Profilbild von Viv29

Viv29

Lesejury Star
offline

Viv29 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Viv29 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.10.2019

Lebhafte, berührende Geschichte im gewöhnungsbedürftigen Schreibstil

Der Besuch des Leibarztes
0

"Der Besuch des Leibarztes" erzählt die wahre Geschichte des Johann Friedrich Struensee, der Ende des 18. Jahrhundert bemerkenswerte Reformen in Dänemark einführte, letztlich aber den Machtspielen am dänischen ...

"Der Besuch des Leibarztes" erzählt die wahre Geschichte des Johann Friedrich Struensee, der Ende des 18. Jahrhundert bemerkenswerte Reformen in Dänemark einführte, letztlich aber den Machtspielen am dänischen Königshof zum Opfer fiel. Als ich zum ersten Mal über diese tragischen Geschehnisse las, war ich geradezu erschrocken über die Zustände am Königshof, die Skrupellosigkeit einiger der Agierenden und die Ereignisse, die sich als Material für einen opulenten Roman geradezu anbieten. So war ich auf die Umsetzung dieses Romans natürlich sehr gespannt.

Diese Ausgabe ist Teil der Fischer Taschenbibliothek, die ich aufgrund ihrer ansprechenden Gestaltung generell sehr erfreulich finde. Auch "Der Besuch des Leibarztes" ist gelungen - im ungewöhnlich kleinen Buchformat der Reihe, mit einem hochwertigen festen Einband und einem dezenten Titelbild. Haptisch angenehmes Papier und ein Lesebändchen vervollständigen die schöne Ausgabe.

Der Schreibstil Per Olov Enquists ist gewöhnungsbedürftig, einige Aspekte fand ich nicht sehr angenehm. Er beginnt das Buch mit der Phase zehn Jahre nach Struensees Hinrichtung, beschreibt uns Personen und Geschehnisse lebendig, greift hierzu auch auch zeitgenössische Quellen zurück. Das geschieht im Buch häufig - inwiefern diese Quellen authentisch sind, läßt sich mangels Quellenangaben für mich nicht nachvollziehen, ich gehe aber davon aus, daß sie authentisch sind, und letztlich ist es ein Roman, kein Sachbuch. Sie komplementieren den Romantext sehr gut, wenn sie auch teilweise zu ausführlich wiedergegeben werden. Diese lebendige Schilderung am Buchanfang wird dann allerdings von recht langatmigen theoretischen Exkursen und Überlegungen abgelöst. Auch dies zieht sich durch das Buch. Einerseits sind wir durch farbige Erzählungen und gut dargestellte Charaktere ganz nah am Geschehen dabei, ich fühlte mich beim Lesen oft regelrecht in die Schauplätze hineinversetzt. Andererseits ergeht sich der Autor nur zu gerne in lange theoretische Passagen, die oft langweilig sind und das Geschehen zäh unterbrechen.

Nach jenem ersten Teil geht der Autor in der Geschichte zurück und berichtet ab dann chronologisch von der Kindheit des dänischen Königs Christian bis zur Hinrichtung Struensees. Es gelingt hier sehr gut, Christian, der geisteskrank war und so zur Marionette der Machtgierigen am Hofe wurde, eindringlich und echt darzustellen. Wir erleben einen Jungen, später einen jungen Mann, der an der erbarmungslosen Erziehung bei Hofe unbeschreiblich leidet, der so gerne alles richtig machen möchte, aber das Rüstzeug dafür nicht hat und der trotz seiner Krankheit - die allen wohl bekannt ist - in die Rolle des von Gott gesandten absoluten Herrschers gesteckt wird. Sein Leid wird beeindruckend vermittelt und wirft ein klares Licht darauf, wie all diese Ereignisse möglich waren. Auch seine Frau Caroline Mathilde, eine englische Prinzessin, die Opfer der machtpolitischen Heiratsentscheidungen europäischer Königshäuser wird, wird von Enquist zum Leben erweckt. Ihre Ängste, ihre Einsamkeit und Sehnsüchte, stellen sich deutlich dar. Die seltsame Beziehung dieser beiden gezwungenen Eheleute ist ebenfalls sensibel dargestellt. Es ist meines Erachtens die größte Stärke dieses Buches, uns diese historischen Persönlichkeiten so menschlich nahezubringen. Struensee schließlich, der zum verhängsnisvollen Dritten in dieser unglücklichen Konstellation werden wird, gewinnt ebenfalls farbige Kontur, die - soweit ich das ermessen kann - mit der historischen Person gut übereinstimmt.

