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Veröffentlicht am 04.05.2020

Ein berührender Roman voller Poesie

Offene See
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INHALT
Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. ...

INHALT
Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will.
(Quelle: DUMONT Buchverlag)

MEINE MEINUNG
In seinem jüngsten, äußerst gelungenen Roman „Offene See“ erzählt der bereits mehrfach ausgezeichnete britische Autor Benjamin Myers eine berührende Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen Jung und Alt und eine wundervolle Geschichte über das Erwachsen-Werden. Zugleich hat der Autor mit seinem ausdrucksstarken und sprachgewaltigen Roman eine beeindruckende Hommage an die Kraft der Literatur und Poesie verfasst. Glücklicherweise ist es den beiden Übersetzer*innen hervorragend gelungen, Meyers großartigen, sehr metaphernreichen Erzählstil und seine poetische Sprache auch ins Deutsche zu übertragen.
Eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der ein alternder Schriftsteller auf sein Leben zurückblickt, lässt der Autor den 16-jährigen Protagonisten und Ich-Erzähler Robert Appleyard, seine Geschichte über jenen schicksalhaften Sommer kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges erzählen, der sein gesamtes Leben verändern sollte. Bevor er wie alle Männer seiner Familie auch als Bergarbeiter in den Kohlebergwerken Nordenglands arbeiten wird, beschließt der freiheitsliebende, verträumte Junge sich auf Wanderschaft gen Süden Richtung Yorkshire zu begeben, um noch etwas vom Land zu sehen, die Natur zu erleben und einmal die Weite des Meeres zu erfahren.
Schon nach wenigen Sätzen hat mich die außerordentlich dichte Atmosphäre dieses Romans voller Poesie und Nostalgie gefangen genommen und begeistern können. Fast wie aus der Zeit gefallen wirkt diese etwas altmodisch anmutende, beschauliche Geschichte mit ihren opulenten Natur- und Landschaftsbeschreibungen und den ausführlichen Schilderungen des idyllischen, ländlichen Lebens. Ein Hauch von Romantik liegt beim Lesen der wundervollen Passagen in der Luft, in denen der Kraft und Schönheit der heimischen Flora und Fauna gehuldigt wird ohne aber völlig ins Kitschige abzugleiten.
Fesselnd ist es mitzuerleben, wie der junge, scheue Robert durch die zufällige Begegnung mit der älteren, äußerst unkonventionellen Dulcie Piper allmählich aufblüht, dem Leben ganz neue Seiten abgewinnt und durch sie eine gänzlich neue Welt kennen lernt. Ganz nebenbei lässt Dulcie Robert nicht nur seine kulinarische Vorlieben entdecken oder animiert ihn zum eigenständigen Denken, sondern sie erweckt insbesondere auch seine Liebe zur Literatur und Poesie, die seine Einstellung zum Leben und seine Zukunft nachhaltig verändern wird.
Es ist für beide der Beginn einer wundervollen, bereichernden Freundschaft zwischen Jung und Alt. Schließlich gelingt es Robert, auch Dulcie dabei zu helfen, sich einem schmerzhaften Verlust in ihrer Vergangenheit zu stellen und neue Zuversicht zu schöpfen.
Meyers versteht es hervorragend, die Emotionen und die Stimmungen seiner liebenswerten Charaktere glaubhaft und nachvollziehbar darzustellen. Auch wenn Robert nicht ganz fassbar für mich wurde, ist mir die faszinierende und sehr eigenwillige Protagonistin Dulcie schon bald sehr ans Herz gewachsen. Mit ihrer unbeschwerten, offenen und warmherzigen Art, ihrer quirligen, verrückten Lebensfreude, aber auch ihren gelegentlichen schroffen und melancholischen Ausbrüchen hat der Autor eine überaus tiefgründige, sehr authentische Figur geschaffen, die mich sehr beeindruckt hat.

