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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.11.2025

Ein Buch jenseits der Sprachlosigkeit

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„Ich lernte früh, das ich schweigen musste, sobald wir die serbische Grenze erreichten. Deine Muttersprache konnte dich in Gefahr bringen, wenn du sie am falschen Ort sprachst.“ (S. 10)

Die Erzählerin ...

„Ich lernte früh, das ich schweigen musste, sobald wir die serbische Grenze erreichten. Deine Muttersprache konnte dich in Gefahr bringen, wenn du sie am falschen Ort sprachst.“ (S. 10)

Die Erzählerin lernt als Kind von Kosovo Geflüchteten recht früh, Ihre Sprache und damit auch ihre Identität zu verstecken. Sinnbildlich dafür steht der Buchstabe „ë“, ein Buchstabe der in der albanischen Sprache eine wichtige Rolle spielt, obwohl er meistens gar nicht ausgesprochen wird.
Die Erzählerin wächst in Deutschland auf und versucht, von Kindergarten über Schule bis zur Universität, verstanden zu werden. Dabei wird sie immer wieder konfrontiert mit Vorurteilen, Unwissen und Gleichgültigkeit.

Den Kosovokrieg, der Ende der 1990er Jahre ausbricht, erlebt sie zwar nur aus der Ferne mit, jedoch sind Krieg und Tod fortwährend präsent in ihrer Umgebung. Ihr Großvater ist im Kosovokrieg gestorben, man hat ihn jedoch nie gefunden. Nur die Umstände, unter denen er gestorben ist, sind bekannt.
„Aber wie soll ein Grab aussehen, das kein Grab ist? Ein Grab als ein Symbol. Es soll die Leerstelle verdecken und hebt sie noch stärker hervor.“ (S. 43)
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Der Roman widmet sich einem Kapitel europäischer Geschichte, das in Deutschland kaum Beachtung fand. Er erinnert an das Leid unzähliger Familien, die ihre Heimat verloren haben und die noch immer auf der Suche nach verschwundenen Angehörigen sind.

„Das Wort „verschwunden“ umschreibt nur, das die Leiche bisher noch nicht gefunden wurde. Erst später lernte ich: Die Hoffnung besteht nicht darin, dass sie wiederkehren, sondern darin, eine Nachricht über ihr Schicksal zu bekommen.“ (S. 44)
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Auf gerade einmal 176 Seiten trifft Jehona Kicaj immer den richtigen Ton und hat eine Erzählung geschaffen, die mir im Gedächtnis bleiben wird. Am meisten beeindruckt hat mich dabei ihre Wortwahl. Dieses Buch ist alles andere als sprachlos, dafür hat es mich ein Stück weit sprachlos gemacht. Als der Kosovokrieg anfing, war ich selbst erst zehn Jahre alt und ich wusste bisher absolut nichts darüber. Daher danke ich Jehona Kicaj dafür, das sie ihre Geschichte mit mir geteilt hat.

Ein Buch, das meiner Meinung nach zurecht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2025 stand und eine Empfehlung für alle, die gern mal über den Tellerrand hinausschauen!

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Veröffentlicht am 24.10.2025

Ein Haus und viele Leben

Treppe aus Papier
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„Uns freut jedes mitgebrachte Land, jede bewanderte Erinnerung und jede neue Sprache, denn auch nur ein kurzes Bewohnen erweitert unsere Welt um kostbare Facetten.“ (S. 25)

Ach würde doch die ganze Welt ...

„Uns freut jedes mitgebrachte Land, jede bewanderte Erinnerung und jede neue Sprache, denn auch nur ein kurzes Bewohnen erweitert unsere Welt um kostbare Facetten.“ (S. 25)

Ach würde doch die ganze Welt so denken wie das alte Haus in diesem wunderbaren Buch! Die Welt wäre um vieles besser, schöner, toleranter und offener!
Henrik Szántó hat eine ungewöhnliche Erzählperspektive gewählt, um die Geschichten seiner Bewohner und Bewohnerinnen zu erzählen.