Während also Charakterzeichnung und Atmosphäre stilistisch gelungen sind, stören nicht nur die oben erwähnten theoretischen Exkurse das Lesevergnügen. Auch die zahlreichen Wiederholungen haben mir gar nicht zugsagt. Sie sind als Stilelement beabsichtigt, das merkt man, aber sie sind kein erfreuliches Element, sind überflüssig, anstrengend. Auch die Faszination des Autors mit dem männlichen Unterleib nimmt manchmal überhand. Inwieweit es zur Geschichte beiträgt, wenn man bei manchen Szenen genauestens über jede Bewegung des männlichen Geschlechtsorgans informiert wird und die Notwendigkeit der ständigen Auslebung des Geschlechtstriebs des Königsvaters, des Fortpflanzungsaktes des Königs ausführlich und immer wieder besprochen und erwähnt wird, bleibt dahingestellt. Ich fand es so detailliert eher ermüdend und unnötig.

So war ich beim Lesen hin- und hergerissen. Einige Szenen sind so tiefgehend berührend, daß ich ganz begeistert war. Viele Szenen sind so zäh und überflüssig, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Insgesamt ist der Schreibstil nicht unbedingt mein Fall. Allerdings ist die Geschichte um Struensee, Christian und Caroline so lebhaft geschildert, wird uns so nahegebracht, ist historisches Geschehen so farbig echt geworden, daß ich froh bin, das Buch gelesen zu haben.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Teils sehr berührend, teils verzettelt und stereotyp

Altes Land
0

Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die ...

Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die als Flüchtlinge aus Ostpreußen im Alten Land ein Zimmer auf einem Bauernhof zugewiesen bekommen und - wie leider die Flüchtlinge jener Zeit überhaupt - feindselig empfangen werden. "Flüchtlingspack" sind diese Menschen, die so Schreckliches erlebt haben. Am Ende des Buches wird dies so schlicht und doch so eindringlich geschildert - die Mütter, die nach einer solchen Flucht keine richtigen Mütter mehr sein konnten, die sprachlos wurden, die das Erlebte in sich vergruben. Die Kinder, die bei einem vereisten Fluß nicht mehr ans Eislaufen denken, sondern an Menschen und Pferde, die auf der Flucht von Tieffliegern beschossen werden, erfrieren, im eisigen Meer qualvoll ertrinken. Dieser Teil der Geschichte wird uns ganz hervorragend geschildert und hat in heutiger Zeit, in der wieder Flüchtlinge diffamiert und teils dämonisiert werden, erschreckende Aktualität. Wie sehr das Trauma der Flucht aus Ostpreußen fortwirkt, über Jahrzehnte und Generationen hinweg, das zeigt uns "Altes Land", und als Enkelin einer aus Ostpreußen geflüchteten Großmutter berührte mich dieses Thema auch ganz persönlich. Die Eindringlichkeit geschieht gänzlich ohne Pathos, ebenso wie die Schilderung des Kriegstraumas des aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Karl, dessen Leiden bis zum Ende seines langen Lebens immer wieder in die Geschichte einflochten werden.

Vera und Karl sind aber nur zwei der recht vielen Personen, denen wir in "Altes Land" begegnen, ihre Traumata nur ein Fokus dieser Geschichte, die viele Themen aufgreift und sie deshalb manchmal nicht ganz vollständig erzählt. Einerseits ist das Buch bemerkenswert konzipiert - die Autorin wechselt geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen und zahlreichen Charakteren, schildert diverse Perspektiven, und dies auf weniger als 300 Seiten. Dadurch kommt aber eben auch mancher Charakter, manche Geschichte zu kurz.

