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Veröffentlicht am 23.04.2019

Formen der Sklaverei

Die Frauen von Salaga
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Die Frauen von Salaga, das sind Aminah und Wurche, die wir beim Erwachsenwerden und dem Entwachsen einer von Männern dominierten Welt im 19. Jahrhundert Westafrikas begleiten. Dabei meint Entwachsen eine ...

Die Frauen von Salaga, das sind Aminah und Wurche, die wir beim Erwachsenwerden und dem Entwachsen einer von Männern dominierten Welt im 19. Jahrhundert Westafrikas begleiten. Dabei meint Entwachsen eine frühe Form der Emanzipation und ist mit unseren heutigen Maßstäben nicht messbar. Aminah und Wurche stammen aus sozialen Schichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Trotzdem hat man als Leser, weil der Klappentext ihre Beziehung zueinander bereits preisgibt, von Beginn an das Gefühl, dass beide gut zueinander passen werden.

Eingebettet ist die Geschichte der beiden Frauen in ein Szenario, in dem der Wettstreit der Kolonialmächte um die besten Landstriche Afrikas bereits in vollem Gange ist. Es werden Kriege gegen die afrikanischen Völker geführt. Deren Chiefs werden von den Weißen hintergangen, finden sich in ihrem Leben nicht mehr wirklich zurecht. Die Hintergrundhandlung wird dabei nicht in epischer Breite erzählt, sondern findet eher in Form von Andeutungen statt.

Mir gefallen beide Charaktere, Aminah und Wurche, weil sie sich nicht einfach in ihre Rolle als Frau fügen, sondern darüber hinaus nach Selbstbestimmung streben. Während dies bei Aminah eher im Stillen, in ihren Gedanken stattfindet, ist das Widerstreben bei Wurche auch nach außen sichtbar. Trotzdem blieb ich ihnen gegenüber auf Distanz und wurde nicht richtig warm mit ihnen. Was mich sonst eher stört, war mir hier jedoch willkommen. Wären mir beide zu sehr ans Herz gewachsen, hätte ich ihr Schicksal, ganz besonders das von Aminah, nicht ertragen können.

Die Lesegeschwindigkeit ist hoch, wenn man nicht aufpasst, liest man den Roman an einem Tag und lässt das Gelesene gar nicht auf sich wirken. Zudem gefällt mir die Erzählweise der Geschichte aus wechselnden Blickwinkeln auf Aminah und Wurche. Etwas gewöhnungsbedürftig waren die recht großen Zeitsprünge und die daraus entstehenden Lücken. Die Landkarte ganz am Anfang habe ich gern zur Orientierung, welche „Stämme“ und Orte gerade beschrieben werden, genutzt. Insgesamt waren die Frauen von Salaga vielleicht nicht unbedingt ein neues Lieblingsbuch für mich, aber empfehlenswert ist es schon aufgrund der historischen und auch kulturellen Einblicke, die es gewährt.

Veröffentlicht am 23.04.2019

Facettenreiche Evolution

Spiel des Lebens
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Wenn wir spontan über den Begriff des „Zähmens“ nachdenken, erinnern wir uns wahrscheinlich an Western-artige Filmsequenzen, wo der Wille eines Pferdes, frei zu sein, durch Zureiten derart verändert wird, ...

Wenn wir spontan über den Begriff des „Zähmens“ nachdenken, erinnern wir uns wahrscheinlich an Western-artige Filmsequenzen, wo der Wille eines Pferdes, frei zu sein, durch Zureiten derart verändert wird, das es akzeptieren kann, beim Menschen zu leben und ihn auf seinem Rücken zu tragen. Vielleicht fallen uns auch noch Hunde als vertraute Gefährten und Nachfahren des Wolfes ein, die wir gern streicheln. Dabei gehört zur Domestikation von Flora und Fauna viel mehr als diese „Halbwahrheiten“. Zudem haben die letzten zehn Jahre durch Genanalysen zu einem erhöhten Erkenntnisgewinn beigetragen, so dass es sich in jedem Fall lohnt, das bruchstückhaft hängengebliebene Schulwissen über die Menschheitsgeschichte, das inzwischen teilweise überholt ist, mit Alice Roberts‘ „Spiel des Lebens“ aufzufrischen.