Durch den Keller, das Treppenhaus, die Wohnungen bis auf den Dachboden begleite ich die 90-jährige Irma, die fast ihr ganzes Leben in dem Haus wohnt. Als Kind litt sie unter der strengen Hand ihrer nazitreuen Eltern, bis heute wird sie von Fragen hinsichtlich ihrer Rolle in der damaligen Zeit geplagt. Einzig die Teenagerin Nele aus dem obersten Stock lockt sie ein wenig aus ihrem Schneckenhaus, als sie mit vielen offenen Fragen wegen ihrer Geschichtsklausur vor der Tür der Nachbarin steht.

„Der erste Atemzug in einem über Jahre verschlossenen Raum ist nicht angenehm. Darunter bebt der Staub. Eine Schicht freizulegen bedeutet, eine Wunde zu reißen, […]“ (S. 99)

Beide hinterfragen immer mehr die Vergangenheit und Nele beginnt zu begreifen, dass „die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern nur wenige Stufen entfernt.“ (Klappentext)
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Das Buch habe ich in einem Rutsch durchgelesen. Ich mochte alles daran! Die Erzählperspektive, die Hausbewohner*innen, die verwobenen Erzählstränge, den Schreibstil von Henrik Szántó und die ganze Idee hinter dem Roman. Wer bzw. was könnte die Geschichte besser erzählen, als das Haus, in dem all die glücklichen und tragischen Ereignisse stattgefunden haben, wo man in all die menschlichen Abgründe aber auch in die offenen Herzen blicken kann.
Ziemlich am Anfang des Buches geht Nele mit ihrem Hund raus und passiert im Treppenhaus die Geister der Vergangenheit, ohne es natürlich mitzubekommen. Dieses Bild hat mir besonders gut gefallen.
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„Eine Prise Widerstand formt den Charakter, zu viel verformt.“ (S. 110)

„Treppe aus Papier“ ist ein Zeitzeugnis. Ein Buch gegen das Vergessen und für mehr Toleranz und Verständnis. Ein Buch, das die richtigen Fragen und infrage stellt und das man unbedingt gelesen haben sollte!

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Veröffentlicht am 21.10.2025

Zauberhafter Roadtrip mit viel Herz!

All das Blaue vom Himmel
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Émile hat eine niederschmetternde Diagnose erhalten. Die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, möchte er nicht eingesperrt in einem Krankenhaus verbringen. Seine Familie soll ihn im Gedächtnis behalten, ...

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Émile hat eine niederschmetternde Diagnose erhalten. Die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, möchte er nicht eingesperrt in einem Krankenhaus verbringen. Seine Familie soll ihn im Gedächtnis behalten, wie er ist. Deswegen kauft er sich kurzentschlossen einen alten Caravan und gibt eine Kleinanzeige auf, um eine Reisebegleitung zu finden.
So kommt es also, dass er Joanne an einer Autobahnraststätte aufgabelt und mit ihr auf einen besonderen Roadtrip geht. Sie ist in Émiles Augen die perfekte Reisebegleitung, denn sie spricht nicht viel und mag die Natur genauso gern wie er. Doch auch Joanne hat ihr Päckchen zu tragen und je länger die Reise durch wunderschöne Landschaften dauert, desto mehr lernen sich beide kennen und schätzen…
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Was war das bitte für ein wundervolles Buch?
Obwohl das Schicksal von Émile direkt von Anfang an klar ist, habe ich ihn und Joanne so gern auf diese Reise begleitet. Mélissa Da Costa hat mit den beiden zwei so wundervolle und vielschichtige Charaktere erschaffen! Von Seite zu Seite war ihre Entwicklung zu lesen und ich habe immer mehr mit beiden gefühlt. Émiles Aussetzer, die er aufgrund seiner Krankheit immer wieder bekommt, haben mir dabei fast körperlich weh getan, vor allem wenn ich mir dann wieder überlegt habe, was Joanne wohl zum Zeitpunkt eines Anfalls durchgemacht haben muss. Doch auch Joannes Schicksal hat mich einige Male sehr schlucken lassen. Das ging mir alles doch sehr nah… 😢

Sehr gefallen hat mir auch, dass Joanne zwischendurch oft schlaue Sachen sagt. Sie ist sehr belesen und zitiert immer wieder die Wörter von berühmten Schriftsteller*innen. Der Roman ist ein reiner Zitate-Schatz!

