Profilbild von dj79

dj79

Lesejury Star
offline

dj79 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dj79 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.05.2021

Liebesgeschichte zwischen den Kulturen

Laudatio auf eine kaukasische Kuh
0

Olga, Tochter georgischer Migranten, ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Ihren aktuellen Freund, Felix, ebenfalls Arzt, würde sie sogar heiraten, doch weiß sie noch nicht, wann und wie sie ihn ihren, ...

Olga, Tochter georgischer Migranten, ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Ihren aktuellen Freund, Felix, ebenfalls Arzt, würde sie sogar heiraten, doch weiß sie noch nicht, wann und wie sie ihn ihren, an Tradition festhängenden Eltern vorstellen soll. In diesem Szenario taucht plötzlich Jack auf, der Olga am Bahnhof sieht und sich auf den ersten Blick verliebt.

So entsteht sehr schnell eine etwas vorhersehbare Dreiecksbeziehung, die einerseits an Herzkino erinnert, andererseits an Motti Wolkenbruch mit vertauschten Geschlechterrollen. Der Mehrwert der Geschichte liegt für mich auch nicht in der amüsanten Liebesgeschichte, sondern eher in Olga‘s Familiensituation, der sie sich eigentlich mit ihrem mitteleuropäischen Leben entziehen will, der sie aber gleichzeitig vollkommen erlegen ist.

Es hat mir Spaß gemacht, die traditionellen georgischen Regeln für die Partnersuche kennen zu lernen oder besser gesagt die Regeln dort lebender, orthodoxer, griechischstämmiger Christen. Die Vielfalt der in Georgien Lebenden in Bezug auf originäre Herkunft, Glaube und Sprache ist wirklich beeindruckend. Interessant waren für mich auch die unterschiedlichen Blickwinkel auf die Sowjets und deren Nachfolger, dazu: wie wenig eigentlich notwendig ist, um mit kritisch betrachteten Bevölkerungsgruppen einen besonderen gemeinsamen Moment zu haben. Gut herausgearbeitet fand ich zudem die verschiedene Auslegung und den Umgang mit den ebendiesen Regeln ausgewanderten Georgier und Georgier in Georgien.

Mein liebster Charakter war Jack, obwohl ich solche Taschentrickspieler eigentlich gar nicht mag. Seine Energie, ein gesetztes Ziel zu erreichen, hat mich begeistert. Sicherlich hat er anfangs fernab aller Regularien unsauber und betrügerisch agiert, allerdings stets mit guter Absicht. Schließlich wollte er nur das Beste für Olga, verhindern, dass sie einen schlimmen Fehler begeht. Als er dann seine Chance bekam, hatte er plötzlich Zweifel, ob das wirklich berechtigt ist. Diese zwei Seiten hatten es mir angetan.

Vom Stil her ist die Laudatio eine Geradeausgeschichte mit angenehm lesbarer Schreibe, inhaltlich interessant, aber nicht zu komplex, in lange Kapitel gegliedert, aus meiner Sicht somit perfekt als Urlaubslektüre geeignet. Ich mochte den Roman sehr und empfehle ihn gern weiter.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.05.2021

Back to the 80ies

Hard Land
0

Benedict Wells nimmt uns mit auf eine Reise zurück in die 80er Jahre in die Provinz von Missouri. Grady ist die für das Setting gewählte Kleinstadt, die auszusterben droht, weil die Fabrik vor Jahren geschlossen ...

Benedict Wells nimmt uns mit auf eine Reise zurück in die 80er Jahre in die Provinz von Missouri. Grady ist die für das Setting gewählte Kleinstadt, die auszusterben droht, weil die Fabrik vor Jahren geschlossen wurde, die Jungend folglich nach der Schule abwandert. Hier begleiten wir Samuel „Sam“ Turner, einen etwas seltsam wirkenden, ängstlichen Typen, beim Erwachsenwerden. Gleich im ersten Satz, „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb“, wird das Grundgerüst der Handlung offenbart.

