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Veröffentlicht am 23.10.2022

Abzug in der B-Note

Freiheitsgeld
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Bedingungsloses Grundeinkommen, Neubauten aus dem 3-D-Drucker, großflächige Naturschutzzonen überall in Deutschland - eine schöne neue Welt ist das, die Autor Andreas Eschbach für das Jahr 2064 entworfen ...

Bedingungsloses Grundeinkommen, Neubauten aus dem 3-D-Drucker, großflächige Naturschutzzonen überall in Deutschland - eine schöne neue Welt ist das, die Autor Andreas Eschbach für das Jahr 2064 entworfen hat. Mit dem sogenannten Freiheitsgeld richten sich die Figuren des gleichnamigen Romans völlig unterschiedlich ein: Sie hängen zugedröhnt zu Hause ab, gehen einem Job aus Leidenschaft nach oder zahlen einen hohen Preis, um sich besonderen Luxus leisten zu können, der Durchschnittsbürger*innen nicht mehr zur Verfügung steht. Eschbach gelingt ein faszinierendes, durchdachtes und dichtes Worldbuilding, das am besten funktioniert, wenn er es wie nebenbei in die Handlung einfließen lässt. Ein Teil der Informationen wird allerdings auch über längere Monologe und Gedankenstränge vermittelt. Dies wirkt nicht weniger stimmig, liest sich aber etwas aufgesetzt.

Ich habe mich sehr auf die Lektüre von „Freiheitsgeld“ gefreut und war gespannt, welche Dystopie Eschbach aus der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens entwickelt. Der Roman liest sich dann auch fesselnd und teilweise erschreckend. Einige Passagen haben mich allerdings ziemlich irritiert und mir so etwas Lesefreude genommen: Wenn es um Paarbeziehungen geht, von denen es in „Freiheitsgeld“ einige gibt, wird die Darstellung oft schwächer. Die Schilderung der meisten Charaktere bleibt sehr oberflächlich, stellt Interaktionen stereotyp dar und hat mich auch ab und zu verwirrt, da sich Protagonisten öfters unstimmig verhalten. Die Ausgestaltung neuer Lebenswelten liegt dem Bestseller-Autor offensichtlich mehr, als sich in zwischenmenschliches Verhalten einzufühlen.
Als zweite große Schwäche von „Freiheitsgeld“ empfinde ich, dass der Roman trotz gleich mehrerer Verbrechen, die ein junger, ehrgeiziger Polizist zu lösen versucht, sehr lange nur vor sich hinzuplätschern scheint. Die eigentliche Action kommt erst kurz vor Schluss und verpufft dann auch gleich wieder. Nach dem aufwändigen Worldbuilding bin ich doch etwas enttäuscht, wie unbedeutend die Rollen einiger Figuren letztendlich sind. Es bleibt das Gefühl, dass Eschbach aus „Freiheitsgeld“ mehr hätte machen können. Er hatte eine spannende Idee und beschreibt eine Welt, die so dicht an der Realität und dann doch wieder so anders ist, dass es mich gleichzeitig fasziniert und gegruselt hat. Die eigentliche Handlung und die von ihm geschaffenen Charaktere fallen dahinter zurück, als hätte der Autor auf ihre Ausgestaltung keine rechte Lust mehr gehabt. Wie schade, denn eigentlich hat „Freiheitsgeld“ alle Anlagen, um eine 5-Sterne-Bewertung zu bekommen.

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Veröffentlicht am 10.10.2022

Die spannendste Geschichtsstunde überhaupt

Wie wir Menschen die Welt eroberten
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Ich weiß noch, wie ich in der sechsten Klasse Geschichtsunterricht bekam und mich eigentlich darauf freute. Und dann ging es ewig um das Thema „Jäger und Sammler“, was mein Lehrer und dieses dröge beige ...

Ich weiß noch, wie ich in der sechsten Klasse Geschichtsunterricht bekam und mich eigentlich darauf freute. Und dann ging es ewig um das Thema „Jäger und Sammler“, was mein Lehrer und dieses dröge beige Geschichtsbuch gleichermaßen einschläfernd rüberbrachten. Schnell war mir klar: Geschichte ist das langweiligste Schulfach, das es gibt.
Fast 30 Jahre später habe ich nun Yuval Noah Hararis Jugendbuch „Wie wir Menschen die Welt eroberten“ in die Hände bekommen und merke: Selbst über die Steinzeit kann man spannend berichten! Vielleicht sogar gerade über die. Harari ist ein begnadeter Erzähler, der mir zum einen einiges Wissen über Neandertaler, Homo Sapiens und weitere Menschenarten vermittelt hat, das mir vollkommen neu war, und der es zum anderen in seinen kurzen Kapiteln immer wieder schafft, Spannung aufzubauen. Was ist denn eigentlich die Superkraft des Menschen, dem doch verschiedenste Tiere körperlich weit überlegen sind? Wieso sind Mammuts ausgestorben, Kaninchen aber nicht? Und welche Verhaltensweisen aus der Steinzeit sind heute noch in uns Menschen verankert?
Harari berichtet fesselnd; er appelliert an die Vorstellungskraft seiner Leserinnen und fordert sie nicht zuletzt durch kleine Cliffhanger immer wieder zum Mitdenken auf. Und das macht richtig Spaß, auch wenn man dem Jugendbuchalter längst entwachsen ist. „Wie wir Menschen die Welt eroberten“ ist ansprechend illustriert und lässt sich durch den durchdachten Aufbau auch wunderbar nach und nach lesen. Harari schafft es, Begeisterung zu wecken – für die Forschung, die Steinzeit und nicht zuletzt eben für die Menschheitsgeschichte. Ich hoffe so sehr, dass Geschichtslehrerinnen ihren Schülerinnen und Schülern das Buch zumindest empfehlen, wenn nicht sogar Auszüge daraus in ihren Unterricht integrieren. Auch Urgeschichte kann packend erzählt werden und wir können aus dem Verhalten unserer Ahnen sogar lernen. Neben der spannendsten Geschichtsstunde überhaupt ist Hararis Sachbuch auch ein Plädoyer für Umweltschutz und Eigeninitiative. Ganz klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 12.09.2022

Passionierter Naturschutz

Löwenland
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Valentin Grüner war schon als kleiner Junge von der Tierwelt Afrikas fasziniert, nachdem er die Safari-Dias seiner Tante gesehen hatte. Nach der Schule nahm er einen harten, aber gut bezahlten Job an, ...

Valentin Grüner war schon als kleiner Junge von der Tierwelt Afrikas fasziniert, nachdem er die Safari-Dias seiner Tante gesehen hatte. Nach der Schule nahm er einen harten, aber gut bezahlten Job an, um sich die Reise ins südliche Afrika leisten zu können und arbeitete dort schließlich in einem Touristencamp. Dass er das von seiner Mutter verstoßene Löwenjunge Sirga aufzog, brachte ihm vor ein paar Jahren unerwarteten Social-Media-Ruhm: Ein kanadischer Tourist filmte, wie die inzwischen ausgewachsene Löwin ihren menschlichen Freund begrüßte. Die Aufnahmen fanden ohne dessen Wissen oder gar Einverständnis ihren Weg ins Netz, zudem gab das Video keinen Aufschluss darüber, wer und wo genau dort eine Löwenumarmung bekam. Die lauffeuerartige Verbreitung des Videos nutzte Grüner also erstmal gar nichts.
Inzwischen vermarktet er seine Geschichte selbst, um für seine Ziele und sein Unternehmen zu werben: Grüner ist Mitbegründer des Modisa Wildlife Project, das Touristen in Zukunft ermöglichen soll, Tier- und Naturschutz in Botswana hautnah und ressourcenschonend mitzuerleben. Seine Mission ist, einen Beitrag zur Erhaltung der noch wilden Gebiete Botswanas und der Artenvielfalt zu leisten. Dafür lebt er selbst sehr spartanisch und nimmt einiges auf sich. Mit am meisten beeindruckt hat mich die eher technische Beschreibung, wie Grüner im Alleingang sein früheres Camp in sein neues Reservat umgezogen hat: Mit einem Truck hat er alles in großen Schiffscontainern von a nach b gebracht (was pro Container und einfache Strecke 26 Stunden dauerte) – und diese dabei im Alleingang auf den LKW ge- und wieder entladen. Diese Mischung aus Schufterei und Einfallsreichtum fand ich wirklich faszinierend. Wie großartig Fauna und Flora in Botswana ist, wusste ich schon vor der Lektüre, aber was ein Mensch schaffen und auch entbehren kann, wenn er sich ihrem Schutz mit Haut und Haaren verschreibt, ist mehr als beeindruckend.
Und so ist „Löwenland“ zwar ein Buch über eine ungewöhnliche und bezaubernde Freundschaft zwischen Mensch und Tier, viel mehr aber noch ein passionierter Aufruf zum Naturschutz von einem, der mit bestem Beispiel vorangeht. Es liest sich interessant und kurzweilig und bringt den Leserinnen und Lesern einen weit entfernten Teil der Erde und dessen Schönheiten etwas näher.

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Veröffentlicht am 16.08.2022

Erfrischend anders

P.S. Morgen bist du tot
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Eine düstere Villa, ein bedrohlicher Himmel und ein gruseliger Titel in dicken Lettern mit Kratzspuren: „P.S. Morgen bist du tot“. Nachdem ich mir dieses Cover eben nochmal angeschaut habe, war ich ganz ...

Eine düstere Villa, ein bedrohlicher Himmel und ein gruseliger Titel in dicken Lettern mit Kratzspuren: „P.S. Morgen bist du tot“. Nachdem ich mir dieses Cover eben nochmal angeschaut habe, war ich ganz froh, dass ich die alte Weisheit „Don’t judge a book by it’s cover“ oft beherzige. Denn dieser Thriller ist komplexer, raffinierter und interessanter, als sein 08/15-Äußeres glauben lassen will.

Vera Kurians Debüt beginnt mit dem Start ihrer Hauptfigur Chloe Sevre an der John Adams University in Washington. Auf den ersten Blick ist die junge Frau eine ganz normale Erstsemesterstudentin, doch der Schein trügt: Chloe ist Psychopathin und nimmt als solche an einer klinischen Studie der Universität teil – im Gegenzug erhält sie ein Vollstipendium. Und: Chloe plant, jemanden umzubringen … Doch noch bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen kann, geschieht ein anderer Mord in den Räumen der psychologischen Fakultät und es stellt sich die Frage, ob Täterin oder Täter zu den sieben psychopathischen Studienteilnehmern gehören. Oder war sogar das Opfer einer von ihnen?

Viele Kapitel des Thrillers sind aus Chloes Sicht erzählt und so blicken Leserinnen und Leser von Anfang an in ihre dunkle Seele. Die Hauptfigur ist berechnend, manipulativ, furchtlos und kaltschnäuzig – und damit erfrischend anders als viele andere weibliche Thriller-Protagonistinnen. Mit fortschreitenden Kapiteln nimmt die Bedrohung stetig zu – sowohl die, die von Chloe ausgeht als auch die, der sie ausgesetzt ist. Doch es gibt auch noch andere Protagonisten, denen man näherkommt. Und so ist schnell klar: Psychopath ist nicht gleich Psychopath; die menschliche Seele hat viele Facetten. Deren Schilderung ist Vera Kurian faszinierend gelungen.

Ein, zwei Wendungen mögen etwas unlogisch sein, aber doch nicht so sehr, als dass ich es als störend empfunden hätte. „P.S. Morgen bist du tot“ ist vor allem originelle und süchtig-machende Thriller-Unterhaltung; spannend und ungewöhnlich.

