiegermüttern grausam behandelt und sind Witwen geächtet. Gerade deshalb fiebert man auch so mit Smita mit: Sie will aus diesem Kreislauf ausbrechen und ihrer Tochter den Schulbesuch, die Chance auf ein besseres Leben, ermöglichen.

„Dabei tötet man nicht weit von hier neugeborene Mädchen. In den Dörfern von Rajasthan verscharrt man sie lebend in einer Kiste unter dem Sand, gleich nach ihrer Geburt. Es dauert eine ganze Nacht, bis die kleinen Mädchen sterben.“ E-Book, Position 110

Giuilas und Sarahs Erzählstrang können mit Smitas nicht mithalten, sie wirkten auf mich weniger intensiv. Jedoch haben auch sie durchaus ihre Stärken. Man erfährt beispielsweise einige interessante Informationen über das Geschäft mit den Haaren und über das Dasein als erfolgreiche Anwältin. Das Buch behandelt viele wichtige Themen (manche tiefgreifender als andere) wie die Lebensumstände in Indien, die Ersetzbarkeit eines Menschen in unserer Leistungsgesellschaft, die Veränderungen unseres Zeitalters. Meiner Meinung nach ist das Buch aber auch feministisch: Starke Frauen stehen im Zentrum, sie zeigen Mut und Entschlossenheit, sind kompetent, emanzipieren sich von ihrer Familie und kämpfen für das, was ihnen wichtig ist. Smita, Giulia und Sarah haben also durchaus Vorbildwirkung für LeserInnen jeden Alters.

Abwechselnd begleitet man die Frauen ein eher kurzes Stück auf ihrem Weg. Einige wenige Logiklöcher und Klischees sind mir hierbei aufgefallen. Woher kommt zum Beispiel auf einmal das praktische Rad, das Smita gehört, obwohl sie doch so arm ist, dass sie sich nicht einmal Essen leisten kann? Das Ende kam mir dann viel zu schnell, unzählige Fragen waren noch offen, ließen mir keine Ruhe und mich unzufrieden zurück.

Schreibstil (+)

Der Schreibstil gefiel mir eigentlich richtig gut. Ich fand ihn sehr anschaulich, flüssig und angenehm lesbar. Es gibt keine Wiederholungen und ich hatte das Gefühl, dass die Autorin sehr routiniert und gekonnt erzählt. Die Sätze sind teilweise lange Hauptsatzreihen, teilweise sehr kurz, es gibt treffende, schöne Vergleiche und teilweise wird es sogar philosophisch. Manchmal hätte es bei den Emotionen und Gedanken der Figuren aber durchaus noch etwas mehr ins Detail gehen können, mehr Dialoge statt indirekter Rede hätten dem Buch außerdem gutgetan. Eines hat mich gestört: Bei einigen Worten wurde beschlossen, sie nicht zu übersetzen oder zu erklären, vermutlich um ein gewisses z. B. italienisches Flair zu erhalten. Manche Worte konnte ich mir noch irgendwie herleiten oder durch den Kontext erschließen. Andere allerdings definitiv nicht. Ein solches Buch sollte auch für Menschen, die die jeweiligen Sprachen nicht sprechen, verständlich sein, ohne ständig Google bemühen zu müssen. Mehr Erklärungen (oder Übersetzungen) wären hier sinnvoll und angebracht gewesen.

„Es empfahl sich eher zu lügen, eine Ausrede parat zu haben, irgendeine Geschichte zu erfinden, alles war vorteilhafter als zuzugeben, dass man Kinder hatte, mit anderen Worten: Fesseln, Bande, Verpflichtungen. Etwas, das die Verfügbarkeit einschränkte, die Entwicklung der Karriere ausbremste.“ E-Book, Position 326

Protagonistin & Figuren (+/-)

Die Hauptfiguren sind sympathisch, ich bin ihrer Geschichte gerne gefolgt. Jedoch hätten dem Buch einige Seiten mehr gutgetan, da die Charaktere dann liebevoller und einzigartiger gezeichnet werden hätten können. Auch bei den Gedanken und Gefühlen der Protagonistinnen hätte ich mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Nach dem Lesen wurde nämlich schnell deutlich, dass die etwas flachen Figuren wohl schnell wieder vergessen sind. Smita, Giulia und Sarah erscheinen stellenweise eher einen gewissen Menschentyp darzustellen (der stellvertretend für eine ganze Gruppe steht) als eigenständige, lebendige, komplexe Menschen. Auch wenn ich durchaus mit ihnen mitgefiebert habe.

„Auf diese Weise hatte Sarah eine undurchlässige Mauer zwischen ihrem beruflichen und ihrem Privatleben errichtet, beide verliefen parallel zueinander, es gab keine Berührungspunkte. Die Mauer war fragil, zeigte hier und dort Risse, vielleicht würde sie eines Tages einstürzen.“ E-Book, Position 341

Die Nebenfiguren blieben großteils blass. Nur wenige nehmen eine wichtigere Rolle ein, nur wenig erfährt man über sie. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Besonders unsympathisch fand ich den cholerischen Vater von Giulia (egal, wie oft sie von seiner Liebe schwärmt), denn mit Menschen, die glauben, alle Welt müsse es verstehen, wenn sie ständig die Beherrschung verlieren, kann ich leider gar nichts anfangen.

