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Veröffentlicht am 10.05.2022

Deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer!

Wer die Lilie träumt
0

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung von klassischer Urban Fantasy und heimeligem Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und einer guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Im Laufe der Zeit habe ich schon eine ganze Menge ihrer Bücher gelesen und beschlossen, anlässlich am 2. Mai erschienenen wunderschönen Neuausgaben im Knaur Verlag nochmal zu den Raven Boys zurückzukehren und die gesamten vier Bände nochmals zu lesen. Da meine alten Rezensionen von 2016-2018 (diese findet ihr übrigens HIER zum Teil leicht unvollständig sind und ich nicht ausschließen konnte, dass sich bei einem Reread meine Meinung nochmal leicht verändert hat, habe ich beschlossen, neue Rezensionen zu schreiben. Auch "Wer die Lilie träumt" ist mal wieder ein eigenartiges, anspruchsvolles Buch mit einer magischen Atmosphäre und wundervollen Figuren und somit für mich auf jeden Fall ein Highlight des Lesemonat!

Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Während die ab 2013 bei script5 erschienenen Ausgaben der Reihe eigene Cover hatten, hat sich der Knaur Verlag bei seiner Neuauflage der Reihe sehr stark an den englischen Originalcovern orientiert. Auf diesen sind die Hauptmotive des jeweiligen Bandes in Aquarell-Optik auf einem weißen Grund abgebildet, welche die verträumte Atmosphäre der Geschichte perfekt einfangen. Auf Band 2 ist eine blaue Illustration eines Jungen zu sehen, welcher dank seines kahlen Kopfes und der harten Gesichtszügen als Ronan zu erkennen ist. Um ihn herum flattern Raben auf und aus seiner Brust scheint ein rotes, magisches Licht zu quellen, womit zwei der Hauptmotive dieses Bandes aufgegriffen wurden: der allgegenwärtige Rabe, welcher der Reihe ihren Titel verleiht und die Traummagie, von der Ronan seinen Freunden am Ende von Band 1 erzählt hat. Genau wie in Band 1 werden die 63 Kapitelanfänge von drei verschränkten Linien eingekreist, welche ebenfalls eine spezielle Bedeutung in der Geschichte einnehmen. Kurzum: ich bin wieder einmal einfach hingerissen von der Gestaltung!

Erster Satz: "Ein Geheimnis ist etwas Seltsames"

"Wer die Lilie träumt" setzt zeitlich eng an das Ende von "Wen der Rabe ruft" an und startet damit, dass uns Ronan Lynchs Geheimnis präsentiert wird: Genau wie sein Vater kann er Dinge aus seinen Träumen in die Wirklichkeit mitnehmen. Und genau wie seinen Vater bringt ihn dieses Geheimnis in große Gefahr. Denn seit Adam am Ende von Band 1 die Ley-Linie geweckt hat und einen Handel mit Cabeswater eingegangen ist, spielen die Energiewerte der kleinen Stadt Henrietta verrückt und locken jede Menge Okkultisten, Sammler, Schatzsucher und auch den Auftragsmörder Mr. Gray an... Zwar lässt es die Autorin, die ja nicht unbedingt für ihre Handlungsdichte bekannt ist, auch in diesem Roman eher langsam angehen, nichtsdestotrotz sorgt das Entdecken von Ronans Traummagie mit all ihren Möglichkeiten und Abgründen in Kombination mit einer neuen Bedrohung und veränderten Dynamiken in der Freundesgruppe für eine brodelnde Grundspannung, welche auch alltägliche Situationen magisch erscheinen lässt.

"In diesem Moment war Blue ein kleines bisschen verliebt in jeden Einzelnen von ihnen. In ihre Magie. Ihre Suche, Ihre Erhabenheit und Andersartigkeit. In ihre Raven Boys."


Ein Teil der wundervollen und packende Atmosphären dieser Reihe lässt sich hier wieder auf das unglaublich magische Kleinstadtsetting zurückführen. Das Setting in der kleinen Stadt Henrietta im Herzen des ländlichen Virginias wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein besonderer Schauplatz. Der Autorin gelingt es jedoch, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken. So wird schon im Setting deutlich, wie vielseitig diese Erzählung ist, welche mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erscheint, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat. Zunächst wäre da der lebendige, durchgeknallte Fox Way - ein kleines Häuschen, das neben Blue, ihrer Mutter, ihren Tanten und ihren Cousinen noch allerlei weitere Wahrsagerinnen, skurrile Gegenständen, Magie und Rätsel beherbergt. Diesem wie ein Hexenhäuschen anmutenden Gebäude voller Stimmen, Musik, Telefonen, alten mystischen Dingen, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart steht die kalte, versnobte Aglionby-Privatschule gegenüber, auf die die Raven Boys gehen. Auch in den Wohnorten der Clique um Gansey gibt es jedoch große Unterschiede. Während Gansey, Ronan und Noah in einem Loft in dem ausgebauten Fabrikgebäude Monmouth Manufacturing wohnen, welches dem Labor eines verrückten Erfinders gleicht, muss sich Adam mit zahlreichen Nebenjobs durchschlagen und wohnt seit er bei seinen Eltern ausgezogen ist in einem kleinen Zimmer in einem Gemeindehaus. Das sorgt natürlich auch hier immer wieder für Konflikte zwischen den Freunden.

"Manchmal, so dachte Ronan, war Adam derart davon überzeugt, dass alles, was er tat, mit Schmerzen verbunden sein musste, dass er gar nicht auf die Idee kam, nach einem anderen Weg Ausschau zu halten."

Zusätzlich zwischen diesen Gegensätzen lässt die Autorin beständig magische Elemente miteinfließen, die neben dem Arbeitsfeld von Blues Familie auch mit Ganseys Suche nach dem verschollenen walisischen König Owen Glendower und nun eben auch mit Ronans Fähigkeiten und Adams Verbindung zu Cabeswater zu tun haben. Nach einer Legende erweist der schlafende Rabenkönig denjenigen eine Gunst, der ihn findet und erweckt. Seit seiner Kindheit ist Gansey besessen, den König zu finden und vermutet ihn auf einer sogenannten Ley-Linie, welche direkt durch Henrietta verläuft. Diese unsichtbaren Energielinien verbinden verschiedenste prähistorische Kultstätten und werden in manchen Kulturen als heilig bezeichnet, während die Wissenschaft ihre Existenz bestreitet. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie und durch deren Magie erwachende magische Kraftorte wie das geheimnisvolle Cabeswater, eine so originelle und unverbrauchte Idee, dass ich beim ersten Lesen gar nicht wusste, was ich mit dieser anfangen sollte. Auch wenn es also auch in der Raven Boys Reihe um typische Themen wie Liebe, Tod, Magie und Prophezeiungen geht, hat Maggie Stiefvater eine erfrischende und neue Art gefunden, eine mystische Geschichte zu erzählen!

"Der Traum wurde zum Albtraum. Ronan hörte, wie sich die Monster der Nacht näherten, verliebt in sein Blut, seine Traurigkeit. Ihre Flügel flatterten im Takt seines Herzschlags. Ihm fehlte die Kontrolle, um sie zu verjagen."


Neben dem vielseitigen Setting und der originellen Grundidee trägt auch der leicht verrückte, aber unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.

"Die Sache war die: Ronan wusste nur zu gut, wie ein Gesicht aussah, das kurz davor war, in Scherben zu zerfallen. Er hatte es schon oft genug im Spiegel gesehen. Und Adams Gesucht war bereits übersät mit feinen Rissen."


Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die ich beim ersten Mal einfach überlesen habe und die später nochmal eine tragende Rolle spielen.

"In dieser Nacht träumte Ronan von Bäumen. Einem dichten, finsteren Wald aus Eichen und Ahornbäumen, die aus der kalten Erde der Berge emporwuchsen. Blätter zitterten im Wind. Ronan spürte die Höhe des Bergs unter seinen Füßen. Sein Alter. Tief unter ihm schien ein Herz zu schlagen, das die ganze Welt durchdrang, langsamer und kraftvoller und unerbittlicher als Ronans. Er war schon oft hier gewesen, so viele Male. Er war mit diesem stetig wiederkehrenden Traum aufgewachsen. Die Wurzeln dieser Bäume waren fest in seinem Blut verankert. Rings um ihn bewegte sich die Luft und in ihr hörte er seinen Namen. Ronan Lynch Ronan Lynch Ronan Lynch."


Etwas schade ist, dass in "Wer die Lilie träumt" der Hauptplot um die Suche nach Glendower zugunsten der Vertiefung der Figuren und deren Beziehungen zueinander etwas aus dem Fokus gerät und kaum weiter vorangetrieben wird. Dadurch, dass man nicht genau weiß, worauf Maggie Stiefvater mit "Wer die Lilie träumt" hinauswill, ist der Roman jedoch voll mit kleinen und großen Überraschungen. Die Autorin hat das unglaubliche Talent, ganze Szenen komplett herumzudrehen und sich in eine unerwartete und manchmal auch sehr humorvolle Richtung zu bewegen. Außerdem findet sie in diesem deutlich handlungsärmeren, aber dafür atmosphärischeren, düstereren Teil 2 eine Menge Zeit, an der Hauptressource ihrer Reihe zu arbeiten: ihren Figuren! Blue, ihre Raven Boys, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklungen während der Reihe lassen den Leser wirklich jeden kleinen Durchhänger, jedes Logikloch in der Handlung und jede Durststrecke verzeihen und geben dem Plot noch das gewisse Etwas, das das Buch so einzigartig macht.