FAZIT
Eine berührende, großartig erzählte Geschichte über das Erwachsen-Werden und ein wundervoll poetisches Plädoyer für ein selbstbestimmtes, bewusstes Leben jenseits von äußeren Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.04.2020

Fesselndes Portrait der in Vergessenheit geratenen Ikone Carola Neher

Die Königin von Berlin
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INHALT

Ein aufregender Roman über Carola Neher, eine der schillerndsten Schauspielerinnen der Weimarer Republik von der Bestseller-Autorin Charlotte Roth.
Wo sie auftritt, jubeln die Menschen der geheimnisvollen ...

INHALT

Ein aufregender Roman über Carola Neher, eine der schillerndsten Schauspielerinnen der Weimarer Republik von der Bestseller-Autorin Charlotte Roth.
Wo sie auftritt, jubeln die Menschen der geheimnisvollen Carola Neher zu. Die Theater reißen sich um sie. Berlin liegt ihr zu Füßen in jenen letzten Jahren der Weimarer Republik. In durchfeierten Nächten verdreht sie einem berühmten Mann nach dem anderen den Kopf – doch im Herzen bleibt sie allein. Das ändert sich, als sie dem Dichter Klabund begegnet, ein Suchender und ein Getriebener wie sie selbst.
Ausgerechnet sie, die begehrte femme fatale, verliebt sich in den scheuen, zurückhaltenden Dichter, der von der gleichen inneren Glut verzehrt wird wie sie selbst. Was keiner für möglich gehalten hätte, tritt ein: Sie heiratet ihn. Doch eine brave Ehefrau wird Carola nicht, denn schon bald lockt sie das wilde Leben – und die Künstler Berlins, darunter Bertold Brecht, der ihr die Chance ihres Lebens bietet …

(Quelle: Droemer Verlag)


MEINE MEINUNG

In ihrer Romanbiografie „Die Königin von Berlin“ hat sich die Bestsellerautorin Charlotte Roth dem bewegten Leben von Carola Neher angenommen, und setzt der heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Ikone der Weimarer Republik gekonnt ein Denkmal. Die Schauspielerin und Sängerin Carola Neher war in den 1920er Jahren die Muse einiger berühmter Künstler, brannte für das Theater und wurde schließlich mit Brechts Dreigroschenoper als Polly und ihrem „Barbara-Song“ unsterblich.

Einem Theaterstück gleich hat Charlotte Roth ihren Roman als einen Drei-Akter mit einigen Zwischenspielen inszeniert. Geschickt hat sie ihre eigentliche Geschichte um Carola Neher in eine interessante Rahmenhandlung eingebettet, die im Jahr 1979 in dem kleinen Ort Weyher an der Südlichen Weinstraße angesiedelt ist und von der aus die Spurensuche nach Carola und ihrer Familie aufgerollt wird.

Den einzelnen Romanteilen wurden passender Weise Szenenangaben aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht vorangestellt sowie Gedichtzeilen des Dichters Klabund, Nehers an Tuberkulose erkranktem, ersten Ehemann, der bürgerlich Alfred „Fredi“ Henschke hieß.
Zu Beginn ihres Romans macht die Autorin dem Leser in einem unterhaltsamen „Grußwort des Abendspielleiters“ deutlich, dass sie bewusst keine Biografie zu Carola Neher sondern einen Roman über diese außergewöhnliche Frau schreiben wollte, sich zwar an Fakten und historisch verbürgte Begebenheiten orientiert, aber auch einige dramaturgische Freiheiten in Bezug auf Schauplätze, Figuren und zeitliche Abläufe genommen hat.

Sehr eingehend hat sich die Autorin mit Nehers, Klabunds und Bertolt Brechts Biografie beschäftigt. Aber auch das kultur- und theatergeschichtliche Umfeld jener Zeit sowie das politische und zeitgeschichtliche Geschehen während der Weimarer Republik hat sie sehr gründlich recherchiert und äußerst anschaulich und authentisch in ihre Geschichte eingebaut. Im angehängten Glossar kann der interessierte Leser verschiedene wissenswerte Begriffserklärungen sowie Erläuterungen zu damals bekannten Schauplätzen und angesagten Treffpunkten nachlesen.

