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Veröffentlicht am 30.03.2020

Gefühle im Kontext ihrer Zeit

Die Geschichte der Gefühle
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Wenn die Gefühle eines Menschen oder einer Gruppierung sichtbar werden, durch sprachliche oder körperliche Reaktionen, erscheint es leicht, diese zu deuten und zu verstehen. Die spontane Bewertung von ...

Wenn die Gefühle eines Menschen oder einer Gruppierung sichtbar werden, durch sprachliche oder körperliche Reaktionen, erscheint es leicht, diese zu deuten und zu verstehen. Die spontane Bewertung von Gefühlsregungen anderer erfolgt jedoch oft auf Basis des eigenen Erfahrungsschatzes, führt somit den Betrachter unter Umständen in die Irre. Maßgeblich für die Auseinandersetzung mit den Gefühlen in der Historie ist für Rob Boddice (S. 75) daher, „[…], das affektive Erleben in der Quelle zu rekonstruieren, ohne eine heutige Perspektive einzunehmen.“

Nachdem er zunächst sehr genau seine Methodik und Vorgehensweise in diesem Buch, wie auch seine Zielsetzung erklärt, reist der Leser mit Rob Boddice episodenartig durch die Jahrhunderte und begegnet den Gefühlen darin, beginnend mit der menis des Archills bis hin zu den Emojis unserer Zeit. Besonders gefallen haben mir dabei die Episoden über die angeführten Frauen wie z. B. Hildegard von Bingen und Mary Wollstonecraft, zudem die Theorien von René Descartes zur Bewegung der Seele und die Betrachtungen zu William Hogarths „Die vier Stufen der Grausamkeit“. Einerseits hat mich die fortschrittliche Denke einiger Protagonisten fasziniert, andererseits aber auch so manche zu jener Zeit natürliche Einstellung erstaunt bzw. ins Grübeln gebracht.

Im Ergebnis hat die Geschichte der Gefühle mein gedankliches Zentrum für Toleranz angetriggert, nicht nur im historischen, sondern auch im interkulturellen Kontext. Mein Bewusstsein für den Background der gefühlsäußernden Personen wurde deutlich nachgeschärft.

Durch die wissenschaftliche Herangehensweise, die den Leser immer wieder an die Zielsetzung und Methodik der Arbeit erinnert, erscheint die in meinen Augen gelungene Auseinandersetzung mit den historischen Gefühlswelten für den fachfremden, aber interessierten Leser zeitweise, genau genommen in den jeweils einleitenden Kapiteln, etwas sperrig. Insgesamt war es für mich dennoch ein erhellendes Lesevergnügen, das ich gern weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 30.03.2020

Aufregende Zeit entspannt erzählt

Die Schule am Meer
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Der Roman von Sandra Lüpkes erzählt oberflächlich betrachtet den gesamten Lebenszyklus eines Internats auf Juist. Er startet kurz nach der Gründung des Internats als nacheinander die jüdische Lehrerin ...

Der Roman von Sandra Lüpkes erzählt oberflächlich betrachtet den gesamten Lebenszyklus eines Internats auf Juist. Er startet kurz nach der Gründung des Internats als nacheinander die jüdische Lehrerin Anni Reiner und der Pianist und Dirigent Eduard Zuckmayer, späterer Musiklehrer, auf der Insel ankommen. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehrmethoden und den Ritualen an der Schule, die ihre praktischen Lerninhalte im Einklang mit der Natur und im gleichberechtigten Miteinander von Schülern und Lehrern vermittelt.

Die Geschichte auf das Schulkonzept zu reduzieren, würde jedoch das, was den Roman ausmacht, unterschlagen. „Die Schule am Meer“ berichtet über Sorgen und Nöte von Männern und Frauen, thematisiert die Ängste der Kinder, befasst sich mit der entbehrungsreichen Zeit nach dem Großen Krieg und erklärt im Erzählen die Beweggründe für manche Missetat. Sandra Lüpkes vermittelt mit ihrem Bericht über Jungenstreiche, Mutproben und Freundschaft einen Gesamteindruck zum Lebensgefühl der Menschen in der Weimarer Republik. Zugleich beleuchtet sie den schleichenden, zunächst noch recht stillen Aufstieg der Nationalsozialisten.

Betrachtet man die Figuren, so haben es mir die beiden schon erwähnten Lehrer und der Schüler Maximilian am meisten angetan. Anni Reiner ist mir besonders nah. Sie hinterfragt immer wieder ihr gemeinsames, aber auch ihr eigenes Handeln. Nur so ist Weiterentwicklung möglich. Anni ist stets engagiert und auch wenn ihr das Leben mächtig übel zuspielt, lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Mit Mut und Cleverness behält sie stets das Ziel im Auge. Den von ihr verkörperten Emanzipationsgrad im Zusammenhang mit dem zeitlichen Hintergrund fand ich einfach nur faszinierend.

Eduard Zuckmayer zeichnet sich durch ein überdurchschnittliches Einfühlungsvermögen aus. Ob dies aus seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg resultiert oder in seiner Verbundenheit zur Musik begründet ist, lässt sich nicht abschließend feststellen. Seine Entwicklung vom Kriegsversehrten hin zum Vorbild für seine Schüler, das auch in der Lehrerschaft Hochachtung genießt, habe ich ebenso gemocht, wie seine stille Liebe.

Maximilian, Moskito genannt, war für mich der Abenteurer schlechthin in diesem Roman. Obwohl er als typischer Underdog an der Schule am Meer beginnt, findet er schnell Anschluss und wächst nach und nach über sich hinaus. Dabei vergisst er nie, wo er herkommt und wem er was zu verdanken hat. Sein Gemeinschaftssinn und sein unnachgiebiger Einsatz für andere verkörpern wohl am besten die pädagogische Ausrichtung der Schule.

Ich habe „Die Schule am Meer“ sehr gern gelesen. Beginnend ab 1925 habe ich dabei ein ganzes Jahrzehnt bereist und einen Querschnitt der Gesellschaft durch die verschiedenen Charaktere kennengelernt. Freud und Leid sind genauso mit von der Partie gewesen wie Abenteuer und Liebe. Dabei ist der Roman zu keinem Zeitpunkt ins Schnulzige abgedriftet. Sehr zuvorkommend habe ich auch den angenehm flott lesbaren Schreibstil empfunden. Die recht langen Kapitel, die ich normalerweise nicht so mag, fielen dadurch nicht weiter ins Gewicht. Witzig fand ich die Wahl der Kapitelüberschriften.

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Veröffentlicht am 20.03.2020

Zu wenig Tiefe

Rosie
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Der Untertitel „Szenen aus einem verschwundenen Leben“ beschreibt sehr genau, was den Leser inhaltlich erwartet, wenn er sich mit dem autobiografischen Roman von Rose Tremain beschäftigt. In einzelnen ...

Der Untertitel „Szenen aus einem verschwundenen Leben“ beschreibt sehr genau, was den Leser inhaltlich erwartet, wenn er sich mit dem autobiografischen Roman von Rose Tremain beschäftigt. In einzelnen Episoden erzählt uns die berühmte Autorin von ihrer Kindheit und Jugend. Dabei geht sie auf die fehlende Liebe der eigenen Familie gegenüber weiblichen Nachkommen ein, wirkt ein wenig erstaunt über das aus sich selbst heraus Erreichte, vor Allem in Sachen Liebe und Familie, auf ihrem doch eher steinigen Lebensweg.

Wenn meine Wahrnehmung mich nicht täuscht, knüpft Rose Tremain ihre Erinnerungen an die verschiedenen herausragenden Bezugspersonen, die sie in Kindheit und Jugend begleitet haben, die sie viel mehr als die eigenen Eltern gefördert und mit Zuneigung bedacht haben.