Zauberhaft sind auch die Nebencharaktere, denen wir begegnen. Sie sind bis ins letzte Detail stimmig und die wunderschönen Naturbeschreibungen der Pyrenäen und der kleinen Dörfer haben ihr Übriges getan, um mich voll und ganz gefangen zu nehmen.
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Letztendlich ist dieses Buch ein einzigartiger Roadtrip auf der Straße zu sich selbst. Denn wie Marcel Proust einst sagte: „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“ (S. 148)

Für mich ein absolutes Highlight, das definitiv auf die Liste mit meinen Lieblingsbüchern wandert! Die 752 Seiten habe ich wie nix weggelesen und ich empfehle diese teils traurige aber so wundervolle Geschichte wirklich gern weiter! Packt Euch Taschentücher an die Seite und schon kann es losgehen!

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Veröffentlicht am 06.10.2025

Women support Women!

Die Frau der Stunde
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Dr. Catharina Cornelius bewegt sich in einem Haifischbecken. Sie ist Außenpolitikerin im Bonn der späten 70er Jahre und muss sich gegen die patriarchal auftretende Altherrenrunde beißen. Auch innerhalb ...

Dr. Catharina Cornelius bewegt sich in einem Haifischbecken. Sie ist Außenpolitikerin im Bonn der späten 70er Jahre und muss sich gegen die patriarchal auftretende Altherrenrunde beißen. Auch innerhalb ihrer liberalen Fraktion ist sie vor Anfeindungen nicht sicher, erst recht als sie überraschend zur Außenministerin und Vizekanzlerin ernannt wird. Keine Frage, dass die männlichen Kollegen erst einmal Schnappatmung bekommen. Selbstverständlich spart auch die Opposition nicht mit Spitzen und tut alles dafür, um die clevere Politikerin zu diskreditieren. Vor Presse und Öffentlichkeit gilt es zusätzlich, einen kühlen Kopf zu bewähren. Wird sich die kluge, selbstbewusste Dr. Cornelius gegen alle Widrigkeiten behaupten können, wo nun auch noch die außenpolitische Lage durch den kalten Krieg und die undurchsichtige Lage im Iran zu eskalieren droht?
💼
Was ich an diesem Buch besonders mag, sind die starken Frauenfiguren. Neben der charismatischen Catharina Cornelius gibt es noch eine Hand voll Politikerinnen, die zusammen eine starke Clique gegen die „alten weißen Männer“ bilden. Klasse fand ich auch die drei Vorzimmerdamen der Außenministerin, die bringen auch gehörigen Schwung in die Runde. Spannend fand ich den Blick hinter die politischen Kulissen und das Ränkespiel um politische Anerkennung, das Taktieren und Paktieren und die geheimen Absprachen. Ich gehe mal stark davon aus, dass das recht realistisch recherchiert und geschrieben ist, was eigentlich schon wieder erschreckend ist. Denn wenn nur ein Bruchteil der angedeuteten Klüngeleien korrekt dargestellt ist, dann geht es den meisten Politiker:innen lediglich um das eigene Ego. Keine neue Erkenntnis, aber so schwarz auf weiß wird es einem erst noch einmal so richtig bewusst.
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Schade, dass die erste deutsche Außenministerin in der Realität erst sehr viel später am Zug war als im Buch. Trotzdem konnte ich manchen Pseudonymen im Buch ein paar reale Persönlichkeiten zuordnen, so z.B. die – wie ich meine und hoffe mich nicht zu irren – erste deutsche Bundestagspräsidentin Annemarie Renger.