Spannung & Atmosphäre (+)

Dieses Buch ist zwar nicht atemlos spannend, jedoch schafft es die Autorin, die Neugier konstant zu schüren. Ich wollte immer unbedingt wissen, wie es weitergeht. Die kleinen Cliffhanger am Ende der Kapitel sind natürlich ein sehr wichtiges Werkzeug, um diese Wirkung zu erreichen. Manches war ein wenig vorhersehbar, was mich aber nicht weiter gestört hat. Atmosphärisch hätte das Buch stellenweise noch etwas dichter sein können.

Geschlechterrollen (+)

Durch das Aufzeigen der Stellung der Frau in Indien wird Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema gelenkt, das vielen LeserInnen möglicherweise vor der Lektüre dieses Buches nicht in diesem Umfang bewusst war. Dies kann helfen, die Lage in Indien zu verbessern. Doch auch der Alltagssexismus im Job der ambitionierten Anwältin und die gläserne Decke, die leider immer noch Tatsache ist, werden gnadenlos enttarnt. Wie die Autorin Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem TED-Talk sagt: 52% der Weltbevölkerung sind Frauen. Warum wird die Erde dennoch hauptsächlich von Männern regiert? Die Botschaft von Laetitia Colombani scheint klar: Es muss sich etwas ändern und es ist heuchlerisch, nur mit dem Finger auf Schwellen- und Entwicklungsländer zu zeigen, denn auch bei uns ist es noch ein weiter Weg! Auch wenn die Autorin hier kein feministisches Manifest geschrieben und Lösungswege aufgezeigt hat, ist das Thema schon zentral im Buch. Die starken, mutigen, sich emanzipierenden Frauenfiguren der Geschichte unterstreichen diesen Eindruck nur.

„Die Rolle der Frau besteht darin, den Mann glänzen zu lassen, so hat ihre Mutter es ihr beigebracht.“ E-Book, Position 834

Mein Fazit

„Der Zopf“ ist ein gelungenes, interessantes Buch, das geschickt die Lebensgeschichten dreier ganz unterschiedlicher Frauen verknüpft. Der Schreibstil ist flüssig und routiniert, die Figuren sympathisch, wichtige Themen werden angesprochen. Dieses Buch ist außerdem ohne Frage ein feministischer Roman: Alltagssexismus, die extreme Benachteiligung und schlechte Behandlung der Frauen in Indien und die gläsernen Decken, die auch bei uns noch gibt und die es verhindern, dass talentierte, kompetente Frauen in hohe politische und unternehmerische Positionen aufsteigen, werden gnadenlos enttarnt. Smita, Giulia und Sarah sind selbstbestimmte, mutige, starke, ambitionierte Frauen, die ohne Zweifel Vorbildwirkung haben. Für kleinere Schwächen wie die etwas flachen, austauschbaren Figuren, die Logiklöcher und die teilweise fehlende Tiefe ziehe ich nur einen Stern ab, weil „Der Zopf“ insgesamt ein wirklich angenehmes Leseerlebnis war.

Empfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung, besonders für Frauen (aber auch für Männer)!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 4,5 Sterne
Protagonistinnen: 3,5 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Geschlechterrollen: +

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 08.04.2019

Herzerwärmende Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt - mit wunderschönen Illustrationen

Mama
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Inhalt

„Mama“ ist eine Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt. Frauen von verschiedenen Kontinenten, aus verschiedenen Kulturen und sogar aus verschiedenen Epochen werden in diesem Buch gefeiert.

Übersicht

Einzelband ...

Inhalt

„Mama“ ist eine Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt. Frauen von verschiedenen Kontinenten, aus verschiedenen Kulturen und sogar aus verschiedenen Epochen werden in diesem Buch gefeiert.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: arsEdition
Seitenzahl: 64
Erzählweise: keine durchgehende Erzählperspektive, meistens Ich-Erzähler (aus der Sicht der Mütter)
Tiere im Buch: +/- Es werden im Buch keine Tiere verletzt, jedoch trägt eine Frau Pelz und einen toten Fuchs um den Hals. Hier handelt es jedoch um eine Inuit, die ohne diesen Pelz wahrscheinlich nicht überleben könnte.

Warum dieses Buch?

Dieses Mal wurde mein Wunsch, das Buch zu lesen, durch das Cover ausgelöst. Die Zeichnung fand ich so wundervoll, dass ich das Buch unbedingt lesen wollte.

