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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 25.08.2020

Emotionen eines Genies

Der letzte Satz
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Gustav Mahler ist ein musikalischer Nerd seiner Zeit. Er geht komplett auf in seiner Arbeit, lebt sein Talent aus, ist jedoch in seiner Sozialkompetenz spürbar eingeschränkt. Das Lesen des neuen Seethalers ...

Gustav Mahler ist ein musikalischer Nerd seiner Zeit. Er geht komplett auf in seiner Arbeit, lebt sein Talent aus, ist jedoch in seiner Sozialkompetenz spürbar eingeschränkt. Das Lesen des neuen Seethalers lässt einen den kauzigen Ausnahmekünstler dennoch in sein Herz schließen.

Wir lernen den schon kranken Gustav Mahler auf seiner Überfahrt von New York nach Europa kennen. Fiebrig sitzt er an Deck bei Tee und sinnt über sein Leben. Robert Seethaler führt dabei sehr schön zwischen der Atlantiküberfahrt und Mahler’s Erinnerungen hin und her. Seine Gedanken widmet Mahler seiner Familie, allen voran seiner Frau Alma, und seinem Lebenswerk. So kehrt er sukzessive an die wichtigen Stationen seines Lebens zurück.

Seethaler lenkt das Augenmerk auf die sensible Seite des Künstlers, der nicht nur alle anderen, sondern auch oder gerade sich selbst fortwährend kritisch betrachtet. Da er seine Ausführungen mit ganz feiner, perfekt pointierter Sprache unterstützt, konnte ich beim Lesen beinahe selbst den emotionalen Schmerz des Ausnahmetalents fühlen. Trotz der eher bedrückenden Grundstimmung hat mich das Gelesene nicht runtergezogen, weil mich Seethaler‘s Sprachniveau einfach nur fasziniert hat.

Wenn ich die Lektüre Revue passieren lasse, finde ich zudem das Cover perfekt gewählt. Der zurück blickende Mann an der Reling, dieser blaß kränkliche Touch des Bildes insgesamt, verkörpert für mich die emotionalste Szene des Romans.

Insgesamt bin ich begeistert von Seethaler‘s Roman. Nicht nur das Lesevergnügen trägt zu diesem Urteil bei, sondern auch die bewusste Verknüpfung zu weiteren zeitgenössischen Berühmtheiten. Diese sind mir zwar grob mit Lebensdaten bereits bekannt gewesen, der direkte zeitliche und örtliche Zusammenhang war mir allerdings nicht präsent. Den Roman empfehle ich gern weiter. Wenn man Gustav Mahler noch gar nicht kennt, ist es vielleicht hilfreich, sich grob vorab über ihn zu informieren.

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Wahnsinnig oder denkend

Die Wahnsinnige
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Johanna von Kastilien ist die Protagonistin dieses historischen Romans, der die belegten Fakten ihrer Herkunft, Ehe und Nachkommen geschickt in eine Form bringt, die nicht nur attraktiv zu lesen ist, sondern ...

Johanna von Kastilien ist die Protagonistin dieses historischen Romans, der die belegten Fakten ihrer Herkunft, Ehe und Nachkommen geschickt in eine Form bringt, die nicht nur attraktiv zu lesen ist, sondern auch die besondere Situation der angeblich Wahnsinnigen klar werden lässt.

Johanna war eigentlich nie als Erbin für die Krone vorgesehen, trotzdem überdurchschnittlich gut ausgebildet. Sie sprach mehrere Sprachen, spielte Clavichord, las viel. Sie nutzte ihre Intelligenz für politische und philosophische Gedankenspiele. In ihrem Glauben war Johanna gefestigt. Sie versuchte eine gute Christin zu sein. Nachdem alle in der Thronfolge vor ihr verstorben waren, als Kronprinzessin, wollte sie eine bessere, gnädigere Königin werden. Isabella „der Katholischen“ ging Johanna‘s Ausübung des Glaubens allerdings nicht weit genug. Sie hätte ihn wohl öffentlichkeitswirksam mehr nach außen tragen sollen. Zudem konnte Johanna ihre Gefühle insbesondere bei Konfrontationen nicht verbergen, was ihrem Umfeld missfiel.

Waren es diese, aus heutiger Sicht vernachlässigbaren Schwächen, die ihr den Beinamen einbrachten oder waren diese kleinen Fehler aus machtpolitischen Kalkül aufgebauscht worden? Genau mit dieser Frage setzt sich Alexa Hennig von Lange intensiv auseinander. Dabei konzentriert sie sich zunächst auf die Beziehung zwischen Königin und Kronprinzessin, die wenig von Liebe geprägt zu sein scheint. Nach dem Ableben der Mutter treten Johanna‘s Vater Ferdinand und ihr Ehemann, Philipp „der Schöne“, in den machtpolitischen Vordergrund. Auch dieses Beziehungsgeflecht leuchtet die Autorin genau aus.