In einer Auswahl von neun Beispielen, im Einzelnen sind das Hunde, Weizen, Rinder, Mais, Kartoffeln, Hühner, Reis, Pferde und Äpfel, erklärt Alice Roberts deren Entwicklungsstadien im Zusammenwirken mit der Menschheitsgeschichte. Dabei sind die ersten Kapitel stark von der Frage, wer hier wen zähmt, geprägt. Später bekommen Genforschung und eine wohlwollende Diskussion zu genveränderten Erzeugnissen mehr Aufmerksamkeit. Der Leser merkt regelrecht, wie sehr Alice Roberts ihr Fachgebiet liebt. „Spiel des Lebens“ rekapituliert für jede Spezies mehrere Diskussionsstände der Wissenschaft. Alice Roberts fasst die jeweils vorhandenen Indizien aus Archäologie und Geschichte zusammen und entwickelt für den Leser ein Bild im Zeitraffer, wie es sich auch für die Evolutionsforscher aufgetan haben muss. Die grundsätzlich unvollständige Beweislage erzeugt mit jedem entdeckten, neuen Puzzleteil den stufenweise Erkenntnisgewinn, der hier gekonnt nachvollzogen wird. Schließlich wird noch ein Blick auf die Entwicklung des modernen Menschen selbst geworfen.

Die recht anspruchsvolle Thematik ist, ein grundsätzliches Interesse vorausgesetzt, auch für den Laien gut zu verstehen. Jeder Spezies ist ein eigenes in sich abgeschlossenes Kapitel gewidmet. Es beginnt immer mit einer kurzen Geschichte zur Einstimmung, gefolgt von einer wissenschaftlichen Herleitung der potentiellen Entstehungsgeschichte. Damit die zeitliche Einordnung gelingt, werden sämtliche präsentierten Zeiträume von historischen Ereignissen, die zum Teil auch in Wechselwirkung mit der Evolution treten, flankiert.

Hervorzuheben ist Alice Roberts‘ Vorliebe zu berichten. In machen Kapiteln schweift sie regelrecht etwas ab, nimmt den Leser mit auf eine Exkursion. Mir hat gefallen, dass der Leser immer mal wieder ganz persönlich angesprochen wird. So entsteht ein bisschen das Gefühl, als würde man Alice Roberts tatsächlich begleiten.

Am besten fand ich die Kapitel über Pferde und Äpfel, Pferde, weil ich durch medialen Konsum auf Irrwege geraten war, und mit Äpfeln hatte ich mich wohl vorher überhaupt noch nicht beschäftigt. Offensichtlich hatte ich sie als gegeben hingenommen.

Insgesamt habe ich mich hier gern mit einer für mich ungewohnten Materie beschäftigt. Nachdem ich ein paar Längen zum Ende des ersten Drittels überwunden hatte, war es ein Genuss die verschiedenen Spezies in ihrer Entstehung zu begleiten. Ein paar eingestreute Grafiken im Stil der Abbildungen zu Kapitelbeginn mit einer Darstellung der Domestikationszentren und den geographischen Strömungen der Arten wären aus meiner Sicht noch hilfreich gewesen. „Spiel des Lebens“ war für mich ein Türöffner zu einer interessanten Wissenschaft, der ich zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken möchte.

Veröffentlicht am 12.04.2019

Bedrückende Ehrlichkeit einer Mutter

Frau im Dunkeln
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Das Leben einer selbstbestimmten Frau, die zur Mutter wird und dann bis zu ihrem Tod fortwährend Mutter sein wird, ist geprägt durch innere Zerrissenheit, Selbstzweifel, aber auch durch ein Ungerechtigkeitsempfinden, ...

Das Leben einer selbstbestimmten Frau, die zur Mutter wird und dann bis zu ihrem Tod fortwährend Mutter sein wird, ist geprägt durch innere Zerrissenheit, Selbstzweifel, aber auch durch ein Ungerechtigkeitsempfinden, das aus der teilweisen Aufgabe des eigenen Ichs bzw. dem Hintenanstellen eigener Interessen an die Bedürfnisse der Familie resultiert. So geht es auch Leda, die jetzt fast fünfzig ist und deren erwachsene Töchter beim Vater in Kanada leben. Sie ist froh, sich um niemanden mehr kümmern zu müssen. Dennoch hängt der Schatten des Mutterseins noch deutlich über ihr. Statt an der Universität in Florenz zu forschen, statt sich selbst intellektuell weiterzuentwickeln, unterrichtet sie wie schon viele Jahre zuvor Englisch. Den Sommer verbringt Leda in Süditalien am Strand, wo sie ihre neue Freiheit genießen will. Doch beim Beobachten der anderen Strandbesucher, insbesondere einer jungen Mutter mit ihrer Tochter, kommen ihr all die Erinnerungen wieder in den Sinn, die ihr ein schlechtes Gewissen bereiten.