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Komplex, abwechslungsreich und überraschend bis zum Schluss

Über Carl reden wir morgen
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Judith Taschler hat mit ihrem neuen Roman „Über Carl reden wir morgen“ eine Familiensaga über drei Generationen geschaffen, die sich vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entfaltet. ...

Judith Taschler hat mit ihrem neuen Roman „Über Carl reden wir morgen“ eine Familiensaga über drei Generationen geschaffen, die sich vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entfaltet. Die Bruggers sind eine Müllerfamilie im oberösterreichischen Mühlviertel; mehrere Familienmitglieder werden in den einzelnen Abschnitten des Buches länger begleitet. Es beginnt mit den Geschwistern Anton und Rosa, die gänzlich unterschiedliche Lebenswege einschlagen: Er übernimmt die Mühle der Eltern, während die junge Rosa heimlich als Dienstmädchen nach Wien geht, statt wie erwartet im Dorf zu bleiben, Eltern und Bruder zu unterstützen und zu heiraten. Die Geschwister sehen sich erst viele Jahre später wieder, als bereits die nächste Generation heranwächst; Anton Brugger hat inzwischen vier Kinder. Sein einziger Sohn wird ebenfalls vierfacher Vater, strebt aber nach Höherem, als nur dem Müllerhandwerk nachzugehen. Sein Leben wie auch das seiner Zwillingssöhne Eugen und Carl wird stellenweise detailliert geschildert. Dabei zeigt sich, dass Judith Taschler die Kurz- und Langstrecke gleichermaßen beherrscht: Detailszenen aus den Leben ihrer Protagonisten werden so ausgearbeitet, dass man mitfühlen und -fiebern kann; dann wiederum verfliegen nur knapp geschilderte Jahre und Figuren, deren Gefühlswelt man zwischenzeitlich sehr nah war, werden Leserinnen und Lesern wieder fremder. Kunstvoll wird Taschlers Erzählweise nicht zuletzt durch das Ellipsenhafte; oft lässt die Autorin Teile der Geschichte aus und greift sie erst mehrere Kapitel später aus der Sicht einer anderen Figur wieder auf. So gibt es manchen Cliffhänger, der Leserinnen und Leser gespannt zurücklässt, bevor die Geschichte ab einem früheren Zeitpunkt aus einer anderen Perspektive geschildert wird. Nach und nach fügt sich ein immer stimmigeres Gesamtbild wie ein Mosaik zusammen, dessen letzte Teilchen erst auf den finalen Seiten zum Vorschein kommen. Und so bleibt dieser Roman über Liebe, Tragik und Leid durchgängig spannend und enthüllt mehrmals Überraschendes über Protagonisten, die man schon gut zu kennen glaubte. Es ist lange her, dass ich „Die Deutschlehrerin“ gelesen habe, aber ich erinnere mich, dass bereits Taschlers Erstling bewies, dass die klare Einteilung in Gut und Böse so gar nicht ihr Ding ist. Die Autorin hat ein Faible für komplexe Charaktere – auch der moralisch Integere kann eine Tat begehen, die man ihm nie zugetraut hätte; auch der brutale Fiesling kann jemanden lieben. Taschlers Figuren sind allesamt fehlbar und handeln mitunter widersprüchlich – das macht sie so realistisch.

Die einzigen Kapitel, bei denen mir die Leselust leicht verging, waren die Schilderungen des Ersten Weltkriegs, in dem eine der Hauptfiguren kämpft – nicht, weil sie nicht gelungen wären, sondern weil sie einem Gemetzel und Elend so nahebringen, dass es schwer auszuhalten ist. Doch Judith Taschler wird diesen Kapiteln genauso gerecht wie jenen, die sich um zwischenmenschliche Beziehungen drehen. Ich bin jetzt schon sehr gespannt auf die geplante Fortsetzung, die die Autorin angekündigt hat. Denn die Geschichte der Bruggers scheint noch nicht auserzählt; das offene Ende lässt viel Raum für Spekulationen. „Über Carl reden wir morgen“ – und von den Bruggers lesen wir hoffentlich bald wieder!

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