"Gansey wirkte gleich viel weniger wie der auf Hochglanz polierte, selbstsichere Sohn aus gutem Hause, als den sie ihn kennengelernt hatte, sondern mehr wie ein stiller, von Selbstzweifeln geplagter Zuschauer, interessiert an den intuitiven Künsten, wenn auch selbst völlig ungeeignet dafür. Er war wie ein wohlhabender Tourist in einem Entwicklungsland: schmeichelhaft neugierig, unbeabsichtigt beleidigend und ganz sicher nicht in der Lage zu überleben, wenn man ihn allein seinem Schicksal überließ."

Maggie Stiefvater nutzt hier wieder einen personalen Erzähler (der teilweise eher wie ein auktorialer Erzähler wirkt, weil er absichtlich Dinge zu verschweigen scheint) und mischt die Perspektiven ihrer Hauptfiguren ordentlich durch. Dabei wird, ohne dass es eindeutig ausgeschrieben wäre, wer in welchem Kapitel erzählt, schon nach wenigen Sätzen klar, aus welcher Perspektive wir die Szene gerade erleben. Die abenteuerlustige Wahrsager-Tochter Blue, die in Band 1 als eindeutige Hauptprotagonistin eingeführt wurde kommt genau wie Richard Gansey III hier deutlich weniger vor als erwartet. Zwar haben die beiden einige sehr schöne Szenen, in denen die Autorin die vorhergesagte Liebesgeschichte mit dem ebenfalls vorhergesagten bösen Ende zwischen den beiden leise und glaubwürdig vorbereitet, im Mittelpunkt stehen in "Wer die Lilie träumt" jedoch Ronan und Adam. Beide Figuren sind schwierige, eigensinnige und auf einzigartige Weise zerbrechliche Figuren, die hier ein magisches Erwachen haben und dabei ihren schlimmsten Ängsten in die Augen sehen müssen.

Adam, der sich in Band 1 endlich von seiner Familie losgesagt und der Gewalt seines Vaters entflohen ist, droht nun von der Magie der Ley-Linie vereinnahmt zu werden. Sein Kampf, sich selbst nicht an Cabeswater zu verlieren, hat mich sehr berührt, auch wenn er im Vergleich zu Band 1 einige Sympathiepunkte eingebüßt hat. Anders war es mit Ronan, der sich in diesem Band klar als mein liebster „Raven Boy“ herauskristallisieren konnte. Trotz seines kultivierten Walls aus Aggressivität und Wut wirkte er von den mit 16 bis 18 Jahren allen recht jungen Protagonisten am meisten auf mich wie ein Kind, das mit seinen eigenen Emotionen und Gedanken nicht umgehen kann und sich nichts mehr wünscht als eine Person, die seine Hand nimmt und sagt, dass alles gut werden wird. Auch wenn ich ihn oft nicht verstanden habe und schon gar nicht alle seine Entscheidungen gutheiße, hat er etwas an sich, das mich sehr mitgenommen und dazu gebracht hat, mir gleichzeitig zu wünschen, ich wäre er und mich genau davor zu fürchten!

"Aber ihr habt doch gesagt, diese Art von Zukunftsdeutungen sind gefährlich." "Das ist wie mit Wodkatrinken"; entgegnete Calla. "Es hängt immer davon ab, wer es macht."

Genau wie Blue und Gansey leidet auch Noah, der vierte Raven Boy im Bunde unter dem verstärkten Fokus auf Adam und Ronan. Da seine Kraft an die Energie der Ley-Linie gebunden ist und diese zunehmend verrücktspielt, erscheint er in einem Großteil der Szenen überhaupt nicht mehr. Dafür bekommen wir hier jedoch zwei sehr interessante neue Figuren dazu. Zum einen wäre da der draufgängerische Joseph Kavinsky, welcher ebenfalls auf die Alionby Academy geht und in ganz Henrietta für seine illegalen Autorennen, legendären Partys und gefährlichen Feuerwerksshows bekannt ist. Zu Beginn wusste ich überhaupt nicht, was ich mit dieser Figur anfangen soll, da sie augenscheinlich nicht zum magischen Plot passte und konnte auch die seltsamen Fehde-Schrägstrich-gegenseitige-Anziehung zwischen ihm und Ronan nur schlecht einordnen. Mit der Zeit erfahren wir dann aber, dass er ebenfalls ein großes Geheimnis verbirgt und mein Herz hat jedes Mal, wenn er mit seinem weißen Mitsubishi aufgetaucht ist, ein wenig schneller geschlagen.

"Die Traurigkeit und die Sehnsucht sah man erst, wenn man wusste, dass sie da waren. Jeder hatte mit seinen Enttäuschungen zu kämpfen, nur dass manche Menschen ihr Päckchen eben versteckt in ihrer Innentasche trugen und nicht sichtbar vor sich her. Und er meinte noch etwas zu erkennen: Mauras fröhliche Art war nicht aufgesetzt. Sie war beides: sehr glücklich und sehr traurig zu gleich."


Der zweite neue Charakter ist der geheimnisvolle "graue Mann" - ein eiskalter Auftragskiller, welcher sich in Blues Mutter verliebt und mir mit seiner kurios freundlichen und offenen Art sofort so sympathisch war, dass ich begonnen habe, an meiner Menschenkenntnis zu zweifeln. Das absurdeste an seinem Charakter ist jedoch, dass sich keiner der auftretenden Figuren daran zu stören scheint, dass er ein Auftragskiller ist. Die durchweg gleichgültige Reaktionen auf seinen Berufszweig lassen seine Figur fast schon ein wenig parodiert erscheinen und sorgen dafür, dass er sich wunderbar in die bunte Mischung der Charaktere ein, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne dass ich es bemerkt habe.

Auch Band 2 lässt uns mit einem fiesen Cliffhanger zurück, wie gut also, dass ich Band 3 und 4 schon hier habe und gleich weiterlesen kann!

"Mit einem Mal erstreckte sich das gesamte Tal vor ihnen. Trotz der unzähligen Sterne, die bereits über ihnen funkelten, leuchtete der Himmel noch immer in einem tiefen Blau, wie von der Farbpalette eines Idyllen-Malers. Die Berge auf der anderen Seite des Tals jedoch waren nachtschwarz und alles, was der Himmel nicht war. Dunkel, kühl und schweigend. Und dazwischen, am Fuß der Bergkette, lag Henrietta mit seinen gelben und weißen Lichtern. (...) Es war eine wilde und zugleich stille Art von Schönheit, die nicht zuließ, dass man sie bewunderte. Die Art von Schönheit, die einfach nur schmerzte."



Fazit:


In "Wer die Lilie träumt" weicht Maggie Stiefvater leicht vom der vorgezeichneten Haupthandlung ab und stellt zwei eigenwillige Nebenfiguren in den Vordergrund. Dadurch ist diese Fortsetzung deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer als der erste Band der Reihe. Unbedingt lesen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.05.2022

Deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer!

Wer die Lilie träumt
0

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung von klassischer Urban Fantasy und heimeligem Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und einer guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Im Laufe der Zeit habe ich schon eine ganze Menge ihrer Bücher gelesen und beschlossen, anlässlich am 2. Mai erschienenen wunderschönen Neuausgaben im Knaur Verlag nochmal zu den Raven Boys zurückzukehren und die gesamten vier Bände nochmals zu lesen. Da meine alten Rezensionen von 2016-2018 (diese findet ihr übrigens HIER zum Teil leicht unvollständig sind und ich nicht ausschließen konnte, dass sich bei einem Reread meine Meinung nochmal leicht verändert hat, habe ich beschlossen, neue Rezensionen zu schreiben. Auch "Wer die Lilie träumt" ist mal wieder ein eigenartiges, anspruchsvolles Buch mit einer magischen Atmosphäre und wundervollen Figuren und somit für mich auf jeden Fall ein Highlight des Lesemonat!

Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Während die ab 2013 bei script5 erschienenen Ausgaben der Reihe eigene Cover hatten, hat sich der Knaur Verlag bei seiner Neuauflage der Reihe sehr stark an den englischen Originalcovern orientiert. Auf diesen sind die Hauptmotive des jeweiligen Bandes in Aquarell-Optik auf einem weißen Grund abgebildet, welche die verträumte Atmosphäre der Geschichte perfekt einfangen. Auf Band 2 ist eine blaue Illustration eines Jungen zu sehen, welcher dank seines kahlen Kopfes und der harten Gesichtszügen als Ronan zu erkennen ist. Um ihn herum flattern Raben auf und aus seiner Brust scheint ein rotes, magisches Licht zu quellen, womit zwei der Hauptmotive dieses Bandes aufgegriffen wurden: der allgegenwärtige Rabe, welcher der Reihe ihren Titel verleiht und die Traummagie, von der Ronan seinen Freunden am Ende von Band 1 erzählt hat. Genau wie in Band 1 werden die 63 Kapitelanfänge von drei verschränkten Linien eingekreist, welche ebenfalls eine spezielle Bedeutung in der Geschichte einnehmen. Kurzum: ich bin wieder einmal einfach hingerissen von der Gestaltung!