Laut Klappentext sind Vera und Anne, "zwei Einzelgängerinnen", die Hauptpersonen. Sie bilden auch den roten Faden, gehen aber manchmal in der Vielzahl der Personen unter. Gerade Anne ist meines Erachtens keine gut gewählte Protagonistin. Fast eigenschaftslos selbstmitleidet sie sich durch das Buch. Anne sagt wenig, tut wenig, ist eine Art Schatten im Hintergrund der Geschichte, mit permanent mißmutig zusammengepressten Lippen - so erschien sie mir beim Lesen jedenfalls. Ich konnte für sie deshalb weder Interesse noch Mitgefühl aufbringen - wobei sie das Mitgefühl ja schon reichlich für sich selbst hat und die meisten in ihrem Umfeld nicht mag. In Anne findet sich das zweite Hauptthema des Romans - das Aufeinanderprallen von Stadt- und Landleben. Wir begegnen ihr zu Beginn in der Welt der Latte-Macchiato-Übermütter. Diese sind herrlich treffend geschildert, ich habe an manchen Stellen lachen müssen angesichts der mit beißendem Humor dargestellten Mütter, für die ihr Nachwuchs das Zentrum des Universums darstellt und die erwarten, daß das restliche Universum das gefälligst auch so sieht. Allerdings entwickelt sich hier dann wenig weiter - wir lernen im Laufe des Buches fast nur noch Menschen kennen, die allesamt Vorurteile gegen die anderen haben. Was am Anfang also noch amüsant ist, nutzt sich dann rasch ab, weil immer wieder mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet wird und man irgendwann schon weiß, jetzt kommt wieder eine bissige Beschreibung einer Gruppe von Menschen und ihrer Lebenseinstellung. Das funktioniert meines Erachtens, wenn es ein Element einer facettenreichen Geschichte ist, aber nicht, wenn es überbenutzt wird.

So sind die aufs Land gezogenen oder zu Landpartien kommenden Städter alle ein wenig dümmlich-überheblich, idealisieren das Landleben, verstehen die Strukturen nicht und blicken auf die Bauern herab. Die Bauern sind alle ein wenig starrsinnig, gehen das Landleben mit der unsentimentalen, manchmal naturzerstörenden, Art jener an, die hier seit Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen und blicken auf die Städter herab, auf Vegetarier, auf weniger traditionelle Erziehungsarten. Die Landkindergärtnerin blickt auf die Stadtmutter herab, die Stadtmutter auf die Landkindergärtnerin, usw. Da hier kaum Weiterentwicklung erfolgt und so viel mit Stereotypen gearbeitet wird, wurde das, was anfänglich noch unterhaltsam war, rasch langweilig.

Nachdem das erste Drittel ein gutes Erzähltempo hat und ich es fast in einem Rutsch durchlas, folgten dann viele langatmige Passagen und zahlreiche Wiederholungen. Gerade letztere wurden zunehmend ärgerlich. Während viele interessante Aspekte unerzählt bleiben, wird viel Nebensächliches ausführlich dargestellt. Es gibt auch hier noch interessante und berührende Momente, gerade die fast wortlose Zuneigung zwischen Vera und ihrem Nachbarn, die unaufdringliche Art, in der sie einander beistehen, ist hervorragend geschildert. Aber leider nahm das Lesevergnügen aufgrund der genannten Punkte immer weiter ab, erlebte mit der Rückbesinnung auf das Thema der Ostpreußenflucht und -herkunft zum Ende hin wieder einen Aufschwung. Insgesamt war "Altes Land" also ein gemischtes Vergnügen für mich.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Intrigenreiches Wien, opulent erzählt

Im Schatten des Turms
0

"Im Schatten des Turms" führt uns in die opulent erzählte Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Schon der Prolog nimmt uns gleich mitten ins Geschehen, lebhaft und auf positive Weise detailreich finden ...

"Im Schatten des Turms" führt uns in die opulent erzählte Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Schon der Prolog nimmt uns gleich mitten ins Geschehen, lebhaft und auf positive Weise detailreich finden wir uns im Wiener Narrenturm, erleben Angst, Ungewissheit und Bedrohung ganz unmittelbar. Der Narrenturm existiert wirklich, wurde einst als psychiatrisches Krankenhaus erbaut und ist heute ein Museum. Ihn als Fokus eines Romans zu sehen, hat mich sofort fasziniert. Der Klappentext, mit der Überschrift "Hinter den Mauern des Narrenturms, der ersten psychiatrischen Heilanstalt der Welt" und einem ausführlichen Absatz über den Narrenturm und die damaligen Entwicklungen der Psychiatrie erweckten bei mir den Eindruck, daß dies der Hauptfokus des Romans sein würde. Im ersten Drittel ist dies auch der Fall. Wir lernen Alfred kennen, einen jungen Medizinstudenten. Ganz ausgezeichnet wird hier geschildert, wie das Medizinerstudium damals verlief, man sieht es geradezu bildlich vor sich, gerade, wenn man die Schauplätze aus eigener Anschauung kennt. Die Charaktere sind lebendig, das Geschehen ausgesprochen interessant. Wir begleiten Alfred und seine Mitstudenten in den Narrenturm, erleben, wie die "Irrsinnigen" zu Anschauungsobjekten herabgewürdigt, ihnen das Menschsein abgesprochen wird. Die im Klappentext erwähnte Begegnung mit der "jungen Frau mit seltsamen Malen auf den Armen", die sinistre Vorgänge im Narrenturm vermuten läßt, wird eindringlich geschildert. Auch die anderen Fälle, mit denen Alfred medizinisch zu tun bekommt, sind geradezu spannend, denn der Autor vermittelt uns hier kenntnisreich und anschaulich den damaligen Stand der Medizin. Das ist ein Thema, das in historischen Romanen in dieser Ausführlichkeit selten vorkommt und das machte das erste Drittel des Buches für mich ausgesprochen erfreulich. Davon hätte ich gerne noch viel, viel mehr gelesen.

Die zweite Hauptperson ist Helene, eine Grafentochter, die in einer gänzlich anderen Welt lebt als Alfred. Hier zeigt sich ebenfalls der hervorragende Schreibstil, ich sah ihr idyllisches Schloß mit den gepflegten Gärten, dem gütigen Vater und dem treu ergebenen Personal ebenfalls vor mir. René Amour versteht es, das historische Umfeld zum Leben zu erwecken und auch seine Charaktere auszuarbeiten. Wenn da eine Dame auf ihrer Chaiselongue nicht sitzt, sondern "residiert", sagt uns dieses eine Wort schon sehr viel - die gelungene Wortwahl beeindruckt immer wieder. Das ganze Buch hindurch sind bis zum kleinsten Nebencharakter alle facettenreich und echt. Es treten einige historische Persönlichkeiten auf, sogar Kaiser Joseph II begegnet uns und wird vom historischen Namen zum Menschen. Ein Namensverzeichnis zu Beginn des Buches listet die vielen Charaktere auf und vermerkt auch, welche historisch verbürgt sind. Ein informatives und persönliches Nachwort gibt zusätzliche Informationen zur Behandlung von historischen Persönlichkeiten und Orten, gibt auch nützliche Hintergrundinformationen. Die historische Genauigkeit ist, soweit ich das beurteilen kann, exzellent. Hier spürt man penible Recherche, die gut in die Geschichte eingearbeitet wird.

Der Narrenturm und die medizinische Komponente treten leider nach dem ersten Drittel völlig zurück und tauchen kaum noch auf, das Geheimnis um die junge Frau mit den Malen wird fast beiläufig aufgelöst. Ich fand es sehr schade, daß diese im Klappentext ausführlich angekündigte Thematik letztlich eine wesentlich kleinere Rolle spielte, als zu vermuten war. Der Hauptfokus der Geschichte liegt auf sehr ausgefeilten Intrigen mit allem Drum und Dran: chiffrierte Briefe, maskierte Schläger, Decknamen, Symbole, doppeldeutige Bemerkungen. Das ist sorgfältig konzipiert, ist nur leider ein Thema, das mich überhaupt nicht anspricht. Die mysteriösen Begegnungen und Bemerkungen waren mir irgendwann zu viel, und als unsere Protagonistin Helene irgendwann ihren Konversationspartner fragt, ob es nicht möglich wäre, sich ausnahmsweise einfach mal völlig normal zu unterhalten, ohne alberne Spielchen, war ich ganz auf ihrer Seite. Auch hat sich mir nie erschlossen, welchen Zweck diese Intrigen für die meisten Beteiligten hatten, ich konnte mit einigen der Manöver wenig anfangen. Zudem konnte ich an manchen Stellen nicht nachvollziehen, wie schnell sich eine unerfahrene Person das geschickte Intrigenspiel angeeignet hat und wie ungeschickt manch erfahrene Intrigantin manchmal agierte. Das ist natürlich ein rein subjektiver Eindruck, hat mir persönlich aber das Lesevergnügen eben doch stellenweise merklich gedämpft, weil es so einen großen Raum einnahm. Wem dieses Thema liegt, der wird es in diesem Buch ganz ausgezeichnet dargestellt und geschildert finden.

Ein weiteres Hauptthema des Buches war der Krieg, die Leiden der zwangsweise Rekrutierten, das unmenschliche Verheizen von Menschenleben. Auch hier wieder bemerkenswertes historisches Wissen, lebhaft geschilderte Szenen, die Kämpfe für meinen Geschmack manchmal etwas zu ausführlich. Störend fand ich, daß hier und auch am Ende des Buches etwas zu oft lebensrettende Zufälle eine Rolle spielen. Das kann man einmal, auch zweimal noch nachempfinden, aber vier-/fünfmal sind mir persönlich zu viel. Interessant waren hier dafür Gespräche, die verschiedene Ansichten zum Weltgeschehen und den gedanklichen Strömungen jener Zeit darstellten; dies so gut, daß man durchaus beiden gegensätzlichen Ansichten etwas abgewinnen konnte.

So ist "Im Schatten des Turms" ein Roman, der mir persönlich thematisch nicht ganz zusagte, dessen Abkehr vom medizinischen/psychiatrischen Thema ich bedauerlich finde, der dafür durch hervorragend recherchierte und erzählte historische Genauigkeit besticht, durch einen bemerkenswerten Schreibstil und Charaktere, die einen berühren und von den Buchseiten lebensecht aufsteigen.

Veröffentlicht am 14.10.2019

Überwiegend nicht plausibel, Erzählweise behäbig und distanziert

Die Hoffnung zwischen den Zeilen
0

Der Klappentext hat bei mir hohe Erwartungen an das Buch geweckt. Eine in der Nachkriegszeit spielende Geschichte, die bis in die Kriegszeit zurückgeht und sowohl Deutschland als auch Schweden behandelt ...

Der Klappentext hat bei mir hohe Erwartungen an das Buch geweckt. Eine in der Nachkriegszeit spielende Geschichte, die bis in die Kriegszeit zurückgeht und sowohl Deutschland als auch Schweden behandelt – das klingt vielversprechend. Ich weiß noch recht wenig über Schweden während des Zweiten Weltkrieges und war sehr gespannt, hier mehr zu lernen.

Leider aber wurden meine Erwartungen nicht getroffen. Das Buch wird als Historischer Roman kategorisiert, aber dafür ist recht wenig Historisches drin. Ja, es spielt zur Nachkriegszeit, es gibt einige Rückblicke, einige vereinzelte Informationen mit historischem Inhalt, aber letztlich hätte die Geschichte mit ein paar leicht veränderten Parametern zu jeder Zeit stattfinden können. Nachkriegsatmosphäre kam kaum auf – generell mangelte es an Atmosphäre. Über Schweden im Krieg habe ich so gut wie nichts erfahren (über Deutschland im Krieg ebenfalls nicht).