Ihre eigene Geschichte fasst Rose Tremain in einer wunderschönen Sprache ab, sie bedient uns mit so hübschen Bildern wie beispielsweise ihre „Noten-Vögel“. Ergänzt wird die Geschichte mit Verweisen zu ihrem Lebenswerk. Darin beschreibt sie dem Leser sehr genau, in welchem Roman welche Erinnerung wiederzufinden ist. Die Verarbeitung der Geschehnisse um einen grünen Badeanzug haben es mir besonders angetan.

Trotz der liebenswerten Wegbegleiter und der sprachlichen Eleganz konnte mich der Roman nicht richtig packen. Als Entspannungslektüre war er zwar angenehm zu lesen, aber wirklich tief berührt hat er mich nicht. Er wirkt halt nicht nach.

Fazit: Ein Roman, den man durchaus gut lesen kann, aber nicht unbedingt gelesen haben muss.

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Veröffentlicht am 17.03.2020

Zeitenwende

Milchmann
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Die Fragestellung, „Wo ist da der Sinn? Was hat das für einen Zweck?“, taucht nicht nur im Roman mehrfach auf, sie begleitet den kopfschüttelnden Leser über weite Strecken, weil man einfach nicht glauben ...

Die Fragestellung, „Wo ist da der Sinn? Was hat das für einen Zweck?“, taucht nicht nur im Roman mehrfach auf, sie begleitet den kopfschüttelnden Leser über weite Strecken, weil man einfach nicht glauben mag, dass es je eine dermaßen krude Gesellschaft gegeben hat. Wir blicken auf die Geschehnisse mit unseren heutigen Erfahrungswerten, können es nur schwerlich glauben. Die Geschichte um den „Milchmann“ ist eingebettet in den Nordirland-Konflikt der Siebziger Jahre.

Um nicht zu spoilern, hebe ich nachfolgend die Besonderheiten des Romans, die mich am meisten begeistert haben, hervor, ohne dabei auf die Handlung an sich einzugehen. Einen gelungenen Überblick dazu liefert bereits der Klappentext.

Ganz ungewöhnlich ist die Namenlosigkeit des Romans. Kaum eine Figur wird beim Namen genannt. Die Unterscheidung der Charaktere gelingt Anna Burns über den Beziehungsstatus, den diese zur Protagonistin bzw. zur Gesellschaft haben. Was mir anfänglich den Kopf zermartert hatte, kam mir nach der Gewöhnungsphase sogar entgegen. Für mich war es erstaunlich, wie gut ich mir die Figuren vorstellen und auseinander halten konnte. Mir kam es vor, als ließen sich durch die Namenlosigkeit viel besser Eigenschaften an die Charaktere anheften.

Über weite Passagen hatte ich das Gefühl, ich würde eine Dystopie lesen, obwohl der Roman einen Ausschnitt der Siebziger Jahre im Nordirland-Konflikt abbildet. Möglicherweise haben mich die überspitzten Ausführungen der Autorin und die Penetranz an Aufzählungen und Wiederholungen in diesen Irrgarten getrieben. Bemerkenswert dabei war allerdings, dass mir genau das Dystopische, dieses theoretisch Mögliche, aber praktisch heutzutage in Mitteleuropa nicht Vorstellbare maximal gut gefallen hat. Es lässt nämlich die Geschichte um den Milchmann übertragbar erscheinen, portierbar in das Hier und Jetzt oder in die nahe Zukunft.

Besonders beeindruckt war ich letztlich von der Gedankenwelt der Protagonistin, die im Roman als Ich-Erzählerin ausgeprägt ist. Durch die Erzählperspektive wurde ich ganz nah an die Hauptfigur herangeführt, so dass ich bereit war, in ihren Gedankenkarussellen mitzufahren. Ihre Überforderung durch die Ereignisse, ihre Enttäuschung gegenüber der Gesellschaft, ihre Angst und ihr drohender Komplettabsturz sind allgegenwärtig und hautnah spürbar. Die rasenden Gedanken kommen so realistisch rüber, dass ich beim Lesen in die Rolle der Erzählerin geschlüpft bin und mich gefühlsmäßig in ihrer Situation wiederfand. Ich war aufgeregt, wütend, zum Teil klopfte mir das Herz bis zum Hals.