Erster Satz: "Ein Geheimnis ist etwas Seltsames"

"Wer die Lilie träumt" setzt zeitlich eng an das Ende von "Wen der Rabe ruft" an und startet damit, dass uns Ronan Lynchs Geheimnis präsentiert wird: Genau wie sein Vater kann er Dinge aus seinen Träumen in die Wirklichkeit mitnehmen. Und genau wie seinen Vater bringt ihn dieses Geheimnis in große Gefahr. Denn seit Adam am Ende von Band 1 die Ley-Linie geweckt hat und einen Handel mit Cabeswater eingegangen ist, spielen die Energiewerte der kleinen Stadt Henrietta verrückt und locken jede Menge Okkultisten, Sammler, Schatzsucher und auch den Auftragsmörder Mr. Gray an... Zwar lässt es die Autorin, die ja nicht unbedingt für ihre Handlungsdichte bekannt ist, auch in diesem Roman eher langsam angehen, nichtsdestotrotz sorgt das Entdecken von Ronans Traummagie mit all ihren Möglichkeiten und Abgründen in Kombination mit einer neuen Bedrohung und veränderten Dynamiken in der Freundesgruppe für eine brodelnde Grundspannung, welche auch alltägliche Situationen magisch erscheinen lässt.

"In diesem Moment war Blue ein kleines bisschen verliebt in jeden Einzelnen von ihnen. In ihre Magie. Ihre Suche, Ihre Erhabenheit und Andersartigkeit. In ihre Raven Boys."


Ein Teil der wundervollen und packende Atmosphären dieser Reihe lässt sich hier wieder auf das unglaublich magische Kleinstadtsetting zurückführen. Das Setting in der kleinen Stadt Henrietta im Herzen des ländlichen Virginias wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein besonderer Schauplatz. Der Autorin gelingt es jedoch, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken. So wird schon im Setting deutlich, wie vielseitig diese Erzählung ist, welche mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erscheint, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat. Zunächst wäre da der lebendige, durchgeknallte Fox Way - ein kleines Häuschen, das neben Blue, ihrer Mutter, ihren Tanten und ihren Cousinen noch allerlei weitere Wahrsagerinnen, skurrile Gegenständen, Magie und Rätsel beherbergt. Diesem wie ein Hexenhäuschen anmutenden Gebäude voller Stimmen, Musik, Telefonen, alten mystischen Dingen, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart steht die kalte, versnobte Aglionby-Privatschule gegenüber, auf die die Raven Boys gehen. Auch in den Wohnorten der Clique um Gansey gibt es jedoch große Unterschiede. Während Gansey, Ronan und Noah in einem Loft in dem ausgebauten Fabrikgebäude Monmouth Manufacturing wohnen, welches dem Labor eines verrückten Erfinders gleicht, muss sich Adam mit zahlreichen Nebenjobs durchschlagen und wohnt seit er bei seinen Eltern ausgezogen ist in einem kleinen Zimmer in einem Gemeindehaus. Das sorgt natürlich auch hier immer wieder für Konflikte zwischen den Freunden.

"Manchmal, so dachte Ronan, war Adam derart davon überzeugt, dass alles, was er tat, mit Schmerzen verbunden sein musste, dass er gar nicht auf die Idee kam, nach einem anderen Weg Ausschau zu halten."

Zusätzlich zwischen diesen Gegensätzen lässt die Autorin beständig magische Elemente miteinfließen, die neben dem Arbeitsfeld von Blues Familie auch mit Ganseys Suche nach dem verschollenen walisischen König Owen Glendower und nun eben auch mit Ronans Fähigkeiten und Adams Verbindung zu Cabeswater zu tun haben. Nach einer Legende erweist der schlafende Rabenkönig denjenigen eine Gunst, der ihn findet und erweckt. Seit seiner Kindheit ist Gansey besessen, den König zu finden und vermutet ihn auf einer sogenannten Ley-Linie, welche direkt durch Henrietta verläuft. Diese unsichtbaren Energielinien verbinden verschiedenste prähistorische Kultstätten und werden in manchen Kulturen als heilig bezeichnet, während die Wissenschaft ihre Existenz bestreitet. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie und durch deren Magie erwachende magische Kraftorte wie das geheimnisvolle Cabeswater, eine so originelle und unverbrauchte Idee, dass ich beim ersten Lesen gar nicht wusste, was ich mit dieser anfangen sollte. Auch wenn es also auch in der Raven Boys Reihe um typische Themen wie Liebe, Tod, Magie und Prophezeiungen geht, hat Maggie Stiefvater eine erfrischende und neue Art gefunden, eine mystische Geschichte zu erzählen!

"Der Traum wurde zum Albtraum. Ronan hörte, wie sich die Monster der Nacht näherten, verliebt in sein Blut, seine Traurigkeit. Ihre Flügel flatterten im Takt seines Herzschlags. Ihm fehlte die Kontrolle, um sie zu verjagen."


Neben dem vielseitigen Setting und der originellen Grundidee trägt auch der leicht verrückte, aber unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.

"Die Sache war die: Ronan wusste nur zu gut, wie ein Gesicht aussah, das kurz davor war, in Scherben zu zerfallen. Er hatte es schon oft genug im Spiegel gesehen. Und Adams Gesucht war bereits übersät mit feinen Rissen."


Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die ich beim ersten Mal einfach überlesen habe und die später nochmal eine tragende Rolle spielen.

"In dieser Nacht träumte Ronan von Bäumen. Einem dichten, finsteren Wald aus Eichen und Ahornbäumen, die aus der kalten Erde der Berge emporwuchsen. Blätter zitterten im Wind. Ronan spürte die Höhe des Bergs unter seinen Füßen. Sein Alter. Tief unter ihm schien ein Herz zu schlagen, das die ganze Welt durchdrang, langsamer und kraftvoller und unerbittlicher als Ronans. Er war schon oft hier gewesen, so viele Male. Er war mit diesem stetig wiederkehrenden Traum aufgewachsen. Die Wurzeln dieser Bäume waren fest in seinem Blut verankert. Rings um ihn bewegte sich die Luft und in ihr hörte er seinen Namen. Ronan Lynch Ronan Lynch Ronan Lynch."


Etwas schade ist, dass in "Wer die Lilie träumt" der Hauptplot um die Suche nach Glendower zugunsten der Vertiefung der Figuren und deren Beziehungen zueinander etwas aus dem Fokus gerät und kaum weiter vorangetrieben wird. Dadurch, dass man nicht genau weiß, worauf Maggie Stiefvater mit "Wer die Lilie träumt" hinauswill, ist der Roman jedoch voll mit kleinen und großen Überraschungen. Die Autorin hat das unglaubliche Talent, ganze Szenen komplett herumzudrehen und sich in eine unerwartete und manchmal auch sehr humorvolle Richtung zu bewegen. Außerdem findet sie in diesem deutlich handlungsärmeren, aber dafür atmosphärischeren, düstereren Teil 2 eine Menge Zeit, an der Hauptressource ihrer Reihe zu arbeiten: ihren Figuren! Blue, ihre Raven Boys, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklungen während der Reihe lassen den Leser wirklich jeden kleinen Durchhänger, jedes Logikloch in der Handlung und jede Durststrecke verzeihen und geben dem Plot noch das gewisse Etwas, das das Buch so einzigartig macht.

"Gansey wirkte gleich viel weniger wie der auf Hochglanz polierte, selbstsichere Sohn aus gutem Hause, als den sie ihn kennengelernt hatte, sondern mehr wie ein stiller, von Selbstzweifeln geplagter Zuschauer, interessiert an den intuitiven Künsten, wenn auch selbst völlig ungeeignet dafür. Er war wie ein wohlhabender Tourist in einem Entwicklungsland: schmeichelhaft neugierig, unbeabsichtigt beleidigend und ganz sicher nicht in der Lage zu überleben, wenn man ihn allein seinem Schicksal überließ."

Maggie Stiefvater nutzt hier wieder einen personalen Erzähler (der teilweise eher wie ein auktorialer Erzähler wirkt, weil er absichtlich Dinge zu verschweigen scheint) und mischt die Perspektiven ihrer Hauptfiguren ordentlich durch. Dabei wird, ohne dass es eindeutig ausgeschrieben wäre, wer in welchem Kapitel erzählt, schon nach wenigen Sätzen klar, aus welcher Perspektive wir die Szene gerade erleben. Die abenteuerlustige Wahrsager-Tochter Blue, die in Band 1 als eindeutige Hauptprotagonistin eingeführt wurde kommt genau wie Richard Gansey III hier deutlich weniger vor als erwartet. Zwar haben die beiden einige sehr schöne Szenen, in denen die Autorin die vorhergesagte Liebesgeschichte mit dem ebenfalls vorhergesagten bösen Ende zwischen den beiden leise und glaubwürdig vorbereitet, im Mittelpunkt stehen in "Wer die Lilie träumt" jedoch Ronan und Adam. Beide Figuren sind schwierige, eigensinnige und auf einzigartige Weise zerbrechliche Figuren, die hier ein magisches Erwachen haben und dabei ihren schlimmsten Ängsten in die Augen sehen müssen.

Adam, der sich in Band 1 endlich von seiner Familie losgesagt und der Gewalt seines Vaters entflohen ist, droht nun von der Magie der Ley-Linie vereinnahmt zu werden. Sein Kampf, sich selbst nicht an Cabeswater zu verlieren, hat mich sehr berührt, auch wenn er im Vergleich zu Band 1 einige Sympathiepunkte eingebüßt hat. Anders war es mit Ronan, der sich in diesem Band klar als mein liebster „Raven Boy“ herauskristallisieren konnte. Trotz seines kultivierten Walls aus Aggressivität und Wut wirkte er von den mit 16 bis 18 Jahren allen recht jungen Protagonisten am meisten auf mich wie ein Kind, das mit seinen eigenen Emotionen und Gedanken nicht umgehen kann und sich nichts mehr wünscht als eine Person, die seine Hand nimmt und sagt, dass alles gut werden wird. Auch wenn ich ihn oft nicht verstanden habe und schon gar nicht alle seine Entscheidungen gutheiße, hat er etwas an sich, das mich sehr mitgenommen und dazu gebracht hat, mir gleichzeitig zu wünschen, ich wäre er und mich genau davor zu fürchten!