Es beginnt noch recht plastisch mit Uli, die in das schwedische Dorf Krokom reist. Es gibt einige Hinweise über die Meinung der Schweden über die Deutschen nach dem Krieg, ein paar Rückblicke Ulis in die Kriegszeit in Hamburg. Das bleibt aber leider kurz, oberflächlich und hinterläßt mehrere offene Fragen. Die beiden Hauptpersonen Uli und Elsa blieben mir das ganze Buch hindurch fremd, Uli wird zudem immer unsympathischer. Die Erzählweise der Autorin ist ausgesprochen distanziert. Das ist auch deshalb unerfreulich, weil es hier um durchaus gravierende Entscheidungen geht, die die Protagonistinnen treffen oder trafen, die uns aber überhaupt nicht plausibel gemacht werden. Das trifft insbesondere auf Elsa zu. Elsa hilft jemandem in einem Maße, das über einen kleinen Gefallen weit hinausgeht und auch für sie durchaus Folgen haben könnte. Dieses im Klappentext erwähnte „Geheimnis“ war mir übrigens schon ziemlich schnell klar, auch weitere Entwicklungen waren vorhersehbar.

Uli taucht also in Krokom auf, weil sie Briefe gefunden hat, die Elsa dem Deutschen Hans (lt Klappentext – im Buch heißt er Johann, bzw Hansi) schrieb, welcher mit Uli „verlobt“ war. Ich setze dies in Anführungsstriche, weil man die Liebe zwischen Uli und Hans zu keinem Zeitpunkt nachvollziehen kann. Für Uli war es eine von mehreren Bettgeschichten und schon deshalb ist es nicht plausibel, daß sie Jahre später wegen dieses Mannes zu Elsa reist. Elsa hat ebenfalls Briefe mit Hans ausgetauscht. Warum? Das erschließt sich dem Leser leider nicht, insbesondere, da sie nur über Landwirtschaft geschrieben zu haben scheint. Somit sind für die Geschichte wesentliche Konstellationen und Motive nicht nachvollziehbar.

Im Klappentext wird erwähnt, daß Uli und Elsa „vorsichtig Freundschaft“ knüpfen. Auch das sah ich nicht. Uli trampelt in Elsas Leben, diese enthüllt der Unbekannten umgehend ihr Geheimnis, was dazu führt, daß Uli Elsa gegenüber mit größter Selbstverständlichkeit die dreistesten Forderungen stellt, Elsa diese – ohne daß der Leser versteht, warum – erfüllt und von Uli genervt ist.

Auch sonst gibt es mehrere Stellen, die nicht plausibel sind, zwei Aspekte würde ich sogar als falsch geschildert einstufen. Der letzte Teil des Buches enthält so viele schlecht durchdachte Aspekte, unglaubhafte Wendungen, praktische Zufälle und ein unrealistisches Ende, daß ich mich ein wenig verulkt fühlte.

Das Buch liest sich leicht, es gibt auch einige gut geschilderte Szenen (hauptsächlich am Anfang). Die Erinnerungen Ulis an frühere Jahre haben durchaus Interessantes, sind auch gut in den Text eingeflochten. Allerdings ist das Erzähltempo insgesamt äußerst behäbig, mit vielen unnötigen Details (besonders bedauerlich, da wichtige Details nicht vorhanden waren und zu viel offen blieb).

So muß ich also leider sagen, daß ich weder inhaltlich noch stilistisch von diesem Buch überzeugt wurde und es mir kein Lesevergnügen bereitete.

Veröffentlicht am 13.10.2019

Düster-atmosphärische Vielfalt

Die alte Freundin Dunkelheit
0

"Die alte Freundin Dunkelheit" hat mich gleich durch das ausgesprochen gelungene Titelbild (welches leider in meinem eBook nicht angezeigt wird) angesprochen. Sehr stimmungsvoll, mit herrlich düsterer ...