Trotzdem lohnt sich die Lektüre, insbesondere für Liebhaber der Achtziger Jahre. Gemeinsam mit dem Ich-Erzähler, Sam, durchlebte ich erneut die Kinosituationen meiner Jugend. Ich fand es ganz wunderbar, den ein oder anderen Gedanken meinen jugendlichen Helden von damals, wie beispielsweise Marty McFly, zu widmen. Wie gern hätte ich ebenfalls eine amerikanische Highschool (wie im Film) besucht und mich auf Parties bei Freunden mit verreisten Eltern herumgetrieben. Der Autor transportiert durch seine Figuren sehr authentisch das Feeling dieser Zeit.

Neben Sam, der die Geschichte erzählt, gibt es noch drei weitere tragende Figuren, Kirstie, Cameron und Hightower. Kirstie ist draufgängerisch, aber auch geheimnisvoll, in jedem Fall unangepasst. Cameron stammt aus gutem Hause, soll die vom Vater vorgedachte Karriere einschlagen. Hightower ist der Sportler in der Runde. So dürften alle Leser:innen ihren Lieblingscharakter ausmachen können. Ich mochte neben Sam den eher stillen Hightower am meisten. Ich mag körperlich starke Typen, die, so wie er, auch zu ihren Gefühlen und Ängsten stehen können. Darüber hinaus fällt bei Anlage der Figuren ein Bemühen zur Berücksichtigung von Diversity und Genderverteilung auf.

Durch die Verbindung der Coming of Age Story mit ausgewählten Filmsequenzen und passenden Musiktiteln entsteht ein gefälliger Erinnerungsroman. Die Entwicklung des Romans war für mich schon aufgrund des ersten Satzes, aber auch in der Folge vorhersehbar. Dennoch bin ich insgesamt sehr zufrieden mit dem Roman. Die Wells‘sche Sprache ist mitreißend, lässt so schöne Zitate, wie auf Seite 111 entstehen: „Das liebe ich so an der Nacht“[…] „Es ist wie das Negativ des Tages, alles ist umgedreht. Die einen, die laut sind, werden leiser, und die, die tagsüber schweigen, hört man plötzlich.“ Die dramenhafte Aufteilung hat mir gefallen, auch die zweite Ebene des Romans, wo es um die literarische Besprechung eines Gedichtbands geht. Ich mag es sehr gern, wenn Literatur in Literatur auftaucht. Zudem hat Benedict Wells, unterstützt durch seine unzähligen liebevollen Details, meine Gefühlsebene derart intensiv angesprochen, dass mir mehrfach die Tränen gekommen sind.

Gern empfehle ich diesen Roman.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.05.2021

Ein Spiegel für die weiße Gesellschaft

Drei Kameradinnen
0

Der Roman erzählt von den Freundinnen Hani, Kasih und Saya, deren konsequent verschwiegene Herkunft einen immensen Einfluss auf ihr Leben hat. Die Geschichte setzt sich mit den alltäglichen Kommentaren ...

Der Roman erzählt von den Freundinnen Hani, Kasih und Saya, deren konsequent verschwiegene Herkunft einen immensen Einfluss auf ihr Leben hat. Die Geschichte setzt sich mit den alltäglichen Kommentaren auseinander, die die sogenannten „Weißen“ unbedarft oder auch absichtlich den Dreien entgegen schleudern. Shida Bazyar zeigt drei Varianten auf, wie Betroffene dieser mangelnden Sensibilität begegnen. Es geht jedoch nicht „nur“ um Blicke und Sprüche, sondern um die Gesamtheit herabwürdigender Verhaltensweisen, um sämtliche Eskalationsstufen von Gewalt, Hetze und rechtem Terror.

Die Autorin hält der Leserschaft den Spiegel vor, lässt einen eigenes Handeln überdenken. Dafür lässt Shida Bazyar ihre Figur Kasih als Erzählerin von Ihrer Kindheit berichten, von dem Leben in der Siedlung. Kasih lässt uns ganz nebenbei teilhaben an den gemeinsamen Teilerfolgen, dem Weg zum Abitur und durch das Studium. Trotz des hohen Bildungsgrades, den sich die Freundinnen erarbeitet haben, bleibt es schwierig, in der weißen Gesellschaft Fuß zu fassen.