"Aber ihr habt doch gesagt, diese Art von Zukunftsdeutungen sind gefährlich." "Das ist wie mit Wodkatrinken"; entgegnete Calla. "Es hängt immer davon ab, wer es macht."

Genau wie Blue und Gansey leidet auch Noah, der vierte Raven Boy im Bunde unter dem verstärkten Fokus auf Adam und Ronan. Da seine Kraft an die Energie der Ley-Linie gebunden ist und diese zunehmend verrücktspielt, erscheint er in einem Großteil der Szenen überhaupt nicht mehr. Dafür bekommen wir hier jedoch zwei sehr interessante neue Figuren dazu. Zum einen wäre da der draufgängerische Joseph Kavinsky, welcher ebenfalls auf die Alionby Academy geht und in ganz Henrietta für seine illegalen Autorennen, legendären Partys und gefährlichen Feuerwerksshows bekannt ist. Zu Beginn wusste ich überhaupt nicht, was ich mit dieser Figur anfangen soll, da sie augenscheinlich nicht zum magischen Plot passte und konnte auch die seltsamen Fehde-Schrägstrich-gegenseitige-Anziehung zwischen ihm und Ronan nur schlecht einordnen. Mit der Zeit erfahren wir dann aber, dass er ebenfalls ein großes Geheimnis verbirgt und mein Herz hat jedes Mal, wenn er mit seinem weißen Mitsubishi aufgetaucht ist, ein wenig schneller geschlagen.

"Die Traurigkeit und die Sehnsucht sah man erst, wenn man wusste, dass sie da waren. Jeder hatte mit seinen Enttäuschungen zu kämpfen, nur dass manche Menschen ihr Päckchen eben versteckt in ihrer Innentasche trugen und nicht sichtbar vor sich her. Und er meinte noch etwas zu erkennen: Mauras fröhliche Art war nicht aufgesetzt. Sie war beides: sehr glücklich und sehr traurig zu gleich."


Der zweite neue Charakter ist der geheimnisvolle "graue Mann" - ein eiskalter Auftragskiller, welcher sich in Blues Mutter verliebt und mir mit seiner kurios freundlichen und offenen Art sofort so sympathisch war, dass ich begonnen habe, an meiner Menschenkenntnis zu zweifeln. Das absurdeste an seinem Charakter ist jedoch, dass sich keiner der auftretenden Figuren daran zu stören scheint, dass er ein Auftragskiller ist. Die durchweg gleichgültige Reaktionen auf seinen Berufszweig lassen seine Figur fast schon ein wenig parodiert erscheinen und sorgen dafür, dass er sich wunderbar in die bunte Mischung der Charaktere ein, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne dass ich es bemerkt habe.

Auch Band 2 lässt uns mit einem fiesen Cliffhanger zurück, wie gut also, dass ich Band 3 und 4 schon hier habe und gleich weiterlesen kann!

"Mit einem Mal erstreckte sich das gesamte Tal vor ihnen. Trotz der unzähligen Sterne, die bereits über ihnen funkelten, leuchtete der Himmel noch immer in einem tiefen Blau, wie von der Farbpalette eines Idyllen-Malers. Die Berge auf der anderen Seite des Tals jedoch waren nachtschwarz und alles, was der Himmel nicht war. Dunkel, kühl und schweigend. Und dazwischen, am Fuß der Bergkette, lag Henrietta mit seinen gelben und weißen Lichtern. (...) Es war eine wilde und zugleich stille Art von Schönheit, die nicht zuließ, dass man sie bewunderte. Die Art von Schönheit, die einfach nur schmerzte."



Fazit:


In "Wer die Lilie träumt" weicht Maggie Stiefvater leicht vom der vorgezeichneten Haupthandlung ab und stellt zwei eigenwillige Nebenfiguren in den Vordergrund. Dadurch ist diese Fortsetzung deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer als der erste Band der Reihe. Unbedingt lesen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.05.2022

Deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer!

Wer die Lilie träumt
0

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung von klassischer Urban Fantasy und heimeligem Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und einer guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Im Laufe der Zeit habe ich schon eine ganze Menge ihrer Bücher gelesen und beschlossen, anlässlich am 2. Mai erschienenen wunderschönen Neuausgaben im Knaur Verlag nochmal zu den Raven Boys zurückzukehren und die gesamten vier Bände nochmals zu lesen. Da meine alten Rezensionen von 2016-2018 (diese findet ihr übrigens HIER zum Teil leicht unvollständig sind und ich nicht ausschließen konnte, dass sich bei einem Reread meine Meinung nochmal leicht verändert hat, habe ich beschlossen, neue Rezensionen zu schreiben. Auch "Wer die Lilie träumt" ist mal wieder ein eigenartiges, anspruchsvolles Buch mit einer magischen Atmosphäre und wundervollen Figuren und somit für mich auf jeden Fall ein Highlight des Lesemonat!

Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Während die ab 2013 bei script5 erschienenen Ausgaben der Reihe eigene Cover hatten, hat sich der Knaur Verlag bei seiner Neuauflage der Reihe sehr stark an den englischen Originalcovern orientiert. Auf diesen sind die Hauptmotive des jeweiligen Bandes in Aquarell-Optik auf einem weißen Grund abgebildet, welche die verträumte Atmosphäre der Geschichte perfekt einfangen. Auf Band 2 ist eine blaue Illustration eines Jungen zu sehen, welcher dank seines kahlen Kopfes und der harten Gesichtszügen als Ronan zu erkennen ist. Um ihn herum flattern Raben auf und aus seiner Brust scheint ein rotes, magisches Licht zu quellen, womit zwei der Hauptmotive dieses Bandes aufgegriffen wurden: der allgegenwärtige Rabe, welcher der Reihe ihren Titel verleiht und die Traummagie, von der Ronan seinen Freunden am Ende von Band 1 erzählt hat. Genau wie in Band 1 werden die 63 Kapitelanfänge von drei verschränkten Linien eingekreist, welche ebenfalls eine spezielle Bedeutung in der Geschichte einnehmen. Kurzum: ich bin wieder einmal einfach hingerissen von der Gestaltung!

Erster Satz: "Ein Geheimnis ist etwas Seltsames"

"Wer die Lilie träumt" setzt zeitlich eng an das Ende von "Wen der Rabe ruft" an und startet damit, dass uns Ronan Lynchs Geheimnis präsentiert wird: Genau wie sein Vater kann er Dinge aus seinen Träumen in die Wirklichkeit mitnehmen. Und genau wie seinen Vater bringt ihn dieses Geheimnis in große Gefahr. Denn seit Adam am Ende von Band 1 die Ley-Linie geweckt hat und einen Handel mit Cabeswater eingegangen ist, spielen die Energiewerte der kleinen Stadt Henrietta verrückt und locken jede Menge Okkultisten, Sammler, Schatzsucher und auch den Auftragsmörder Mr. Gray an... Zwar lässt es die Autorin, die ja nicht unbedingt für ihre Handlungsdichte bekannt ist, auch in diesem Roman eher langsam angehen, nichtsdestotrotz sorgt das Entdecken von Ronans Traummagie mit all ihren Möglichkeiten und Abgründen in Kombination mit einer neuen Bedrohung und veränderten Dynamiken in der Freundesgruppe für eine brodelnde Grundspannung, welche auch alltägliche Situationen magisch erscheinen lässt.

"In diesem Moment war Blue ein kleines bisschen verliebt in jeden Einzelnen von ihnen. In ihre Magie. Ihre Suche, Ihre Erhabenheit und Andersartigkeit. In ihre Raven Boys."


Ein Teil der wundervollen und packende Atmosphären dieser Reihe lässt sich hier wieder auf das unglaublich magische Kleinstadtsetting zurückführen. Das Setting in der kleinen Stadt Henrietta im Herzen des ländlichen Virginias wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein besonderer Schauplatz. Der Autorin gelingt es jedoch, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken. So wird schon im Setting deutlich, wie vielseitig diese Erzählung ist, welche mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erscheint, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat. Zunächst wäre da der lebendige, durchgeknallte Fox Way - ein kleines Häuschen, das neben Blue, ihrer Mutter, ihren Tanten und ihren Cousinen noch allerlei weitere Wahrsagerinnen, skurrile Gegenständen, Magie und Rätsel beherbergt. Diesem wie ein Hexenhäuschen anmutenden Gebäude voller Stimmen, Musik, Telefonen, alten mystischen Dingen, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart steht die kalte, versnobte Aglionby-Privatschule gegenüber, auf die die Raven Boys gehen. Auch in den Wohnorten der Clique um Gansey gibt es jedoch große Unterschiede. Während Gansey, Ronan und Noah in einem Loft in dem ausgebauten Fabrikgebäude Monmouth Manufacturing wohnen, welches dem Labor eines verrückten Erfinders gleicht, muss sich Adam mit zahlreichen Nebenjobs durchschlagen und wohnt seit er bei seinen Eltern ausgezogen ist in einem kleinen Zimmer in einem Gemeindehaus. Das sorgt natürlich auch hier immer wieder für Konflikte zwischen den Freunden.