Meine Meinung

Aufbau & Inhalt (+)

Diese Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt (für mich ist es nicht wirklich ein Kinderbuch!) enthält keine durchgehende Erzählung, sondern einzelne bedeutende und unvergessliche Momente zwischen Mütter und ihren Kindern. Im Mittelpunkt stehen Neugeborene, Babys und Kleinkinder. Gedanken, kleine Wahrheiten, Gedichte und Gefühlsausdrücke, die viele Mütter (und vermutlich auch Väter!) sicher sehr gut nachvollziehen können, ziehen sich durch die Sammlung. Dabei finden auch alltägliche oder anstrengende Situationen ihren Weg ins Buch – diese werden stets mit einer Prise Humor geschildert. „Mama“ eignet sich daher wunderbar als Geschenk (zum Beispiel für den kommenden Muttertag!) für alle Frauen, die vor kurzem Mutter geworden sind, aber auch für jene, die in Erinnerungen schwelgen und sich an die Zeit erinnern wollen, als ihre Kinder noch Babys waren. Da ich selbst keine Kinder habe, konnte mich das Buch nicht so berühren wie gehofft. Mütter wird das Buch jedoch sicher nicht kalt lassen.

Schreibstil (+)

Auch der Schreibstil ist nicht einheitlich. Meist ist er aber sehr einfach gehalten – und dabei dennoch kraftvoll und intensiv. Die Sätze sind oft Liebeserklärungen an die neuen, kleinen Erdenbürger*innen, manchmal humorvoll, manchmal schnörkellos, manchmal poetisch – immer jedoch herzerwärmend und berührend.

„Auf Wiedersehen, junger Vater.
Du bist vor der Erntezeit geflohen.
Wir waren zwei.
Du hast das Feld geräumt.

Nun sind wir wieder zwei.
Am Horizont ein Silberstreif.
In meinem Arm die Zukunft.
Sie schläft.“ Seite 37

Illustrationen (♥)

Den Namen Quentin Gréban werde ich mir definitiv merken! Er hat für dieses Buch einmalige, wunderschöne Illustrationen kreiert, die mich absolut verzaubert haben. Farbenfrohe, zarte, detaillierte Bilder, die über die ganze Seite gehen, wechseln sich dabei mit kleinen, feinen Bleistiftskizzen ab. Die großen Bilder sind Porträtzeichnungen oder zeigen Mütter und ihre Babys in alltäglichen Situationen. Jede einzelne Illustration ist mit viel Herzblut gezeichnet worden, der Respekt und die Liebe für die Mütter, die der Autor hat, sind bei jedem Bild zu spüren. Die Frauen wirken wunderschön, auch wenn ihre Kinder sie vielleicht gerade in den Wahnsinn treiben. Die Nähe zwischen Mutter und Kind wird dabei ganz wundervoll eingefangen.,

Geschlechterrollen & Diversität (♥)

Obwohl auch Männer sich heutzutage selbstverständlich um ihren Nachwuchs kümmern, ist dieses Buch nur den Müttern gewidmet - was okay ist. Ganz unterschiedliche Frauentypen werden dabei präsentiert: Sie haben helle oder dunkle Haut, tragen Kopftuch oder kurze Kleider, stammen aus den verschiedensten Ländern und leben ganz unterschiedliche Leben. Viele lassen sich dabei von ihren Kindern nicht bremsen – und eine Frau arbeitet sogar als Soldatin. Was sie alle gemeinsam haben, ist die bedingungslose Liebe zu ihren Kindern. Auch einengende Rollenbilder, Geschlechterstereotypen und jene ungebetenen Ratschläge, die jede/r an Mütter heranzutragen scheint, werden thematisiert. Der Blick in die Zukunft der kleinen Mädchen ist dabei hoffnungsvoll, was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat.

Mein Fazit

„Mama“ von Hélène Delforge ist eine herzerwärmende, berührende Liebeserklärung an alle Mütter dieser Welt. Manchmal einfach und schnörkellos, manchmal humorvoll und oft poetisch werden unvergessliche Momentaufnahmen im Leben einer Mutter in Gedichten und gefühlvollen kleinen Texten festgehalten. Mich selbst (als kinderlose Frau) hat das Buch nicht immer berühren können - Mütter werden jedoch vieles sehr gut nachvollziehen können und sich verstanden und abgeholt fühlen. Das Buch feiert die Nähe zwischen Mamas und ihren Babys und lädt sie zum Schwelgen in Erinnerungen ein. Genau deshalb ist das Buch perfekt als Geschenk für frischgebackene und auch erfahrene Mütter geeignet! Für Kinder würde ich es eher nicht empfehlen (auch wenn es offiziell ein Kinderbuch ist) – sie werden die Bedeutung der Texte vermutlich noch nicht wirklich verstehen. Ein großer Pluspunkt sind zudem die Diversität und die verschiedenen Frauen, die im Buch dargestellt werden. Die Illustrationen jedoch waren mein absolutes Highlight, sie sind wunderschön und mit viel Herzblut gezeichnet worden – in jedem Bild ist der Respekt und die Liebe, die Quentin Gréban Müttern entgegenbringt, spürbar.

Daher: Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle Mütter!


Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Illustrationen: 5 Sterne ♥
Diversität: ♥
Rollenbilder: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch erhält von mir vier zufriedene Lilien!