Erschreckend dabei empfand ich Johanna‘s Chancenlosigkeit. Als Kronprinzessin und auch später als Königin wird sie von ihrer Familie dermaßen unterdrückt, dass es nie zur Ausübung des Amtes kommt. Die Angst vor sich verändernden Werten und eigene Machtinteressen waren offensichtlich zu groß.

Aus meiner Sicht hat Alexa Hennig von Lange einen hervorragenden Roman geschrieben. Er wirkt ordentlich recherchiert. Der Leser kann ahnen, wie tief sich die Autorin in ihre Protagonistin hineinversetzt hat. Die literarische Aufbereitung der Persönlichkeit von Johanna von Kastilien empfinde ich als überdurchschnittlich. Herausragend ist für mich die Offenlegung des mentalen Innenlebens der Hauptfigur, weil sie deren Intelligenz zu Tage fördert, die ihr gerade durch den Beinamen abgesprochen werden soll. Der geschmeidig lesbare, aber nicht triviale Schreibstil verleiht der Auseinandersetzung zusätzlich Glaubwürdigkeit.

Alexa Hennig von Lange schließt ihren mehr als gelungenen Roman mit einem recht philosophischen Nachwort ab, für mich das Tüpfelchen auf dem i.

Fazit: Ganz klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Unterbrochene Lebenswege

Muldental
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Was passiert, wenn vorgezeichnete Lebenswege durch einen politischen Umbruch nicht mehr begehbar sind, wenn sicher Geglaubtes einfach entfällt, wenn die Wahrheit, die man sein Leben lang kannte, nicht ...

Was passiert, wenn vorgezeichnete Lebenswege durch einen politischen Umbruch nicht mehr begehbar sind, wenn sicher Geglaubtes einfach entfällt, wenn die Wahrheit, die man sein Leben lang kannte, nicht mehr wahr ist? Es ist wie eine Umleitung im Lebensweg, nur dass die Ausschilderung fehlt.

In ihren, unter dem Titel „Muldental“ zusammengefassten, Kurzgeschichten erzählt uns Daniela Krien von Schicksalen, die den Umschwung nur mit großer Mühe oder mit maximaler Entbehrung schaffen konnten bzw. mussten. Bitter an diesen Geschichten ist jedoch, dass sie nicht lediglich Fiktion sind. Mindestens Teile davon sind echt. Ich selbst kenne Betroffene in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis.

Daniela Krien berichtet von ihren Fällen in einer klaren, sehr nüchternen, gleichzeitig bildlichen Sprache, sie beschreibt die Fakten und überlässt sämtliche Gefühlsregungen dem Leser. Ihren Geschichten haften weder Sensationsgelüste, noch Jammern an. Die Emotionen entstehen im Kopf des Lesers, während die beim Lesen entstehenden Bilder ablaufen. Für mich war vieles sehr emotional. Der Tabaksammler hat mich am stärksten getroffen.

Mir haben die Kurzgeschichten gut gefallen, weil mir zu ganz vielen Stellen im Roman ähnliche Situationen aus meinem Umfeld einfielen, die ich für mich selbst schon längst wieder ausgeblendet hatte. Für die Erinnerung bin ich sehr dankbar. Schließlich sollte auch dieser Teil der deutschen Geschichte erhalten bleiben.

Ich kann die Lektüre nur empfehlen, insbesondere dem jungen Publikum, damit sie die Veränderungsmüdigkeit ihrer Eltern oder Großeltern nachvollziehen können.

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Veröffentlicht am 12.08.2020

Wilde Jagd

Bluthölle (Ein Hunter-und-Garcia-Thriller 11)
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Ich gebe es direkt zu, Bluthölle war mein erster Chris Carter. Natürlich lassen die blutigen Nägel, die in das Buch geschlagen sind, die über und über mit Blut verschmierte Oberfläche und die schreiende ...

Ich gebe es direkt zu, Bluthölle war mein erster Chris Carter. Natürlich lassen die blutigen Nägel, die in das Buch geschlagen sind, die über und über mit Blut verschmierte Oberfläche und die schreiende Präsentation von Autor und Titel keinen Mitternachtsspaziergang erwarten. Trotzdem hat mich die detailliert plastische Darstellung der Gewalttaten kalt erwischt. Schlimmste Ängste wurden direkt angesprochen.

Alles beginnt mit einem Taschendiebstahl, den Angela Wood in einer Cocktailbar begeht, um jemandem Eins auszuwischen, der sich kurz zuvor unmöglich gegenüber anderen Gästen benommen hatte. Der Diebstahl gelingt, doch das Diebesgut ist eine Katastrophe. Die gestohlene Tasche enthält nichts von Wert, sondern das Tagebuch eines Foltermörders. Angela leitet das Tagebuch anonym an das LAPD weiter und wähnt sich sicher. Doch sie hat die Rechnung ohne den Killer gemacht.

Mit der Übergabe des Tagebuchs kommen Hunter und Garcia ins Spiel. Bei den gemeinsamen Ermittlungen steht Robert Hunter überdurchschnittlich stark im Vordergrund. Chris Carter lässt ihn jeweils als erstes sprechen, Hunters analytische Fähigkeiten und Ideen setzen sich spontan in meiner Erinnerung zum Thriller fest. Carlos Garcia ist eher der ausführende Charakter, bleibt für mich im Hintergrund, dabei hatte er mehrfach gute Ansätze parat. Natürlich ist bei einem Zweierteam immer ein Partner mehr der Leader als der andere. Hier war es mir jedoch etwas zu viel zugunsten von Hunter.

Angela Wood, die sich mit ihrer kleinen Rache in den Fokus des Killers gerückt hat, mochte ich nicht wirklich. Ihre niedrige Frustrationsgrenze, ihre mangelnde Disziplin lässt Angela ungünstige Entscheidungen treffen. Das ist zwar der Spannung des Thrillers zuträglich, den Charakter lässt es leider schwach erscheinen.

Ich mochte Bluthölle vor Allem wegen der Spannung, wegen der angstauslösenden, grenzenlos aufregenden Szenarien. Es war ein wenig wie bei einem Verkehrsunfall. Man sollte sich eigentlich am Schaden der Opfer nicht ergötzen, wagt dennoch einen kurzen Blick. Natürlich fand ich auch Robert Hunter faszinierend. Seine kreative Denke, sein Ehrgeiz und sein übermenschliches Durchhaltevermögen haben mich beeindruckt.

Summa summarum ein packender Thriller für den man nicht zu zart besaitet sein sollte. Literarisch darf nicht zu viel erwartet werden. Manches wird halt einfach passend gemacht, wie zum Beispiel als Hunter, Angela und Garcia gemeinsam die Cocktailbar betreten und der Laden eigentlich krachend voll ist. Zufällig sind genau drei Hocker am Tresen frei. Die kleinen Schwächen des Thrillers tun dem Lesevergnügen allerdings keinen Abbruch. Lediglich die vielen Zeitangaben waren etwas nervig. Trotzdem war es eine wilde Jagd von der ersten bis zur letzten Seite.

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Veröffentlicht am 08.08.2020

Wandel statt Untergang

Warum es normal ist, dass die Welt untergeht
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Eigentlich hatte ich aufgrund der Ankündigung zum Buch eine andere Herangehensweise an die Thematik erwartet, etwa in der Art, dass zu heutigen, vielleicht bedenklichen Entwicklungen Parallelen aus der ...

Eigentlich hatte ich aufgrund der Ankündigung zum Buch eine andere Herangehensweise an die Thematik erwartet, etwa in der Art, dass zu heutigen, vielleicht bedenklichen Entwicklungen Parallelen aus der Vergangenheit aufgezeigt und deren Folgen auf das Hier und Jetzt projiziert werden. Mit Blick ins Inhaltsverzeichnis wurde ein gemeinsames Durchschreiten der Menschheitsgeschichte mit dem Autor augenscheinlich, was mich zunächst Langatmigkeit befürchten lies.

Diese Befürchtung war jedoch völlig unbegründet. So erfrischend wie hier mit Robert L. Kelly habe ich Archäologie und ihre Erkenntnisse noch nie wahrgenommen. Der Autor berichtet von den bisherigen vier großen Umbrüchen der Menschheitsgeschichte, beschreibt dabei jeweils die direkt davor liegenden Entwicklungen, daraus resultierende Zwänge und Reaktionen. Er verliert sich dabei niemals in zu vielen Details, so dass ich ihm problemlos folgen kann. Dem Leser werden Zusammenhänge bewusster, wie beispielsweise jeder Entwicklungsschritt neue Möglichkeiten eröffnet. Parallelen zwischen den vier Schritten werden nach und nach transparent. Die Überleitung vom Gestern auf das Morgen erfolgt zum Ende hin. Robert L. Kelly begründet, warum wir heute erneut an einem elementaren Wendepunkt der Menschheitsgeschichte stehen. Wohin die Reise wirklich geht, kann nicht abschließend beantwortet werden. Wie sollte es auch? Habe ich doch gelernt, dass sich der Mensch durch die stete Optimierung seiner aktuellen Lebenssituation jeweils in eine ganz neue Lebensweise katapultiert hat. Trotzdem ist es interessant, darüber zu philosophieren.

Die textliche Aufbereitung hat mir hier besonders gut gefallen. Ich hatte über weite Strecken nicht das Gefühl, ein Sachbuch zu lesen, sondern eher eine Dokumentation in ganz großen Bildern zu sehen. Bemerkungen, wie auf Seite 120, „Wenn Sie von Ihrem Kinosessel im All aus beobachten, wie sich die Weltgeschichte entwickelt, sind Sie zu diesem Zeitpunkt vielleicht ein wenig abgeschlafft.“, haben meinen Eindruck noch verstärkt. Mit feinsinnigem Humor führt der Autor so elegant durch seine Ausführungen, dass mich die Lektüre zu keinem Zeitpunkt „abgeschlafft“ oder gar gelangweilt hat. Nach meinem anfänglichen Stutzen wurde ich überaus positiv überrascht. Ganz klare Leseempfehlung.

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