"Manchmal, so dachte Ronan, war Adam derart davon überzeugt, dass alles, was er tat, mit Schmerzen verbunden sein musste, dass er gar nicht auf die Idee kam, nach einem anderen Weg Ausschau zu halten."

Zusätzlich zwischen diesen Gegensätzen lässt die Autorin beständig magische Elemente miteinfließen, die neben dem Arbeitsfeld von Blues Familie auch mit Ganseys Suche nach dem verschollenen walisischen König Owen Glendower und nun eben auch mit Ronans Fähigkeiten und Adams Verbindung zu Cabeswater zu tun haben. Nach einer Legende erweist der schlafende Rabenkönig denjenigen eine Gunst, der ihn findet und erweckt. Seit seiner Kindheit ist Gansey besessen, den König zu finden und vermutet ihn auf einer sogenannten Ley-Linie, welche direkt durch Henrietta verläuft. Diese unsichtbaren Energielinien verbinden verschiedenste prähistorische Kultstätten und werden in manchen Kulturen als heilig bezeichnet, während die Wissenschaft ihre Existenz bestreitet. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie und durch deren Magie erwachende magische Kraftorte wie das geheimnisvolle Cabeswater, eine so originelle und unverbrauchte Idee, dass ich beim ersten Lesen gar nicht wusste, was ich mit dieser anfangen sollte. Auch wenn es also auch in der Raven Boys Reihe um typische Themen wie Liebe, Tod, Magie und Prophezeiungen geht, hat Maggie Stiefvater eine erfrischende und neue Art gefunden, eine mystische Geschichte zu erzählen!

"Der Traum wurde zum Albtraum. Ronan hörte, wie sich die Monster der Nacht näherten, verliebt in sein Blut, seine Traurigkeit. Ihre Flügel flatterten im Takt seines Herzschlags. Ihm fehlte die Kontrolle, um sie zu verjagen."


Neben dem vielseitigen Setting und der originellen Grundidee trägt auch der leicht verrückte, aber unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.

"Die Sache war die: Ronan wusste nur zu gut, wie ein Gesicht aussah, das kurz davor war, in Scherben zu zerfallen. Er hatte es schon oft genug im Spiegel gesehen. Und Adams Gesucht war bereits übersät mit feinen Rissen."


Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die ich beim ersten Mal einfach überlesen habe und die später nochmal eine tragende Rolle spielen.

"In dieser Nacht träumte Ronan von Bäumen. Einem dichten, finsteren Wald aus Eichen und Ahornbäumen, die aus der kalten Erde der Berge emporwuchsen. Blätter zitterten im Wind. Ronan spürte die Höhe des Bergs unter seinen Füßen. Sein Alter. Tief unter ihm schien ein Herz zu schlagen, das die ganze Welt durchdrang, langsamer und kraftvoller und unerbittlicher als Ronans. Er war schon oft hier gewesen, so viele Male. Er war mit diesem stetig wiederkehrenden Traum aufgewachsen. Die Wurzeln dieser Bäume waren fest in seinem Blut verankert. Rings um ihn bewegte sich die Luft und in ihr hörte er seinen Namen. Ronan Lynch Ronan Lynch Ronan Lynch."


Etwas schade ist, dass in "Wer die Lilie träumt" der Hauptplot um die Suche nach Glendower zugunsten der Vertiefung der Figuren und deren Beziehungen zueinander etwas aus dem Fokus gerät und kaum weiter vorangetrieben wird. Dadurch, dass man nicht genau weiß, worauf Maggie Stiefvater mit "Wer die Lilie träumt" hinauswill, ist der Roman jedoch voll mit kleinen und großen Überraschungen. Die Autorin hat das unglaubliche Talent, ganze Szenen komplett herumzudrehen und sich in eine unerwartete und manchmal auch sehr humorvolle Richtung zu bewegen. Außerdem findet sie in diesem deutlich handlungsärmeren, aber dafür atmosphärischeren, düstereren Teil 2 eine Menge Zeit, an der Hauptressource ihrer Reihe zu arbeiten: ihren Figuren! Blue, ihre Raven Boys, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklungen während der Reihe lassen den Leser wirklich jeden kleinen Durchhänger, jedes Logikloch in der Handlung und jede Durststrecke verzeihen und geben dem Plot noch das gewisse Etwas, das das Buch so einzigartig macht.

"Gansey wirkte gleich viel weniger wie der auf Hochglanz polierte, selbstsichere Sohn aus gutem Hause, als den sie ihn kennengelernt hatte, sondern mehr wie ein stiller, von Selbstzweifeln geplagter Zuschauer, interessiert an den intuitiven Künsten, wenn auch selbst völlig ungeeignet dafür. Er war wie ein wohlhabender Tourist in einem Entwicklungsland: schmeichelhaft neugierig, unbeabsichtigt beleidigend und ganz sicher nicht in der Lage zu überleben, wenn man ihn allein seinem Schicksal überließ."

Maggie Stiefvater nutzt hier wieder einen personalen Erzähler (der teilweise eher wie ein auktorialer Erzähler wirkt, weil er absichtlich Dinge zu verschweigen scheint) und mischt die Perspektiven ihrer Hauptfiguren ordentlich durch. Dabei wird, ohne dass es eindeutig ausgeschrieben wäre, wer in welchem Kapitel erzählt, schon nach wenigen Sätzen klar, aus welcher Perspektive wir die Szene gerade erleben. Die abenteuerlustige Wahrsager-Tochter Blue, die in Band 1 als eindeutige Hauptprotagonistin eingeführt wurde kommt genau wie Richard Gansey III hier deutlich weniger vor als erwartet. Zwar haben die beiden einige sehr schöne Szenen, in denen die Autorin die vorhergesagte Liebesgeschichte mit dem ebenfalls vorhergesagten bösen Ende zwischen den beiden leise und glaubwürdig vorbereitet, im Mittelpunkt stehen in "Wer die Lilie träumt" jedoch Ronan und Adam. Beide Figuren sind schwierige, eigensinnige und auf einzigartige Weise zerbrechliche Figuren, die hier ein magisches Erwachen haben und dabei ihren schlimmsten Ängsten in die Augen sehen müssen.

Adam, der sich in Band 1 endlich von seiner Familie losgesagt und der Gewalt seines Vaters entflohen ist, droht nun von der Magie der Ley-Linie vereinnahmt zu werden. Sein Kampf, sich selbst nicht an Cabeswater zu verlieren, hat mich sehr berührt, auch wenn er im Vergleich zu Band 1 einige Sympathiepunkte eingebüßt hat. Anders war es mit Ronan, der sich in diesem Band klar als mein liebster „Raven Boy“ herauskristallisieren konnte. Trotz seines kultivierten Walls aus Aggressivität und Wut wirkte er von den mit 16 bis 18 Jahren allen recht jungen Protagonisten am meisten auf mich wie ein Kind, das mit seinen eigenen Emotionen und Gedanken nicht umgehen kann und sich nichts mehr wünscht als eine Person, die seine Hand nimmt und sagt, dass alles gut werden wird. Auch wenn ich ihn oft nicht verstanden habe und schon gar nicht alle seine Entscheidungen gutheiße, hat er etwas an sich, das mich sehr mitgenommen und dazu gebracht hat, mir gleichzeitig zu wünschen, ich wäre er und mich genau davor zu fürchten!

"Aber ihr habt doch gesagt, diese Art von Zukunftsdeutungen sind gefährlich." "Das ist wie mit Wodkatrinken"; entgegnete Calla. "Es hängt immer davon ab, wer es macht."

Genau wie Blue und Gansey leidet auch Noah, der vierte Raven Boy im Bunde unter dem verstärkten Fokus auf Adam und Ronan. Da seine Kraft an die Energie der Ley-Linie gebunden ist und diese zunehmend verrücktspielt, erscheint er in einem Großteil der Szenen überhaupt nicht mehr. Dafür bekommen wir hier jedoch zwei sehr interessante neue Figuren dazu. Zum einen wäre da der draufgängerische Joseph Kavinsky, welcher ebenfalls auf die Alionby Academy geht und in ganz Henrietta für seine illegalen Autorennen, legendären Partys und gefährlichen Feuerwerksshows bekannt ist. Zu Beginn wusste ich überhaupt nicht, was ich mit dieser Figur anfangen soll, da sie augenscheinlich nicht zum magischen Plot passte und konnte auch die seltsamen Fehde-Schrägstrich-gegenseitige-Anziehung zwischen ihm und Ronan nur schlecht einordnen. Mit der Zeit erfahren wir dann aber, dass er ebenfalls ein großes Geheimnis verbirgt und mein Herz hat jedes Mal, wenn er mit seinem weißen Mitsubishi aufgetaucht ist, ein wenig schneller geschlagen.

"Die Traurigkeit und die Sehnsucht sah man erst, wenn man wusste, dass sie da waren. Jeder hatte mit seinen Enttäuschungen zu kämpfen, nur dass manche Menschen ihr Päckchen eben versteckt in ihrer Innentasche trugen und nicht sichtbar vor sich her. Und er meinte noch etwas zu erkennen: Mauras fröhliche Art war nicht aufgesetzt. Sie war beides: sehr glücklich und sehr traurig zu gleich."


Der zweite neue Charakter ist der geheimnisvolle "graue Mann" - ein eiskalter Auftragskiller, welcher sich in Blues Mutter verliebt und mir mit seiner kurios freundlichen und offenen Art sofort so sympathisch war, dass ich begonnen habe, an meiner Menschenkenntnis zu zweifeln. Das absurdeste an seinem Charakter ist jedoch, dass sich keiner der auftretenden Figuren daran zu stören scheint, dass er ein Auftragskiller ist. Die durchweg gleichgültige Reaktionen auf seinen Berufszweig lassen seine Figur fast schon ein wenig parodiert erscheinen und sorgen dafür, dass er sich wunderbar in die bunte Mischung der Charaktere ein, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne dass ich es bemerkt habe.