Mit ihrem ansprechenden, sehr mitreißenden Schreibstil gelingt es Charlotte Roth sehr schnell uns auf eine faszinierende Zeitreise in die Welt der Goldenen Zwanziger Jahre mitzunehmen – eine faszinierende Zeit zwischen Armut, den Nachwirkungen des ersten Weltkriegs, rasantem Fortschritt, beispielloser kultureller Aufbruchsstimmung, gesellschaftlichen Umbrüchen, politischen Unruhen, ungezügeltem Vergnügen und Dekadenz. Doch schon bald setzen Weltwirtschaftskrise und der aufkommende Nationalsozialismus dem Ganzen ein Ende. Zugleich nimmt sie uns aber auch mit in die faszinierende Welt des Theaters jener Zeit.

Sehr abwechslungsreich und einfühlsam hat die Autorin in sorgfältig ausgewählten Episoden das außergewöhnliche Lebensbild von Carola gezeichnet, die sich sehr hartnäckig und zielstrebig zu einer gefeierten Schauspielerin der 1920ger und 30ger Jahre hochgearbeitet hat. Mit ihrem extravaganten Erscheinungsbild wurde sie zu einer Ikone des modernen Frauentyps und pflegt ihr Image als „femme fatale“.

Es ist Roth hervorragend gelungen, uns an den bedeutsamen Stationen ihrer Karriere und ihres turbulenten Privatlebens teilhaben zu lassen und diese zu einer fesselnden, abwechslungsreichen und sehr stimmigen Geschichte mit viel Zeitkolorit zusammen zu fügen. Zwar ist es mir nicht sofort gelungen, Bezug zu Carola und ihrem teilweise sehr kompromisslosen, egoistischen Verhalten aufzubauen, aber schließlich hat mich ihre extrovertierte, lebendige Persönlichkeit und ihr recht kapriziöses Innenleben doch zunehmend in den Bann gezogen.

Schon früh entschließt sie sich gegen den Widerstand der Mutter, den Weg zur Schauspielerei einzuschlagen und will unbedingt auf die Bühne. Anfang der 20er-Jahre erhält sie zwar erste, kleinere Rollen in Baden-Baden, München und Breslau, doch wird ihr von Kritikern das Talent zur bedeutenden Darstellerin wegen ihres eigenwilligen Stils abgesprochen. Dank ihres Aussehens, ihrer Erotik und ihres extremen Ehrgeizes gelangt sie schließlich dennoch an die Spitze des Theaterlebens während der Weimarer Republik und glänzt auf dem Höhepunkt ihres Ruhms in einigen großen Rollen und legendären Inszenierungen. Vielen berühmten Persönlichkeiten aus den Theater- und Kunstkreisen begegnen wir im Laufe der Handlung wie beispielsweise Julius Gellner, Feuchtwanger, Wedekind, Benn oder Weill. Zwei Männer, die in ihrem Leben eine ganz besondere Rolle gespielt haben, ihr großer Bewunderer und späterer Ehemann Klabund und der Dramaturg Bertolt Brecht, dessen Muse und Geliebte sie über längere Zeit ist, erhalten natürlich sehr viel Raum in der Handlung. Vor allem die ambivalente Figur von Brecht mit all seinen Licht- und Schattenseiten ist Roth hervorragend gelungen und wirkt äußerst überzeugend und authentisch.