Der Roman ist ein hintergründiges Porträt über die „Frau der Stunde“, dass in meinen Augen sehr realistisch geschildert und interessant geschrieben ist. Wer sich für die weiblichen Perspektiven generell und in der Politik im Speziellen interessiert, ist bei diesem Buch gut aufgehoben. Und ich kann es nur immer wieder betonen: Women support women!

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Veröffentlicht am 15.09.2025

Psychologische Zwischentöne und Zwischenmenschliches

Schöne Scham
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Die befreundeten Pärchen Katha & Lenny und Christian & Amalia fahren mit ihrer Single-Freundin Ola für ein Wochenende ins Sommerhaus von Kathas Eltern. Was als entspannte Alltagsflucht beginnt, wird zunehmend ...

Die befreundeten Pärchen Katha & Lenny und Christian & Amalia fahren mit ihrer Single-Freundin Ola für ein Wochenende ins Sommerhaus von Kathas Eltern. Was als entspannte Alltagsflucht beginnt, wird zunehmend explosiver. Ola, generell sehr weltoffen und feministisch unterwegs, hinterfragt einige Dinge und rührt dabei an bislang Unausgesprochenem, was zu allererst Christian die Contenance verlieren und lässt. Als dann Ola und Amalia verschwunden sind, kochen die Emotionen hoch…
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Diese Geschichte fängt langsam an mit der Schilderung des beginnenden Urlaubs und doch hinterfrage ich als Leserin relativ früh die Beziehungen der einzelnen Charaktere. Das liegt ich vor allem am Schreibstil. Bianca Nawrath lässt alle Protagonistinnen abwechselnd zu Wort kommen. Abwechselnd bekomme ich so einen Eindruck davon, was Amalia, Katha und Ola von den anderen und ihren Beziehungen denken. Anfangs war das etwas gewöhnungsbedürftig, weil ich manchmal nicht mehr so genau wusste, wer hier gerade „denkt“, hatte aber positiven Einfluss auf die Tiefe und Atmosphäre des Geschehens.

„Nichts ist für den Menschen so schwer zu ertragen wie Kontrollverlust, ,weshalb sich sogar die Opfer gern einreden, keine Opfer zu sein, um dafür im Gegenzug das Gefühl von Kontrolle zurückzuerlangen, anstatt einzusehen, dass das Leben, dass Menschen unberechenbar bleiben.“ (S. 167)

Amalia, die sich für Christian total verbiegt und möglichst nichts sagen will, was ihn vielleicht verärgern könnte, hätte ich gern geschüttelt. Christian hingegen, der es meisterhaft versteht zu manipulieren, hätte ich gern umgehend aus dem Sommerhaus geworfen. Ola ging es da vermutlich ähnlich, denn selbstverständlich hat Christian mit ihr ein großes Problem, weil sie genau die Fragen stellt, die er nicht hören will. Katha und Lenny wirken oft wie Zaungäste, die zwar wissen, dass bei Amalia und Christian irgendwas nicht rund läuft, sich aber nicht einmischen wollen.
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„Schöne Scham“ ist ein Buch der feinen Zwischentöne und glänzt durch seine Spitzfindigkeiten. Die Dialoge sind teilweise messerscharf. Bianca Nawrath lenkt die Aufmerksamkeit auf das Zwischenmenschliche und stellt die richtigen Fragen.
Wie befreit man sich aus einer toxischen Beziehung?
Darf man sich als Außenstehende in eine andere Beziehung einmischen oder soll man es sogar?

Genau diese Zwischentöne machen den Reiz des Romans aus. Ein Buch über Ehrlichkeit in Freundschaften, weibliche Solidarität und (falsche?) Scham. Wer gern psychologisch tiefgehende, feministische Bücher liest, ist bei „Schöne Scham“ gut aufgehoben! Und ich verspreche, das Ihr herausfinden werdet, was es mit dem Cover auf sich hat 😉

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