Auch Band 2 lässt uns mit einem fiesen Cliffhanger zurück, wie gut also, dass ich Band 3 und 4 schon hier habe und gleich weiterlesen kann!

"Mit einem Mal erstreckte sich das gesamte Tal vor ihnen. Trotz der unzähligen Sterne, die bereits über ihnen funkelten, leuchtete der Himmel noch immer in einem tiefen Blau, wie von der Farbpalette eines Idyllen-Malers. Die Berge auf der anderen Seite des Tals jedoch waren nachtschwarz und alles, was der Himmel nicht war. Dunkel, kühl und schweigend. Und dazwischen, am Fuß der Bergkette, lag Henrietta mit seinen gelben und weißen Lichtern. (...) Es war eine wilde und zugleich stille Art von Schönheit, die nicht zuließ, dass man sie bewunderte. Die Art von Schönheit, die einfach nur schmerzte."



Fazit:


In "Wer die Lilie träumt" weicht Maggie Stiefvater leicht vom der vorgezeichneten Haupthandlung ab und stellt zwei eigenwillige Nebenfiguren in den Vordergrund. Dadurch ist diese Fortsetzung deutlich handlungsärmer, dafür aber weitaus atmosphärischer, düsterer und magischer als der erste Band der Reihe. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 07.05.2022

Eine düstere, vielschichtige Geschichte über Tod, Sünde und Geheimnisse

Kingdom of the Wicked – Der Fürst des Zorns
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Auf den Auftakt der international erfolgreichen Fantasy-Dulogie von Kerri Maniscalco habe ich mich seit WOCHEN gefreut! Seit dem Erscheinungstermin der englischen Originalausgabe 2020 haben Wrath und Emilia ...

Auf den Auftakt der international erfolgreichen Fantasy-Dulogie von Kerri Maniscalco habe ich mich seit WOCHEN gefreut! Seit dem Erscheinungstermin der englischen Originalausgabe 2020 haben Wrath und Emilia meinen Instragramfeed in Form von Fanarts und -texten gesprengt und begeisterte Rezensionen von der ganzen Welt meine Neugier weiter befeuert. Kein Wunder also, dass ich sehr gespannt war, ob mich die Fantasygeschichte um Hexen, Hexenjäger, Höllenfürsten, Magie, Dämonen und Liebe mich überzeugen würde. Und tatsächlich: "Kingdom of the Wicked - Der Fürst des Zorns" konnte meine Erwartungen mit Leichtigkeit erfüllen und hat mir ein mitreißendes, leidenschaftliches und atmosphärisches Leseerlebnis beschert!

"Sie sind Kreaturen der Mitternacht, geboren aus Dunkelheit und Mondschein. Und sie wollen nichts als zerstören. Gebt auf euer Herz acht, denn wenn die Prinzen die Chance dazu bekommen, werden sie euch das Herz aus der Brust reißen und euer in der Nacht dampfendes Blut trinken." Doch ganz gleich, ob die Wicked seelenlose Wesen waren, die dem Teufel gehörten, und ob sie ohne zu zögern töteten, die Zwillinge waren trotzdem fasziniert von diesen dunklen und mysteriösen Höllenfürsten. Eine mehr als die andere, wie es das Schicksal wollte."

Schon die wundervolle Gestaltung verspricht eine düstere, vielschichtige Geschichte voller Tod, Sünde und Geheimnisse. Ich habe mich riesig gefreut, dass der Piper Verlag sich dazu entschlossen hat, das düstere Originalcover bei der deutschen Ausgabe beizubehalten, da jenes mit dem kahlen, von goldenen Rosen umgebenen Schädel, aus dessen Augenhöhle sich eine golden geschuppte Schlange windet, nicht nur ein absoluter Blickfang, sondern auch thematisch ein Volltreffer ist. Auch der Titel, "Kingdom of the Wicked", wurde hier großartigerweise als Reihentitel beibehalten. Abgerundet wird die Gestaltung durch den farbigen Buchschnitt, der das Rosenmotiv des Covers aufgreift und in der schwarz-goldenen Farbgebung der Buchdeckel umsetzt. Auch innerhalb der Buchdeckel ist "Kingdom of the Wicked" schön gestaltet. Das beginnt mit der Karte, die die sieben Kreise der Hölle mit den Residenzen der sieben Höllenfürsten, die jeweils nach einer der sieben Todsünden - Stolz, Zorn, Habgier, Neid, Faulheit und Völlerei - benannt sind, und zieht sich über die schön gestalteten Kapitelbeginne, denen ab und an ein Ausschnitt aus dem Grimoire der Familie di Carlos vorangestellt ist.

Erster Satz: "Draußen fuhr ein plötzlicher Luftzug warnend durch das hölzerne Windspiel."

Der Einstieg in die Geschichte setzt nach einem kurzen Prolog aus der Kindheit der beiden Zwillinge Emilia und Vittoria einige Tage vor Vittorias grausamer Ermordung an und zeigt uns zunächst zwei Schwestern, die auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten, sich aber näher sind als der Rest der Welt. Während Vittoria abenteuerlustig und frech durchs Leben geht, bleibt Emilia am liebsten zuhause, kreiert neue Rezepte für die Trattoria ihrer Familie oder schmökert gemütlich in einem Buch. Als eine Serie von Morden, bei denen jungen Hexen auf ganz Sizilien das Herz herausgerissen wird, ihre Schwester Vittoria trifft, bricht für Emilia eine Welt zusammen. Getrieben von Rache und fest entschlossen, den Mörder ihrer Schwester zu finden, schießt sie alle Warnungen ihrer Großmutter in den Wind und beschwört einen Dämon. Nur, dass ihr im Bannkreis plötzlich kein niederer Dämon gegenübersteht, sondern einer der sieben Höllenfürsten, vor denen sie ihr ganzes Leben dachte, sie seien nicht real, und er bietet ihr einen gefährlichen Bund an...

"Als sich unsere Blicke trafen, schnappte ich scharf nach Luft. Dunkle, schwarz gefleckte Goldaugen starrten mich an. Wunderschön. Selten. Und tödlich."

Schon in den ersten Kapiteln ist mir das gemäßigte Erzähltempo der Autorin positiv aufgefallen. Kerri Maniscalco nimmt sich weder zu viel Zeit noch hetzt sie ihre Geschichte zu sehr, stattdessen fällt sie in einen bedächtigen, gleichmäßigen Erzählfluss, der einen einer Rolltreppe gleichend mit sich reißt. Zunächst war ich noch etwas verwirrt vom Worldbuilding der Geschichte, da die Handlung im Palermo einer nicht eindeutig definierbaren zeitlichen Epoche angesiedelt ist. Während ich zu Beginn dachte, die Geschichte wäre in der Gegenwart verortet, haben erst nach und nach Details wie Kleidungs- oder Lebensstil der Menschen darauf hingedeutet, dass es sich um ein eher historisches Setting handelt. Der nötige Wechsel der Bilder in meinem Kopf hat mir den Einstieg in die ersten 100 Seiten ein winziges bisschen schwerer gemacht. Angesichts der sonstigen Stimmigkeit der Geschichte und des lebendigen Schreibstils der Autorin, konnte ich über das zunächst ausbaubare Worldbuilding aber gut hinwegsehen. Denn mit der Zeit fügt sich das sommerliche Süditalien mit glühend heißen Gassen, dem Rauschen des Meeres und dem Duft von italienischem Essen über der Stadt ganz wunderbar mit den Urban Fantasy-Elementen zusammen und kreiert ein unwiderstehliches Setting. Dabei sind vor allem die kulinarischen Details der italienischen Küche so eindrücklich beschrieben, dass mir nicht nur bei Beschreibungen von Wrath das Wasser im Mund zusammengelaufen ist. Daher kann ich nur empfehlen, das Buch am besten nicht hungrig zu lesen!

"Ich spürte ein Prickeln im Nacken, eine Art Warnung. Dies hier war kein Prinz wie aus den Märchenbüchern. Auf seinen dunklen Locken glänzte keine goldene Krone und seine muskulösen, tätowierten Arme boten keine Sicherheit. Er war Tod und Wut und Feuer, und alle, die dumm genug waren, dies zu vergessen, wurden von seinem Inferno verschlungen."

Neben dem tollen Setting und dem angenehmen Erzähltempo ist in diesem Auftakt in erster Linie die Mischung aus drei Motive hervorzuheben: ein Kriminalplot, Urban-Fantasy-Motive und eine Enemies-to-Lovers-Romanze. Während ersterer dazu dient, die Handlung grob zu strukturieren und einen Spannungsbogen aufzubauen, dabei jedoch nicht unbedingt unvorhersehbar ist, sind es vor allem die Fantasy-Motive, die die Geschichte vorantreiben. Treue LeserInnen meines Blogs werden wissen, dass ich sowohl ein Fan von Hexen-Geschichten als auch von dämonischen Motiven bin. Dass hier mit Hexen, Hexenjägern, Dämonen, dem Teufel, Gestaltwandlern, Vampiren und Geistern gleich mehrere Motive verbunden wurden, die ich sehr gerne mag, hat der Geschichte natürlich auch ordentliche Pluspunkte eingebracht. Zusätzlich hat mir die Grundidee, die Höllenfürsten als Verkörperung der sieben Todsünden darzustellen, sehr gut gefallen. Neben dem Love Interest Wrath treten in "Kingdom of Wicked - Der Fürst des Zorns" noch vier weitere Höllenfürsten auf: Lust, Greed, Envy und Pride - der Teufel höchstselbst. Der Autorin ist es gelungen, ihr Magiesystem und ihre Höllenbewohner mit wenigen Worten plastisch zum Leben zu erwecken, sodass ich nun umso gespannter auf die übrigen zwei Höllenfürsten Gluttony und Sloth und die Beschreibung der Hölle bin, welche wir bestimmt in Band 2 noch genauer kennenlernen dürfen!