Schade nur, dass die Autorin ihre Erzählung mit dem Höhepunkt von Carolas Karriere nur noch kurz anreißt. Über die letzten, bedrückenden Stationen ihres wechselvollen Lebens - von ihrer Flucht vor den Nazis in die Sowjetunion, ihrem Martyrium bis hin zu ihrem tragischen Tod im stalinistischen Gulag - erhalten wir in der Rahmenhandlung sowie im Nachwort „Ihr Abendspielleiter verabschiedet sich“ nur noch einen knappen Einblick und wenige Hintergrundinformationen.


FAZIT

Ein sehr interessanter und abwechslungsreich erzählter Roman über die fast völlig in Vergessenheit geratene Carola Neher – eine gefeierte Schauspielerin und Ikone der Weimarer Republik!
Feinfühlig und lebendig portraitiert Charlotte Roth die faszinierende Persönlichkeit von Carola Neher in all ihren schillernden Facetten und nimmt uns mit auf eine fesselnde Zeitreise.

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Veröffentlicht am 20.04.2020

Intensiver, aufrüttelnder aber sehr anstrengend zu lesender Roman

Milchmann
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INHALT

Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt ...

INHALT

Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Doch Milchmann ist hartnäckig. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als »interessant« – etwas, das sie immer vermeiden wollte. Hier ist es gefährlich, interessant zu sein.

(Quelle: Tropen Verlag – Erscheinungsdatum: 22.2.20 – ISBN: 978-3-608504682 - Übersetzung aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll)



MEINE MEINUNG

Der Roman » Milchmann « aus der Feder der nordirischen Autorin Anna Burns wurde bereits 2018 mit dem Man Booker Prize - dem bedeutendsten britischen Literaturpreis - ausgezeichnet und ist nun auch auf Deutsch erschienen.

Es ist ein faszinierender, aufwühlender und äußerst eindringlich geschriebener Roman mit sehr bissigem Humor, der eine sehr ernste und erstaunlich aktuelle Thematik behandelt, macht er doch deutlich wie nachhaltig der Alltag durch einen Bürgerkrieg beeinträchtigt werden kann und welche Auswirkungen die permanente Gewalt auf die Zivilgesellschaft hat.

Obwohl die Autorin bewusst den Handlungsort, die Schauplätze und sogar das Zeitkolorit weitgehend unkenntlich gemacht hat und beispielsweise mit „jenseits der See“ oder „jenseits der Grenze“ umschrieben hat, fällt einem die Verortung der Handlung nicht schwer. Ihre Geschichte ist während des Nordirland-Konflikts in den 1970ger Jahren in einem katholischen Viertel in Belfast angesiedelt – einem Bürgerkrieg, in dem Autobomben, Erschießungskommandos und Tote den Alltag beherrschten.

Bereits der verstörende Beginn des Romans mit dem ersten Satz „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb." konfrontiert uns mit einer schockierenden Welt voller Gewalt und Brutalität.

Die 18-jährige namenlose Ich-Erzählerin schildert rückblickend über eine Verkettung von ungeheuerlichen Ereignissen, die man zunächst gar nicht richtig einzuordnen vermag.

Unbeabsichtigt hat die junge Erzählerin die Aufmerksamkeit eines über 40-jährigen Manns, der ein hochrangiger und hochgeschätzter Untergrundkämpfer ist und von allen „Milchmann“ genannt wird, auf sich gezogen. Obwohl sie ihm keine Beachtung schenkt, lauert er ihr beim Joggen regelmäßig auf und stalkt sie hartnäckig. Schon bald gehen Gerüchte im Viertel um und ihr wird eine Affäre ihm unterstellt.

Aus Sicht der Erzählerin erfahren wir hautnah wie sehr die permanente Angst vor Begegnungen mit Milchmann und die kursierenden Gerüchte ihr nicht nur psychisch sondern zunehmend auch physisch zusetzen.

Die Autorin bedient sich einer besonderen, Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführten, nicht-linearen Erzähltechnik, bei welcher der Erzählschwerpunkt weniger auf der eigentlichen Handlung liegt, sondern eher assoziative und sehr ausschweifende Betrachtungen an Erzähltes anknüpfen. Obwohl es anfangs äußerst schwierig ist, sich in den ungewöhnlichen und sehr anstrengenden Schreibstil der Autorin mit viel schwarzem Humor hineinzufinden, dauert es nicht lange, bis man dem sehr authentisch wirkenden, inneren Monolog und endlos mäandrierenden Gedankenfluss der Ich-Erzählerin gebannt folgt. Die sehr vielschichtig angelegte Protagonistin wird als eine eigenwillige, kritisch eingestellte und sehr clevere junge Frau geschildert, die am liebsten den Kopf in alte Schmöker aus dem 18. Jahrhundert steckt und im Gehen liest, um bloß nicht aufzufallen. Von allen Seiten wird sie mit verschiedensten Erwartungen konfrontiert und unter Druck gesetzt, so dass sie weit davon entfernt ist, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Sehr unmittelbar nehmen wir Anteil an der intensiven Innenansicht der Hauptfigur, ihren sehr abschweifenden Gedanken und ambivalenten Einstellung zu ihrem Alltag und dem Leben in ihrem Bezirk, das geprägt ist von Tratsch, Misstrauen, Verleumdungen, Bespitzelungen und permanenter Angst. Alles unterliegt den strengen, oft widersinnigen Regeln der Gemeinschaft, denen man sich unterzuordnen hat. Gekonnt beschwört die Autorin einen unglaublich komplexen, höchst beklemmenden und kafkaesk anmutenden Mikrokosmos herauf, der sich während der langandauernden Konflikte herausgebildet und immer absurdere Züge angenommen hat. Sie schildert anhand einer Vielzahl von Beispielen eine Gesellschaft mit komplexen Loyalitätsregeln, die totalitäre Züge trägt, und ein Urmisstrauen gegen die Staatsgewalt und ihre Einrichtungen besitzt und verdeutlicht, was alles unter dem schädlichen Klima von Unterdrückung durch das Patriachat und der Kirche schiefläuft.

Faszinierend ist es mitzuerleben, wie die Protagonistin, die eigentlich unauffällig sein und sich aus den politischen Konflikten heraushalten möchte, mit ihrer schrägen, desinteressierten und distanzierten Art diesen seltsamen Mikrokosmos stört und zunehmend in den Augen der anderen suspekt erscheint. So verselbständigen sich allmählich die Gerüchte um sie immer mehr und eine Kaskade von fatalen Verwicklungen nimmt unaufhaltsam seinen Lauf. Doch in all dem Irrsinn und der Gewalt gibt es auch Hoffnungsträger wie die Themenfrauen und den Echten Milchmann.

Trotz aller Surrealität erzählt Anna Burns aber auch eine sehr beklemmende, authentische Geschichte über gesellschaftliche Entwicklungen, die auch auf andere Regime oder Bürgerkriegsgebiete übertragbar ist und sogar als Mahnung vor aktuellen Entwicklungen gedeutet werden kann.


FAZIT
Ein unglaublich intensiver, aufrüttelnder Roman über das Leben im Nordirland der 1970er-Jahre, der einen noch länger beschäftigt! Eine sehr anstrengende, herausfordernde aber lesenswerte Lektüre!

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Veröffentlicht am 05.04.2020

Eine großartige deutsch-italienische Familiensaga

Belmonte
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„~ Eine Gärtnerin, die ihre Wurzeln nicht kennt. ~ Ein Skandal, der die Vergangenheit bestimmt. ~ Eine Liebe zu Italien, die niemals endet. ~“
INHALT
Als ihre Großmutter Franca überraschend stirbt, erbt ...