Insgesamt ist „Milchmann“ ein fordernder, weil so ungewöhnlicher Roman. Man muss sich drauf einlassen. Belohnt wird der Leser mit einer Spannung, die sich bis zum Wendepunkt in der Geschichte unermesslich steigert. Der Roman ist alles andere, aber kein Mainstream. Ich fand ihn hervorragend.

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Veröffentlicht am 02.03.2020

Niemals vergessen

Rote Kreuze
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Eine vom Leben gebeutelte alte Dame hilft dem jungen Vater Alexander nach einem Schicksalsschlag zurück ins Leben zu finden, indem sie ihm von ihrem eigenen schweren, teils grauenhaften Lebensweg berichtet. ...

Eine vom Leben gebeutelte alte Dame hilft dem jungen Vater Alexander nach einem Schicksalsschlag zurück ins Leben zu finden, indem sie ihm von ihrem eigenen schweren, teils grauenhaften Lebensweg berichtet. Mit der Erkenntnis nicht allein von Schrecken gepeinigt zu sein, erscheint die eigene Situation für Alexander in einem neuen Licht. Er bricht die Ketten seiner Gewissensgefangenschaft, erkennt neue Möglichkeiten für sich. Sehr treffend zusammengefasst wird die Erkenntnis bereits auf Seite 9: „Das Glück hat immer eine Vergangenheit, ..., und jeder Kummer hat eine Zukunft.“

Von den beiden Charakteren mochte ich Tatjana, die alte Dame, am meisten. Ihre durchgehend aufdringliche Art, die ich typisch für ihre Altersgruppe empfinde, mit einem Augenzwinkern auch irgendwie sympathisch, verschwindet in meiner Wahrnehmung nach und nach in den Hintergrund. Sie versteht es, nicht nur den Leser sondern ebenso Alexander mit ihrer Geschichte für sich zu gewinnen. Die anfängliche Ablehnung seinerseits schwindet, wird von einem tiefen Respekt ersetzt. Für mich war Tatjana‘s unerschütterliche Wille zu leben, aller Pein zum Trotz, das Bewundernswerteste.

Alexander hatte ich fast genauso gern, ich fand seinen Charakter nur nicht ganz so stark. Seine Entwicklung hat mir gefallen, insbesondere hinsichtlich des Respekts vor dem Alter. Die anfängliche Ablehnung, sich überhaupt auf ein Gespräch mit Tatjana einzulassen, wich einem aktiven Zuhören, das durch gezielte Nachfragen und von Alexander initiierten, weiteren Treffen gekennzeichnet war. Interessant fand ich darüber hinaus den Wechsel seiner Perspektive zum eigenen Schicksal.

Über die Geschichte zwischen Tatjana und Alexander, die sich zunächst etwas holprig anbahnt, transportiert Sasha Filipenko die Geschehnisse des russischen 20. Jahrhunderts. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem stalinistischen Regime mit seinen abscheulichen Verbrechen, die auf einer mangelnden Wertschätzung des einzelnen menschlichen Lebens beruhen. Die Erzählung reicht jedoch bis ins heute hinein, wo sich nicht nur die Alzheimer-kranke Tatjana, sondern auch die Gesellschaft dem Vergessen ergibt. In diesem Sinne richtet sich Roman gezielt gegen das Vergessen.

Sasha Filipenko bindet in seinem Roman gekonnt von Metaphern geflutete Gedichte und historische Originaldokumente als Zeitzeugen mit ein, was den Leser einerseits in seinem Fluss etwas ausbremst, was ihn durch das Innehalten andererseits zum Nachsinnen über das Gelesene anregt. Diese Technik kam mir persönlich sehr entgegen, um das Grauen des Stalin-Terrors besser verarbeiten zu können. Zudem haben diese Zusatzinformationen maximale Glaubwürdigkeit transportiert. Fast schon sensationell ist zurückblickend betrachtet, die Wahl des mehr als treffenden Romantitels.

Insgesamt bin ich begeistert von „Rote Kreuze“ und kann nicht anders, als die Lektüre wärmstens zu empfehlen.

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