"Lügnerin." Seine Stimme war tief, rau und zugleich elegant. Eine gezackte Klinge, in Seide gehüllt."

Auch ihre beiden Hauptfiguren sind einfach ein Träumchen! Unsere Ich-Erzählerin Emilia ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die zwar als Protagonistin nicht immer einfach ist, sich in den 416 Seiten aber meinen größten Respekt erarbeitet hat. Sie lässt sich von ihren Emotionen nicht überwältigen, schafft es immer wieder, sich neu aufzuraffen und tritt Herausforderungen und Gefahren beinahe trotzig entgegen. Zwar sorgt ihr Temperament dafür, dass sie ab und zu dazu tendiert, das Schlechte in Menschen zusehen (vor allem im armen Wrath, der sie nun wirklich sehr höflich und zuvorkommend behandelt) und die ein oder andere waghalsige bis sehr dämliche Entscheidung zu treffen, sie war mir unterm Strich aber trotzdem sehr sympathisch und hat mich mit ihrem Starrsinn ab und an leicht schmunzeln lassen. Der männliche Hauptprotagonist Wrath ist die Personifikation eines NA-Fantasy-Love-Interests: wunderschön, mächtig, sarkastisch und tödlich. Dadurch, dass wir nicht aus seiner Perspektive lesen können, müssen wir uns auf die (sehr misstrauische) Beschreibungen von Emilia verlassen, um uns ein Bild von ihm zu machen, ahnen aber schon weit vor unserer Protagonistin, dass er eigentlich ein guter Kerl ist. Ich freue mich sehr darauf, ihn in Band 2 näher kennenzulernen und mehr über seine Beweggründe zu erfahren!!!

"Sprich mich mit dem Namen meines Hauses an. Es sei denn, du ziehst es vor, mich "Eure königliche Hoheit des unleugbaren Verlangens" zu nennen, das ist immer eine akzeptable Alternative. Fall du dich außerdem vor mir verbeugen möchtest, wäre das auch in Ordnung. Mit ein bisschen Unterwürfigkeit kommt man meistens weiter. Vielleicht erweise ich dir dann die Gnade eines schnellen Todes." Abfällig verzog ich den Mund. "Bist du denn sicher, dass du zum Haus Zorn gehörst? Du würdest auch einen ziemlich guten Feldherrn für ein Bataillon nichtssagender, hemdloser Abkömmlinge des Hauses Narzissmus abgeben."


Toll ist natürlich auch das funkensprühende Geplänkel zwischen den beiden Hauptfiguren, welche schon während ihrer ersten Begegnung eine unheimlich tolle Chemie entwickeln - und das ohne dass es auch nur eine explizite Szene geben würde! Die ganzen Fanarts, die ich gesehen habe, haben also nicht gelogen: Emilia und Wrath sind definitiv spektakulär zusammen und eine meiner liebsten Umsetzungen des Enemies-to-Lovers-Tropes im Fantasy-Genre. Schön ist an ihrer Romanze auch, dass die Anziehung und die Annäherung der beiden nicht wie bei anderen Geschichten Mittelpunkt und Hauptspannungsgeber des Buches ist (hust, "Blood and Ash", hust), sondern einfach eine weitere Kirsche auf der ohnehin schon sehr appetitlichen Torte. Ich gehe also mit rundum erfüllten Erwartungen aus der Geschichte und bin nun wahnsinnig gespannt auf die Fortsetzung, "Kingdom of the Wicked - Die Königin der Hölle", welche am 1. September 2022 erscheinen wird!

"Ein Ast war nur ein zerbrochenes Stück Holz, bevor man es zu einem Speer schnitzte. Die Trauer hatte mich zerbrochen. Die Wut hatte die Bruchstücke zu einer Waffe geschmiedet. Nun war ich bereit, sie zu entfesseln."



Fazit:


"Kingdom of the Wicked - Der Fürst des Zorns" ist eine düstere, vielschichtige Geschichte über Tod, Sünde und Geheimnisse, welche mit einer mitreißenden Atmosphäre, einem unwiderstehlichen Setting und eindrucksvollen Charakteren mit einer tollen Chemie überzeugt!

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Veröffentlicht am 02.05.2022

Wer besondere und fast eigenartige Bücher liebt, muss diese Reihe unbedingt lesen!!!

Wen der Rabe ruft
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Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige ...

Seit ich "Wen der Rabe ruft" 2016 ganz aus Versehen gefunden und sofort ins Herz geschlossen habe, bin ich ein riesiger Fan von Maggie Stiefvater, die es immer wieder schafft, mich durch die eigenartige Mischung von klassischer Urban Fantasy und heimeligem Kleinstadtleben mit Geschichtlichem, Märchen, magischen Traumwelten und einer guten Prise Verrücktheit zu überzeugen. Im Laufe der Zeit habe ich schon eine ganze Menge ihrer Bücher gelesen und beschlossen, anlässlich der heute am 2. Mai erscheinenden wunderschönen Neuausgaben im Knaur Verlag nochmal zu den Raven Boys zurückzukehren und die gesamten vier Bände nochmals zu lesen. Da meine alten Rezensionen von 2016-2018 (diese findet ihr übrigens HIER) zum Teil leicht unvollständig sind und ich nicht ausschließen konnte, dass sich bei einem Reread meine Meinung nochmal leicht verändert hat, habe ich beschlossen, neue Rezensionen zu schreiben.

Bevor ich mein erneutes Loblied auf Maggie Stiefvaters Fantasie beginne, wie immer ein paar Worte zum Cover. Während die 2013 bei script5 erschienenen Ausgaben der Reihe eigene Cover hatten, hat sich der Knaur Verlag bei seiner Neuauflage der Reihe sehr stark an den englischen Originalcovern orientiert. Auf diesen sind die Hauptmotive des jeweiligen Bandes in Aquarell-Optik auf einem weißen Grund abgebildet, welche die verträumte Atmosphäre der Geschichte perfekt einfangen. Auf Band 1 ist ein Rabe zu sehen, der mit seinen ausgebreiteten Flügeln, den verspielten Schnörkeln und den roten und blauen Farbakzenten nicht ganz von dieser Welt erscheint. Der Rabe ist ein Motiv, dass uns über die gesamte vierbändige Reihe hinweg begleitet und der Geschichte somit auch einen perfekten Titel verleiht. Die 48 Kapitelanfänge werden von drei verschränkten Linien eingekreist, welche ebenfalls eine spezielle Bedeutung in der Geschichte einnehmen. Kurzum: ich bin einfach hingerissen von der Gestaltung!

Erster Satz: "Blue Sargent wusste mittlerweile schon gar nicht mehr, wie oft ihr gesagt worden war, dass sie ihrer wahren Liebe den Tod bringen würde."

Auch die Geschichte an sich konnte mich innerhalb kürzester Zeit wieder in ihren Bann ziehen. Zwar ist die Autorin nicht unbedingt für ihre Handlungsdichte bekannt und auch in "Wen der Rabe ruft" steigen wir zunächst sehr gemächlich in das Leben der vier Raven Boys und der jungen Blue ein, dennoch ist von Beginn an eine brodelnde Grundspannung vorhanden, welche auch alltägliche Situationen magisch erscheinen lässt. Ich habe lange überlegt, wodurch die wundervolle und packende Atmosphäre dieser Reihe zustande kommt, und würde sie auf drei Größen zurückführen: das unglaublich magische Kleinstadtsetting, die unverbrauchte Idee und der tolle Schreibstil Maggie Stiefvaters.

Das Setting in der kleinen Stadt Henriette im Herzen des ländlichen Virginias wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein besonderer Schauplatz. Der Autorin gelingt es jedoch, uns im Laufe der Zeit an verschiedene Handlungsorte innerhalb ihres Settings mitzunehmen, die sich so gegensätzlich gegenüberstehen, dass sie beinahe wie unterschiedliche Dimensionen wirken. So wird schon im Setting deutlich, wie vielseitig diese Erzählung ist, welche mehr wie eine Ansammlung kunstvoll miteinander verwobener Einzelgeschichten erscheint, die mich aufs Neue mit ihrem Ideenreichtum verzaubert hat. Zunächst wäre da der lebendige, durchgeknallte Fox Way - ein kleines Häuschen, das neben Blue, ihrer Mutter, ihren Tanten und ihren Cousinen noch allerlei weitere Wahrsagerinnen, skurrile Gegenständen, Magie und Rätsel beherbergt. Diesem wie ein Hexenhäuschen anmutenden Gebäude voller Stimmen, Musik, Telefonen, alten mystischen Dingen, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart steht die kalte, versnobte Aglionby-Privatschule gegenüber, auf die die Raven Boys gehen. Auch in den Wohnorten der Clique um Gansey gibt es jedoch große Unterschiede. Während Gansey, Ronan und Noah in einem Loft in dem ausgebauten Fabrikgebäude Monmouth Manufacturing wohnen, welches dem Labor eines verrückten Erfinders gleicht, haust Adam in einer heruntergekommenen Wohnwagensiedlung und muss sich sein tägliches Brot mit zahlreichen Nebenjobs verdienen. Das sorgt natürlich immer wieder für Konflikte zwischen den Freunden.

"Irgendwo in der Nähe dufteten zum ersten Mal in diesem Jahr Rosen und gemähtes Grad, während von etwas weiter her der Geruch nach feuchter Erde, die unter dem gefallenen Laub vom letzten Herbst erwachte, und Wasser herüberwehte, das in Gebirgsspalten über Felsgestein plätscherte, wo nie ein Mensch hingelangte. Vielleicht hatte Adam ja recht. Die Nacht schien tatsächlich mit irgendetwas geschwängert zu sein, dachte er. Es war, als öffnete etwas, das sie nicht sehen konnten, gerade die Augen."

Zusätzlich zwischen diesen Gegensätzen lässt die Autorin beständig magische Elemente miteinfließen, die neben dem Arbeitsfeld von Blues Familie auch mit Ganseys Suche nach dem verschollenen walisischen König Owen Glendower zu tun haben. Nach einer Legende erweist der schlafende Rabenkönig denjenigen eine Gunst, der ihn findet und erweckt. Seit seiner Kindheit ist Gansey besessen, den König zu finden und vermutet ihn auf einer sogenannten Ley-Linie, welche direkt durch Henrietta verläuft. Diese unsichtbaren Energielinien verbinden verschiedenste prähistorische Kultstätten und werden in manchen Kulturen als heilig bezeichnet, während die Wissenschaft ihre Existenz bestreitet. In Zeiten von überdimensioniert häufig verwendeten Vampirmythen und Zaubermotiven sind eine Ley-Linie und durch deren Magie erwachende magische Kraftorte wie das geheimnisvolle Cabeswater, eine so originelle und unverbrauchte Idee, dass ich beim ersten Lesen gar nicht wusste, was ich mit dieser anfangen sollte. Auch wenn es also auch in der Raven Boys Reihe um typische Themen wie Liebe, Tod, Magie und Prophezeiungen geht, hat Maggie Stiefvater eine erfrischende und neue Art gefunden, eine mystische Geschichte zu erzählen!

"Immer wenn sie die Sterne betrachtete, schien etwas an ihrem Geist zu zupfen, etwas, das sie drängte, dort mehr als nur Sterne zu sehen, Logik in das Chaos des Firmaments zu bringen, ein größeres Bild daraus zu formen."


Neben dem vielseitigen Setting und der originellen Grundidee trägt auch der leicht verrückte, aber unverwechselbare Schreibstil Maggie Stiefvaters zur Entwicklung der Anziehungskraft des bildgewaltigen Epos´ einen großen Teil bei. Mit ruhigen, aber eindringlichen Worten (für die sie auch oft Klammern und Spiegelstriche verwendet) lässt sie die Charaktere und das Setting für einen kurzen Moment wahr werden und schenkt uns einige Stunden voller Fantasie, Magie, Liebe, Freundschaft und düsteren Geheimnissen. In ganz eigener Handschrift schreibt sie mal erklärend, mal kurz angebunden, mal emotional, mal kalt, mal melancholisch, mal locker, mal traurig, mal glücklich, mal wütend, mal resigniert - ein kunterbuntes Durcheinander, das vor allem eines ist: magisch. Dann noch ein paar skurrile Wendungen und überraschende Gedanken und fertig ist die unkonventionelle, magische und einzigartige Geschichte.

"Heute, dachte Blue, ist der Tag, an dem ich aufhöre, nach der Zukunft zu lauschen und stattdessen anfange, sie zu leben."


Zusätzlich zu Stil und Atmosphäre lebt die Geschichte vor allem von den Charakteren. Blue, ihre Raven Boys, ihre Beziehungen zueinander und ihre Entwicklungen während der Reihe lassen den Leser wirklich jeden kleinen Durchhänger, jedes Logikloch in der Handlung und jede Durststrecke verzeihen und geben dem Plot noch das gewisse Etwas, das das Buch so einzigartig macht. Maggie Stiefvater nutzt hier einen personalen Erzähler (der teilweise eher wie ein auktorialer Erzähler wirkt, weil er absichtlich Dinge zu verschweigen scheint) und mischt die Perspektiven ihrer Hauptfiguren ordentlich durch. Dabei wird ohne dass es eindeutig ausgeschrieben wäre wer in welchem Kapitel erzählt, schon nach wenigen Sätzen klar, aus welcher Perspektive wir die Szene gerade erleben. Im Mittelpunkt der Handlung steht die abenteuerlustige Wahrsager-Tochter Blue, welche als schillernder, selbstbewusster, neugieriger und sehr exzentrischer Charakter auftritt und damit wunderbar in den Fox Way passt. Ihr wurde als Kind schon prophezeit, dass sie ihre große Liebe durch einen Kuss töten würde und dementsprechend hält sie einen großzügigen Sicherheitsabstand zu den Raven Boys der Stadt, unwissend, dass sie in vier von ihnen Freunde fürs Leben finden und ein großes Abenteuer mit ihnen erleben würde...

"Jeder dieser Jungen hatte etwas Eigenartiges, Komplexes an sich, dachte Blue - genau wie das Notizbuch. Ihre Leben waren zu einem Netz verwoben und irgendwie war es ihr gelungen, darin hängen zu bleiben."


Neben Blue betrachten wir außerdem die vier Ravenboys Gansey, Ronan, Adam und Noah, von denen einer spannender ist als der nächst. Gansey, welcher eigentlich Richard Gansey III heißt, wirkt mit seiner geschliffenen, höflichen und oftmals auch ungewollt herablassenden Art und seiner gestörten Beziehung zu Geld zunächst wie ein verwöhnter Schnösel. Bald wird jedoch klar, dass er sich bloß hinter dieser glattpolierten Fassade versteckt und viel zu unsicher ist, um der Welt zu zeigen, was wirklich in ihm steckt. In den wenigen Momenten, in denen er sein großes Herz, seine Loyalität seinen Freunden gegenüber und seine Neugier und Leidenschaft für die Suche nach Glendower zeigt, hat er dann aber doch mein Herz gestohlen. Auch Ronan und Adam konnte ich in Windeseile ins Herz schließen. Während Ronan sich durch einen Wall aus Aggressivität und Kälte vor der Trauer um seinen Vater schützt und ein träumerisches Geheimnis verbirgt, leidet der empfindsame Adam sehr unter der Gewalttätigkeit seines Vaters und seiner Abhängigkeit von Gansey. Komplettiert wird die ungleiche Gruppe vom blassen, immer leicht schmuddelig aussehenden Noah, welcher das wohl unglaublichste Geheimnis von allen vieren verbirgt...

"Adam Parrish zu sein, war eine komplexe Angelegenheit, ein erstaunliches Zusammenspiel von Muskeln und Organen, Synapsen und Nerven. Er war ein Wunder aus beweglichen Gliedern, ein Musterbeispiel des Überlebens. Das Wichtigste für Adam Parrish war jedoch stets der freie Wille gewesen, die Möglichkeit, sein eigener Herr zu sein."

Kurzum: Die Figuren bestehen aus einer bunten Mischung, die seltsamer nicht sein könnte, mir aber das Herz erweicht hat, ohne dass ich es bemerkt habe. Maggie Stiefvater setzt Gefühlsbeschreibungen nur ganz dezent und gezielt ein - ganz im Gegensatz zu manch anderen Romanautorinnen wie zum Beispiel Colleen Hoover, deren Gefühlswucht fast erdrückt. Manchen mag das zu spärlich sein, doch ich finde die zarten Andeutungen und leisen Annäherungen sind viel berührender als brodelnde Leidenschaft. Da sich hier sowohl emotional als auch inhaltlich viele auf der Ebene noch An- und Vorausdeutungen abspielt, kann ich allen zukünftigen LeserInnen dieses Buches nur ans Herz legen, es sehr aufmerksam zu lesen und sich dabei viel Zeit zu lassen, denn es gibt im Laufe der komplexen Erzählung so viele Andeutungen, die ich beim ersten Mal einfach überlesen habe und die später nochmal eine tragende Rolle spielen. Dass "Wen der Rabe ruft" nur der Auftakt einer Reihe ist, merkt man auch dem Ende an, welches uns leider mit vielen unbeantworteten Fragen und einem bösen Cliffhanger zurücklässt, sodass ich am liebsten sofort zu Band 2 greifen würde!

"Gansey blickte zu ihnen auf und sie sah ihm an, wie sehr er diesen Ort jetzt schon liebte. Sein unverstellter Gesichtsausdruck beinhaltete etwas völlig Neues: weder das schiere Entzücken, die Ley-Linie gefunden zu haben, noch das verschmitzte Vergnügen, wenn er Blue aufzog. Sie erkannte das seltsame Glück, das einen durchströmte, wenn man etwas liebte, ohne zu wissen, warum; dieses seltsame Glück, das manchmal so groß war, dass es sich wie Traurigkeit anfühlte. Genauso ging es ihr, wenn sie zu den Sternen hinaufsah."



Fazit:


Maggie Stiefvater überzeugt in "Wen der Rabe ruft" mit einem vielseitigen Setting, einer packenden Atmosphäre, einer unverbrauchten Idee, einem unverwechselbaren Schreibstil und einprägsamen Figuren, die sich rasend schnell ins eigen Herz schleichen.

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