Obwohl Leda sich merkwürdig benimmt und man sie aufgrund ihrer Handlungen und negativen Gedanken gar nicht wirklich mögen dürfte, bin ich ihr ziemlich nahe gekommen. Vielleicht ist es die Ehrlichkeit, die unschöne Seite des Mutterseins preiszugeben, die mir imponiert hat. Ihre Aktion am Strand empfinde ich als „kleine Rache“ an der Folgegeneration. Auch wenn ich Verständnis für ihr Bedürfnis auszubrechen habe, kann ich längst nicht alle Taten gutheißen.

Elena Ferrantes Stil, die Geschichte überwiegend mittels gesprochenem Wort und auf Basis von Ledas Gedanken zu erzählen, hat mir sehr gut gefallen. Lediglich
Prolog und Ende passten für mich nicht so richtig zum Rest des Romans. Meinem Empfinden nach wirkte es etwas aufgesetzt, oder anders ausgedrückt, wenn Prolog und Ende Ledas Gedankenwelt einrahmen soll, dann ist mir persönlich der Rahmen zu schmal. Insbesondere das Ende fällt mit der Tür ins Haus, kommt mir zu plötzlich. Aufgrund des Prologs hatte ich spätestens im letzten Drittel eine deutliche Wendung erwartet.

Trotz der Kritik mochte ich „Frau im Dunkeln“ ganz gern. Mütter, die schon ein Weilchen dabei sind, empfehle ich es gern, Vätern auch. Werdenden Müttern und Frauen, die demnächst Mutter werden wollen, rate ich thematisch davon ab.

Veröffentlicht am 11.04.2019

Witzig – aber wirklich wenig sinnvoll

Das ultimative Anti-Kochbuch - Sinnlos "kochen" mit Wasserkocher, Toaster, Backofen, Mikrowelle und Co.
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Das ultimative Anti-Kochbuch ist fast genau das, was auch sein Marketing behauptet, sinnlos. Aber ganz stimmt das nicht, dem Gerne-Koch und bestimmt noch viel mehr dem Kochmuffel zwingt es ein Lächeln ...

Das ultimative Anti-Kochbuch ist fast genau das, was auch sein Marketing behauptet, sinnlos. Aber ganz stimmt das nicht, dem Gerne-Koch und bestimmt noch viel mehr dem Kochmuffel zwingt es ein Lächeln auf. Das ist dann schon die halbe Miete zur Kochanimation, lieber etwas Sinnloses oder auf den ersten Blick „Ekliges“ – weil viel zu fettig bzw. kalorienhaltig - kochen als gar kein Essen. Auch für den Abbruch einer ungeliebten Diät mittels Fressattacke ist es der perfekte Ratgeber, denn wie kann man schöner aufhören zu hungern als mit Gourmet-Fleischkäse-Cordon-Bleu oder mit Hack-Käse-Auflauf. Ebenfalls auf dem Programm stehen Cocktails und andere Partygetränke, die ich tatsächlich im Sommer beim Grillen mal anbieten werde. Damit der Kochneuling nicht während des Rezeptstudiums auf Fremdwörter stößt, ist den Rezepten eine Vorstellungsrunde wichtiger Küchengeräte und Werkzeuge vorangestellt. Hier ist die Empfehlung des Einbaus von zwei Geschirrspülern mein persönlicher Favorit.

Sicherlich ist dieses Kochbuch nichts für Jedermann. Es ist teilweise lustig und teilweise richtig „doof“. Ein ganz schlimmes Beispiel: Wer kocht Reis im Wasserkocher, weil er keinen Topf abwaschen will? Jemand, der gern Tee und Kaffee mit Reisgeschmack mag, oder der lieber einen Wasserkocher per Hand reinigt, anstatt Töpfe in den Geschirrspüler zu räumen? Das darf man nicht so eng sehen. Die Nährwertangaben haben mir nur am Anfang gefallen, später mochte ich sie nicht mehr ganz so gern.

Fazit: Wer seinen Sohn zum Auszug etwas schenken will, ist hier richtig. Wer einen Kochmuffel anschubsen will, auch. Wer richtig kochen lernen will, sollte sich vielleicht auf ernsthaftere Kochbücher stützen.

Veröffentlicht am 10.04.2019

Der Titel ist Programm

Was uns erinnern lässt
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Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der ...

Kati Nauman verbindet in ihrem Roman geschickt die moderne, vernetzte Welt von heute mit einem herrlichen Stückchen Erde, das mitsamt der dort lebenden Familie im Verlauf der DDR-Geschichte vom Rest der Welt abgeschnitten wurde – abgeschnitten von der Telefonleitung, von der Postzustellung, sowie von der medizinischen Notversorgung. Dieser scheinbare Widerspruch bildet das Verbindungselement zwischen zwei Handlungssträngen, die die Geschichte des Hotels Waldeshöh von den 1950er bis in die 1970er Jahre einmal live und einmal rückblickend begleiten.

Die Moderne wird durch die junge Milla vertreten, deren Leben von einer gewissen Trostlosigkeit geprägt zu sein scheint. Als Alleinerziehende entgleitet ihr der langsam erwachsenwerdende Sohn Neo, der bisher ihr Leben bestimmt hat. Ihr Brotjob in einer Anwaltskanzlei ist auch nicht gerade erfüllend. Begeistern kann sie sich für Lost Places, Orte, die vor vielen Jahren verlassen wurden und wie eine Zeitkapsel das vergangene Leben in Form von zurückgelassenen Gegenständen konserviert haben. Das Spekulieren über die kleinen Geheimnisse der ehemaligen Bewohner befriedigt Sensationsgelüste und voyeuristische Bedürfnisse. Millas größter Traum ist die Entdeckung eines solchen Lost Place, und zwar als erste. So ist sie in 2017 im Thüringer Wald abseits der Wanderwege unterwegs und findet einen überwucherten Keller.

Die Vergangenheit verkörpert Christine Dressel, die im Hotel Waldeshöh aufgewachsen ist. Sie hat den Ausbau der innerdeutschen Grenze miterlebt, am eigenen Leib viel intensiver als die meisten DDR-Bürger erfahren, welche Bedeutung und Auswirkungen diese Grenze für die einfachen Leute hatte.

Ich konnte mich mit beiden Protagonistinnen identifizieren, die Nöte und Sorgen beider gut nachvollziehen, Millas Hin- und Hergerissenheit bezüglich der Sinnhaftigkeit ihrer Freizeitaktivitäten sind mir ebenso ein Begriff wie die Heimatverbundenheit von Christine. Selbst Andreas, Christines Bruder, der im Roman unnahbar und ein wenig grummelig erscheint, konnte ich gut verstehen. Diese Reserviertheit gegenüber Unbekanntem, nicht nur Menschen, sondern auch „neumodischem Schnickschnack“, ist, so glaube ich, ein typisches Verhalten für diese Generation. Ich mochte Andreas sehr, und zwar mitsamt seines Schäferhundes Lux, der genauso tickt wie er.

Für mich war „Was uns erinnern lässt“ genau das, was der Titel aussagt, ein Anschub, mich zu erinnern: an meine eigene Kindheit im Sperrgebiet, an einen Kindergeburtstag im 500 Meter Schutzstreifen, an den vorgezeigten Pionierausweis, um den Schlagbaum zu passieren. Es war eine Erinnerung an die Angepasstheit der Menschen in der DDR, an den Ärger, den ich bekam, weil ich draußen beim Spielen „Like A Virgin“ von Madonna vermutlich falsch, aber erkennbar sang. Das hatte ich schon fast vergessen. Die Darstellung war für mich durchweg glaubwürdig, nichts schien mir übertrieben. Ich bin dankbar für diesen Roman. Sehr gern empfehle ich ihn allen Wissenden und erst recht allen "Unwissenden", die wo anders aufgewachsen oder später geboren sind, weiter.