„~ Eine Gärtnerin, die ihre Wurzeln nicht kennt. ~ Ein Skandal, der die Vergangenheit bestimmt. ~ Eine Liebe zu Italien, die niemals endet. ~“
INHALT
Als ihre Großmutter Franca überraschend stirbt, erbt Simona, italienisch-deutsches Gastarbeiterkind in der dritten Generation, deren Elternhaus in den italienischen Marken, von dessen Existenz sie bis dahin nichts wusste. Die junge Landschaftsgärtnerin aus dem Allgäu macht sich auf in das ferne Belmonte, ein verträumtes, mittelalterliches Dorf, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Dort findet sie Aufzeichnungen mit Francas Lebensbeichte und folgt, gegen alle Widerstände, den Spuren ihrer Vorfahren, bis sie am Ende eine erschreckende Wahrheit enthüllt…
(Quelle: Piper Verlag)
MEINE MEINUNG
In ihrem Roman „Belmonte“ erzählt Antonia Riepp, ein Pseudonym der deutschen Bestseller-Autorin Susanne Mischke, eine großartige, bewegende deutsch-italienische Familiengeschichte, die sich über vier Generationen erstreckt. In ihrem berührenden Roman um Heimat, Identität, Freundschaft und Liebe erzählt Riepp die spannende Suche der jungen Protagonistin Simona nach ihren italienischen Wurzeln, bei der sie schließlich einige dunkle wie auch wohlgehütete Familiengeheimnisse aufdeckt, und die für die junge Frau zugleich auch eine Reise zu sich selbst wird.
Angesiedelt ist die Handlung zum einen im idyllischen Allgäu und zum anderen in dem malerischen, fiktiven Ort Belmonte, das in den italienischen Marken, einer wundervollen mittelitalienischen Region zwischen Adria und dem Apennin, liegt.
Die Autorin hat ihre viele Jahrzehnte umspannende Handlung auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt, die einander geschickt abwechseln. So lässt sie die Ereignisse in der Vergangenheit zum einen aus der Perspektive von Simonas Urgroßmutter Teresa und zum anderen von ihrer Oma Franca jeweils in der dritten Person erzählen, während wir die Gegenwart aus Simonas Sicht erleben. Danks des sehr einfühlsamen und zugleich mitreißenden Schreibstils der Autorin hat mich die faszinierende Familiensaga schnell gefangen genommen. Sehr gelungen sind die lebendigen und sehr bildhaften Beschreibungen des beschaulichen Dörfchens, der mediterranen Landschaft und der temperamentvollen Dorfbewohner, so dass man mühelos an Simonas Seite in eine wundervolle andere Welt eintauchen kann. Gekonnt zeichnet die Autorin aber auch ein bewegendes, eindringliches Bild der Lebensbedingungen und beleuchtet dabei die tragischen Schicksale der früheren Generationen – dem mutigen Kampf der Partisanen während des Zweiten Weltkriegs, den einengenden erzkatholischen Moralvorstellungen, der finanziellen Not in der Nachkriegszeit und dem Exodus als Gastarbeiter ins ferne Deutschland.
Die Autorin hat die Rückblicke in die Vergangenheit geschickt mit den Geschehnissen in der Gegenwart verwoben, so dass der Leser immer tiefer in die Geheimnisse der Familie hineingezogen wird. Erst allmählich erhalten wir aufschlussreiche Einblicke in das Leben der Verwandtschaft und einige überraschende Hintergründe zur Francas bewegter Vergangenheit werden gelüftet, wodurch die Spannung immer mehr gesteigert wird. So gibt es für uns Leser bis zur schrittweisen Auflösung einiger wohlgehüteter Geheimnisse viel Stoff zum Spekulieren.
Hervorragend gelungen ist der Autorin auch die vielschichtige Zeichnung ihrer vielen oft so unterschiedlichen Charaktere, die sehr authentisch und lebendig wirken, und deren Schicksale mich sehr berührt haben.

FAZIT
Eine eindrucksvoll erzählte, bewegende Familiengeschichte mit viel Zeit- und Lokalkolorit, die mich von der ersten bis zur letzten Seite fesseln konnte.
Ein sehr lesenswerter und unterhaltsamer Roman!

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Veröffentlicht am 05.04.2020

Eindrucksvoller Kriminalroman über den "Werwolf von Hannover"

Haarmann
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INHALT

Im Hannover der 1920er-Jahre verschwinden Jungs, einer nach dem anderen, spurlos. Steckt ein bestialischer Massenmörder dahinter? Für Robert Lahnstein, Ermittler im Fall Haarmann, wird aus den ...

INHALT

Im Hannover der 1920er-Jahre verschwinden Jungs, einer nach dem anderen, spurlos. Steckt ein bestialischer Massenmörder dahinter? Für Robert Lahnstein, Ermittler im Fall Haarmann, wird aus den Gerüchten bald schreckliche Gewissheit: Das Deutschland der Zwischenkriegszeit, selbst von allen guten Geistern verlassen, hat es mit einem Psychopathen zu tun. Lahnstein, der alles dafür gäbe, dass der Albtraum aufhört, weiß bald nicht mehr, was ihm mehr zu schaffen macht: das Schicksal der Vermissten; das Katz-und-Maus-Spiel mit dem mutmaßlichen Täter; die dubiosen Machenschaften seiner Kollegen bei der Polizei; oder eine Gesellschaft, die nicht mehr daran glaubt, dass die junge Weimarer Republik sie vor dem Verbrechen schützen kann.

(Quelle: Penguin Verlag)


MEINE MEINUNG

In seinem zeitgeschichtlichen Kriminalroman „Haarmann“ greift der deutsche Autor und Zeit- und Spiegel-Reporter Dirk Kurbjuweit einen der spektakulärsten und brutalsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte auf. Fesselnd, eindringlich und äußerst vielschichtig erzählt er über den Fall um den legendären Serienmörder Fritz Haarmann in den 1920er Jahren, der später auch als „Werwolf von Hannover“, der „Kannibale“ oder als „Totmacher“ in die Geschichte einging.

Gekonnt nimmt uns der Autor mit auf eine faszinierende, beklemmende und verstörende Zeitreise. Doch nicht in die wilden, glamourösen Goldenen Zwanziger lässt uns Kurbjuweit eintauchen, sondern die dunkle Seite dieser bewegten und krisengeschüttelten Zeit nach dem ersten Weltkrieg führt er uns vor Augen. Kurbjuweit zeichnet ein facettenreiches Bild jener brisanten und politisch hochkomplexen Epoche und veranschaulicht dabei auch die äußerst labile Demokratie der jungen Weimarer Republik, die sich gegen radikale Strömungen zur Wehr setzen musste. Eingebettet in die fesselnde Ermittlungsarbeit erleben wir in zahlreichen anschaulichen Episoden die Not der Bevölkerung, die ums Überleben kämpft, die Traumata der Kriegsheimkehrer, die um sich greifende moralische Verrohung und die weit verbreitete Prostitution.

Im Mittelpunkt des Romans steht der Ermittler Robert Lahnstein, der frisch nach Hannover versetzt mit der Aufklärung der Vermisstenfälle von zahlreichen jungen Männern betraut wird. Die Befragungen der Eltern ergeben keinerlei Anhaltspunkte für das spurlose Verschwinden der Jungen, doch Leichen tauchen nicht auf. Während die Ermittlungen auf der Stelle treten und Lahnstein die Hände gebunden sind, mehren sich die Vermisstenfälle. Zunehmend setzen Eltern, Presse und die aufgewiegelte Bevölkerung den verantwortlichen Kriminalkommissar unter Druck, der schließlich Sabotage seiner Untersuchungen aus eigenen Reihen und Vertuschung vermutet.

FAZIT

Ein fesselnder, vielschichtiger Kriminalroman mit einem facettenreichen Gesellschaftsporträt der frühen Weimarer Republik und verstörenden Einblicken in die Abgründe eines Serienmörders.

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