Durch ihre direkte Art, mit der Kasih uns persönlich anspricht, war ich ihr gleichzeitig nah und auch fremd. Nah, weil vermutlich alle „Anklagepunkte“ korrekt sind, manches habe selbst in ähnlicher Form erlebt. Fremd, weil ich mich zwangsläufig auch als Täter, mindestens aber schweigender Beobachter erkennen musste. Auch wenn diese Wahrheit weh tut, ich manchmal aufgrund der Penetranz im Vortrag innerlich aufstöhnen musste, mochte ich die sprachliche Technik mit viel Ausdauer. Das hatte etwas Erfrischendes, als hätte ich Kasih auf einer Party getroffen und sie hätte erzählt.

So entwickelt sich die Geschichte von der Kindheit der Freundinnen Hani, Kasih und Saya hin zum Hier und Jetzt. Ich hätte mir gewünscht, dass der Höhepunkt der Geschichte etwas früher erreicht worden wäre. Damit hätte es aus meiner Sicht zum Schluss mehr Möglichkeiten für Klarheit gegeben. Der Ausgang der Geschichte hat mich zugegebenermaßen überfordert. Thesen, denen ich im gesamten Verlauf hundertprozentig folgen konnte, wurden erschüttert. Ich kam mir irgendwie vorgeführt vor. So ging für mich auf den letzten paar Seiten Glaubwürdigkeit verloren. Trotzdem empfinde ich diesen Roman als wichtige Unterstützung in der Selbstreflexion.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.04.2021

Bitteres Ausreißerinnen-Leben

Mado
0

Der Roman beginnt mit Mado Kaaris‘ Flucht vor der eigenen Gewalttat an ihrem Partner. Er ist ein ehemaliger Boxer, ekelt sie inzwischen an, will sie aus Eifersucht einsperren. Um sich selbst zu befreien, ...

Der Roman beginnt mit Mado Kaaris‘ Flucht vor der eigenen Gewalttat an ihrem Partner. Er ist ein ehemaliger Boxer, ekelt sie inzwischen an, will sie aus Eifersucht einsperren. Um sich selbst zu befreien, hat sie ihn einfach erschlagen. Danach treibt es Mado zur Familie in die Bretagne, die sie nicht gerade liebevoll empfängt. Der Mord ist zudem nicht ihr einziges Problem. Alkohol und Drogen sind Mado‘s ständige Begleiter. Finanzielle Nöte, schlüpfrige Kontakte sind die Folge.

Wolfgang Franßen erzählt die bittere Geschichte einer jungen Frau, die quasi in einer Kneipe aufgewachsen ist, die mit den anzüglichen Gepflogenheiten der Trinker erwachsen werden musste. Ihre Partner und Begleiter sind fast zwangsläufig dem Alkohol zugewandt. Mado selbst kann dem Milieu offensichtlich ebenfalls nicht entkommen. Obwohl sie stets nach kurzer Zeit ihre Zelte abbricht, ihr jeweils aktuelles Leben aufgibt und weiterzieht, gelangt sie schon bald in den nächsten Strudel Richtung Abgrund.

Der Autor thematisiert einen Lebensverlauf, der in ähnlicher Form wahrscheinlich gar nicht so selten ist, allerdings in der Literatur meist ausgespart bleibt. Die Begründung scheint auf der Hand zu liegen. Es ist kein Vergnügen, dieses Buch, von diesem Leben, zu lesen. Für Mado und die anderen Frauen in ihrer Familie gibt es keine Hoffnung auf Verbesserung, nicht ein positives Kapitel in diesem Roman. So bleiben mir Mado und die anderen Charaktere fremd. Ich bleibe auf Distanz zu ihnen, finde sie sogar mehr oder weniger abstoßend. Mado selbst widert mich an.