"Die alte Freundin Dunkelheit" hat mich gleich durch das ausgesprochen gelungene Titelbild (welches leider in meinem eBook nicht angezeigt wird) angesprochen. Sehr stimmungsvoll, mit herrlich düsterer Atmosphäre. Die durch das Titelbild geweckte Erwartung wird vom Buch dann auch erfüllt.

In 20 Geschichten (eine davon ein Gedicht) führt uns Katja Angenent in verschiedene Welten der Düsternis, dies in bemerkenswerter Vielfalt. Den Beginn machen Geschichten mit historischem Hintergrund. Gleich zu Beginn begegnen wir dem Salierkaiser (zum Zeipunkt der Geschichte noch König) Heinrich IV. Die Autorin nimmt diese historische Persönlichkeit und webt ihn in eine fiktive Geschichte ein, die seinem berühmten Gang nach Canossa eine ganz neue Perspektive verleiht. Diese Kombination ist ein gelungener Einstieg. In den folgenden "historischen" Geschichten sind die Persönlichkeiten fiktiv, die historischen Umstände gut geschildert und für die Geschichten genutzt. Der Schreibstil ist - bis auf eine zu moderne Formulierung - dem Hintergrund angemessen und paßt sich dann bei den folgenden "modernen" Geschichten mühelos der Gegenwart an, in der diese spielen. Das alleine ist schon einmal bemerkenswert und erfreulich.

Überhaupt gefiel mir der Stil ausgezeichnet. Die Autorin kann hervorragend Atmosphäre und Stimmung schaffen, es finden sich wunderschöne Sätze wie "Im Hof hatte der Nebel die dürren Bäume gänzlich verschlungen; er erahnte ihre Schatten mehr, als er sie tatsächlich sah." Wir tauchen in so viele verschiedene Welten ein, die ich oft bildlich vor mir sah. Ob es nun mächtige Burgen sind, ein trostloses Hotel, ein sogenannter Lost Place, oder ein fast ausgestorbenes irisches Dorf - Katja Angenent versteht es, uns in wenigen wohlgesetzten Worten ihre Welten zu schildern. So machte mir das Lesen Spaß, nur die konsequente Großschreibung des Wortes "Du" an Stellen, an denen es nie groß geschrieben wird (zB in wörtlicher Rede), irritierte mich doch ziemlich.

Die Geschichten haben unterschiedliche Länge, manche sind gerade zwei Seiten lang, andere etwas länger. Mir persönlich sagten die etwas längeren Geschichten meistens mehr zu, da man sich hier mehr in die Atmosphäre vertiefen konnte und auch thematisch weniger offen blieb. Allerdings bieten nur die wenigsten Geschichten eine Erklärung oder wenigstens einen Hinweis, was auch durchaus so beabsichtigt ist. Ich ziehe es vor, nicht ganz so sehr im Dunkeln gelassen zu werden und so gab es einige Geschichten, die mich am Ende etwas unzufrieden zurückließen, weil mir wichtige Punkte völlig im Dunkeln blieben. Das ist aber reine Geschmackssache. Wenn man sich darauf einlassen kann, daß vieles offen bleibt, wird man mit exzellent gestalteter Atmosphäre belohnt und letztlich gefielen mir auch diese Geschichten meistens gut. Es gab nur vereinzelte Geschichten, mit denen ich gar nichts anfangen konnte, der Großteil hat mich angesprochen und dies auf erfreulich vielfältige Weise.

Der Untertitel des Buches ist "Schauergeschichten" - es ist überwiegend ein mildes Erschauern, eine Art wohliges Unwohlsein. Das fand ich angenehm - stärkerer Grusel wäre auch willkommen gewesen, aber er hat mir nicht gefehlt. In manchen Geschichten ist es nicht das Erschauern, das im Vordergrund steht, sondern eine überraschende Wendung oder auch leise Wehmut. Es sind für mich düster-atmosphärische Geschichten. Durch die vielfältigen Themen, Zeiten und Schauplätze begann ich jede Geschichte mit leiser Neugier, wohin mich die Autorin nun führen würde. Das Lesen hat sich gelohnt und ich werde dieses Buch ganz sicher erneut mit Freude lesen.