Der zur depressiven Stimmung im Roman passende Schreibstil verstärkt die negative Atmosphäre noch. Die Sprache ist von kurzen Sätzen geprägt, wenig ausgeschmückt. Zitatejäger werden hier nicht auf ihre Kosten kommen. In der ersten Hälfte erscheint der Roman dadurch langatmig. Die kurzen Kapitel halfen, immer wieder inne zu halten, um das Gelesene zu verdauen.

Auch wenn das Lesen für mich kein Spaß war, weil auch ich natürlich viel lieber über schöne Dinge lese, finde ich diesen Roman wichtig. Das Leben verläuft leider nicht für jeden gleich. Viele haben es schwerer als man selbst. Der Roman erinnert mich daran, dankbar zu sein, für meine Familie und meine eigenen Möglichkeiten im Leben.

Insgesamt möchte ich eine eingeschränkte Leseempfehlung aussprechen. Wer hauptsächlich Vergnügen sucht, sollte die Finger von „Mado“ lassen. Die Empfehlung gilt jenen, die den Blick ins Abseits wagen möchten und sich tiefergehend mit Abgründen unserer Gesellschaft beschäftigen wollen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.04.2021

Ausgezeichnet überzeichnete Lebenswirklichkeit

Der ehemalige Sohn
0

Im letzten Jahr hatte ich mit Begeisterung „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko gelesen und fieberte nun der deutschen Übersetzung seines eigentlichen Debüts entgegen. Die im Klappentext angekündigte kritische ...

Im letzten Jahr hatte ich mit Begeisterung „Rote Kreuze“ von Sasha Filipenko gelesen und fieberte nun der deutschen Übersetzung seines eigentlichen Debüts entgegen. Die im Klappentext angekündigte kritische Auseinandersetzung mit dem autoritären Regime in Belarus ist dabei verwoben mit dem Schicksal eines Jungen, der nach zehn Jahren aus dem Koma erwacht.

Franzisk Lukitsch besucht in Minsk ein Lyzeum mit musischer Ausrichtung, lernt dort Cello, ist allerdings ein eher fauler, pubertärer Schüler, der immer kurz vor dem Rauswurf steht. Seine Großmutter versucht stets ihn anzutreiben und zu motivieren mit mäßigem Erfolg. Ihre ständige Angst, Franzisk könnte sich die Hände verletzen, erscheint nach der Massenpanik in der Minsker U-Bahn, in deren Folge Zisk ins Koma fällt, geradezu lächerlich. Doch ebendiese Großmutter, Elvira Alexandrowna, ist letztlich die einzige gute Seele, die sich auch im Koma weiterhin um ihn kümmert.

Mit Hilfe von Franzisks Besucher adressiert Sasha Filipenko seine Kritik am Staat. Teilweise kommt diese in den Handlungsweisen der Figuren zum Ausdruck, teilweise lässt er die Protagonisten direkt von den Missständen berichten. So entsteht nach der Einführung in das Geschehen eine unglaublich dichte Story, die für ein Menschenleben überladen erscheint. Mich stört das hier wenig, weil das Überladene zu meinem Gesamteindruck des Romans passt. Die lakonische, sarkastisch angehauchte Sprache überzeichnet viele Situationen. Dadurch wird das Hoffnungslose und die Machtlosigkeit gegenüber dem Regime noch deutlicher.

Man merkt aber auch, dass der vorliegende Roman das Erstlingswerk ist. Den ein oder anderen Übergang hätte ich mir etwas geschmeidiger oder besser erklärt gewünscht. Das war bei „Rote Kreuze“ aus meiner Sicht besser gelungen. Was mir hier ebenso gut gefällt, sind die passend eingestreuten Auszüge aus Gedichten. Dadurch wird eine schöne literarische Wirkung erzielt.

Trotz leichter Abstriche im direkten Vergleich zu „Rote Kreuze“ vergebe ich Bestnoten, da auch dieser Roman für mich ein uneingeschränktes Lesevergnügen war. Mit Witz und Charme wurde ein ernstes, eigentlich unerträgliches Thema behandelt, so dass ich nun auf noch ganz viele Leser*innen dieses Romans hoffe.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere