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Veröffentlicht am 10.11.2021

Kritische Betrachtung einer Gesellschaft im Wandel

Phon
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Phon ist eine nicht einfach zu lesende Geschichte über ein ins Alter gekommenen Zoologenpärchen, aber nicht nur das, sondern auch ein Bericht über eine Gesellschaft im Wandel, über Einsamkeit und Abgehängt-Sein. ...

Phon ist eine nicht einfach zu lesende Geschichte über ein ins Alter gekommenen Zoologenpärchen, aber nicht nur das, sondern auch ein Bericht über eine Gesellschaft im Wandel, über Einsamkeit und Abgehängt-Sein. Nadja und Lew lernten sich zu Zeiten der noch bestehenden Sowjetunion als Dozent und Studentin kennen. Nadja wird ein bisschen zu schnell schwanger, die beiden heiraten und beziehen ein kleines Häuschen fernab vom Trubel der Großstadt. Lew führt sein Forscherleben im Prinzip weiter. Nadja bleibt in ihrer beruflichen Entwicklung stecken. Nachdem Zusammenbruch der UdSSR schließt die naheliegende Fabrik, der Lebensunterhalt in dieser abgeschiedenen Gegend ist nur sehr schwer zu verdienen. Junge Dorfbewohner ziehen weg, es bleiben die Alten, die nach dem natürlichen Lauf der Dinge auch immer weniger werden. Die Geschichte startet als Nadja und Lew fast allein zurückgeblieben sind und wird von Nadjas Erinnerungen getragen.
 
Das Leben in abgelegenen Dörfern Russlands wird zunehmend beschwerlich. Der nächste Supermarkt ist soweit weg, dass man sich mit Gemüse-Anbau im Garten und der Haltung von ein paar Tieren selbst über Wasser halten muss. Kaum jemand kommt noch vorbei, einzige Abwechslung ist ein Zug, der jede Nacht am Dorf vorbeirauscht. Halt macht auch er nicht. Dabei war nach dem Zusammenbruch doch so ein Aufbruch zu spüren. Sensationsgetriebener Tourismus trieb viele Westeuropäer in die russischen Wälder. Doch die Wildnis und die Ursprünglichkeit ist nicht ungefährlich. So tragen Nadja und Lew win schweres Paket.
 
Es sind stille Töne, mit denen die Autorin die schmerzvollen Umwälzungen thematisiert. Manchmal hat das Geschehen einen langatmigen Touch. Wenn man sich aber bewusst macht, wer hier in welcher Situation erzählt, steigert die ausgebremste Erzählgeschwindigkeit die Glaubwürdigkeit. Eingestreut werden philosophische Passagen, die mich emotional tief berührt haben. „Ohne sich von der Stelle zu rühren, wurde meine Generation von einem Land ins andere verfrachtet, von einer Geschichte in die andere, von einer Lüge in die andere. Wir wurden um dreihundertsechzig Grad gedreht, zusammengedrückt, wieder auseinandergezogen und erneut zusammengedrückt, und hielten stand, schließlich waren wir ein Volk von Kosmonauten.“, sei beispielhaft genannt (S. 254). Ich spürte regelrecht den verlorenen Stolz und den mitschwingenden Identitätsraub.

Ich mochte sehr, mit welchem Gespür die niederländische Autorin die sogenannte russische Seele auf den Punkt bringt. Ihre Jahre in St. Petersburg haben offensichtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen, so dass Marente de Moor ihre Wahrnehmung unbedingt mit uns teilen wollte. Ich habe das genossen. Gern empfehle ich diesen leisen ausdrucksstarken Roman.

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Veröffentlicht am 01.11.2021

Ermittlerduo im Change Prozess

Der rote Raum
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Nach „Die Taten der Toten“, einem Fall der seinen Fokus auf den Mord an Olof Palme gerichtet hatte, der auch das Ermittlerteam um Ingrid Nyström und Stina Forss an die Grenze des Menschlichen und darüber ...

Nach „Die Taten der Toten“, einem Fall der seinen Fokus auf den Mord an Olof Palme gerichtet hatte, der auch das Ermittlerteam um Ingrid Nyström und Stina Forss an die Grenze des Menschlichen und darüber hinaus katapultiert hatte, musste es Veränderungen im Team geben. Annette Hultin hat das Team verlassen, Stina Forss wird weit in den Norden versetzt, Ingrid Nyström verbleibt mit Hugo Delgardo und Lasse Knutsson in Växjö. Neu ins Team kommt die frisch ausgebildete Sara Hjalmarsson, die den alteingesessenen Kollegen erst mal den Verstand raubt.

Vor diesem Hintergrund haben die beiden Ermittlerinnen getrennt von einander sehr ähnliche Mordfälle zu lösen. Zwei Mordopfer, aufs brutalste zugerichtet, jedem Opfer fehlt ein Organ, ein Zusammenhang drängt sich auf. Während Nyström ihren Fall nach bewährtem Schema angeht, gemeinsam mit den Kollegen Hinweise sammelt, potentielle Zeugen interviewt, Hintergrundanalysen zum Opfer betrachtet und die gewonnenen Erkenntnisse geschickt kombiniert, bleibt Forss ihrer Mentalität treu und übt sich abermals in gefährlichen Alleingängen. Begleitet wird die Handlung durch die allseits beliebte, düstere Atmosphäre in skandinavischen Krimis. Hier wird das Ganze verstärkt durch das gemeinsame Trauma der Ermittler, das sich hauptsächlich im Ausgang des Palme-Falls begründet.

Die Geschichte war für mich neben dem Herantasten an die Mordfälle gleichzeitig eine Art Übergangskrimi zur Findung und Eingewöhnung in eine neue Konstellation. Die Integration von Sara Hjalmarsson in das Team Nyström war eine der wichtigsten Aufgaben dieses Teils der Serie, ebenso die Eingliederung von Stina Forss in ihr neues Umfeld. Der Ausgang hinsichtlich der Neuaufteilung der ermittelnden Personen lässt allerdings weiterhin viel Spekulationsmöglichkeiten zu, was mir sehr gut gefällt. So bleibt das Warten auf den nächsten Teil von Spannung erfüllt, wie es an dieser Stelle weitergeht.

Stilistisch bleiben sich die Autoren treu, schreiben in mehreren Handlungssträngen, wechseln an der spannendsten Stelle des einen in den anderen Strang. Als besonderes Highlight dient wieder ein dritter zunächst losgelöster, sonderbarer Strang, der schwer einzuordnen ist, die Leser*innen aber zusätzlich auf die Folter spannt, aus der eigentlichen Handlung rausreist. Ansonsten werden die Ermittlungen wie in den anderen Büchern zur Serie tageweise betrachtet. Jeder Tag ist in viele kurze Kapitel eingeteilt. Das ist perfekt, um immer noch eins anzufangen und dabei die Zeit zu vergessen.

Für mich waren es mal wieder spannende Fälle, die Nyström und Forss zu lösen hatten. Forss hat erneut bewiesen, dass sie niemals aufgibt. Vielleicht hätte ich mir ein früheres, dafür ausgedehnter erklärtes Auflösen der Fälle gewünscht. Insgesamt war dieser neunte Fall für mich ein Übergangskrimi, der weitere brisante Stories vorbereitet. Mir hat es gefallen, eine Empfehlung ist Ehrensache.

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Veröffentlicht am 23.10.2021

Jeder muss sich überwinden

Pferdeflüsterer-Mädchen, Band 3: Das verbotene Turnier
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Die Ocean Ranch ist mal wieder in Gefahr, obwohl doch gerade eben noch eine neue Reithalle geplant war. Nun soll das Nachbargrundstück an John Hegarty gehen, der dort einen kleinen Flughafen bauen möchte. ...

Die Ocean Ranch ist mal wieder in Gefahr, obwohl doch gerade eben noch eine neue Reithalle geplant war. Nun soll das Nachbargrundstück an John Hegarty gehen, der dort einen kleinen Flughafen bauen möchte. Der Lärm wäre unerträglich für die Pferde. Ruby kann das unmöglich zulassen und stellt den Besitzer des Grundstücks zur Rede. Mr Forrester reagiert ein wenig verdutzt und bietet Ruby eine Wette an. Wenn sie bei seinem Turnier gewinnt, verkauft er das Grundstück an die Ocean Ranch. Wie soll sie das machen? Wo doch ihr aktueller Reitlehrer, Patrice, absolut gegen Turniere ist.

Nachdem sich Ruby mit ihren Freunden beraten hat, erkennt sie, dass es nur eine Möglichkeit gibt. Sie muss jemanden um Hilfe bitten, dem sie eigentlich lieber aus dem Weg gehen würde. Dabei wird Rubys Geduld, ihre Disziplin und auch ihr Vertrauen ganz schön auf die Probe gestellt. Sie muss regelrecht über ihren Schatten springen. Ihren Mut und ihr Durchhaltevermögen habe ich bewundert. Später wird sie dann erfahren, dass auch andere, sogar Erwachsene, Rubys Beispiel folgend ihre Grenzen überwinden können.

Die Gestaltung des Pferderomans hat mir für die empfohlene Altersgruppe gut gefallen. Die Schrift ist groß. Der Abstand zwischen den Zeilen gibt Orientierung. Alle paar Seiten gibt es ein kleines Schwarz-Weiß-Bild passend zum Text. Die Seitenzahlen werden von kleinen Pferde-Flocken eingefasst. Der Gesamtumfang ist eine kleine Herausforderung, aber angemessen. Er kann jeweils nach ca. zehn Seiten pausiert werden, wenn ein Kapitel zu Ende geht.

Sprachlich richtet sich die Autorin ebenfalls sehr gut nach dem Möglichkeiten ihrer Zielgruppe. Der Sprachgebrauch erscheint jung, modern, passt in die heutige Zeit. Die Formierungen sind gut zu verstehen und recht einprägsam. Ich halte es auch bei Leseanfänger:innen für möglich, sowohl den Text zu lesen, als auch dem Gesamtzusammenhang zu folgen. Deshalb empfehle ich diesen Roman, also eigentlich die ganze Reihe „Pferdeflüsterer-Mädchen“, gern weiter.

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Veröffentlicht am 21.10.2021

Augenöffner

Vertraute Welt
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Blumeninsel, das ist der euphemistische Name einer riesigen Mülldeponie am Rand von Seoul, das ist auch der neue Wohnort von Gluschaug, dem Protagonisten der Geschichte. Gerade ist er zusammen mit seiner ...

Blumeninsel, das ist der euphemistische Name einer riesigen Mülldeponie am Rand von Seoul, das ist auch der neue Wohnort von Gluschaug, dem Protagonisten der Geschichte. Gerade ist er zusammen mit seiner Mutter hergezogen, nachdem sein Vater wegen Diebstals in ein Umerziehungslager gesteckt wurde. Obdach bekommen die beiden vom "Baron", einem Claimverwalter der Halde und damit Chef von einer Hundertschaft von Müllsammlern und -sortierern. Schnell freundet sich Glubschaug mit dem Sohn des Barons, Glatzfleck, an, der ihn in die Gesellschaft der Müllsammlerkinder einführt.

Die Geschichte erzählt sehr detailliert und ungeschönt vom Leben der beiden Kinder. Ihr Haus besteht aus Müll, ihre Kleidung stammt aus dem Müll, selbst das Essen wurde für den Verzehr aus dem Müll gefischt. Dadurch ist die Atmosphäre sehr bedrückend, mein Gedanken-Karussell hinsichtlich der eigenen Müllverursachung fing sich direkt an zu drehen. Zudem wurde ich wieder einmal überrascht von den Zuständen in dem hoch technologisierten Südkorea. Ausgehend von einem modernen Land, hatte ich kein Dritte-Welt-Elend erwartet.

Die Kinder Glubschaug und Glatzfleck haben mich begeistert, weil sie so herrlich normale Kinder sind. Dass sie die Abgehängten der Gesellschaft sind, hält die beiden keinesfalls davon ab, ihre Abenteuer zu erleben. Sie erkunden ihre Umgebung, bauen Buden, setzen sich mit Gleichaltrigen auseinander, machen auch mal großen Unfug. Damit haben mich Glubschaug und Glatzfleck an die Zeiten vor dem Überkonsum erinnert, wo Kinder trotz fehlendem Technik-Schnick-Schnack keine Langeweile hatten. Sie waren draußen unterwegs, bei ihren Eltern haben sie sich zu den Mahlzeiten wieder eingefunden.

Stilistisch wirkt „Vertraute Welt“ manchmal etwas altbacken, wobei die Geschichte in die 1980er einzuordnen ist. Deshalb ist das schon irgendwie passend, aber ich bin so einigen Formulierungen begegnet, die ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe. Weiterhin ist die Erzählweise recht straight, die grausame Lebenswirklichkeit der Jungen wird direkt rüber gebracht. Mit Rückschlägen bzw. Schicksalsschlägen im Leben wird maximal rational umgegangen, was auf mich im hier und heute manchmal schon eine befremdliche Wirkung hatte.

Wichtig für mich ist der augenöffnende Effekt, den die Lebensweise der Müllsammler auf mich hatte. Solche Geschichten schaffen Bewusstsein für das eigene Tun, aber auch hinsichtlich des genauen Betrachtens von anderen Regionen dieser Erde. Zu leicht sitzt man dem Irrtum auf, dass vergleichbare Technologiestandards auch vergleichbare Lebensstandards bedeuten. Deshalb habe ich den Roman von Hwang Sok-Yong gern gelesen und empfehle ihn uneingeschränkt weiter.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Der Luxus der einen als Herausforderung der anderen

Wenn ich wiederkomme
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Eine Fernbeziehung ist nicht für jeden Charakter eine gute Wahl. Aber wie verhält es sich, wenn sich die Fernbeziehung auf eine ganze Familie bezieht und wenn die Zusammenkünfte auf Geburtstage und Feiertage ...

Eine Fernbeziehung ist nicht für jeden Charakter eine gute Wahl. Aber wie verhält es sich, wenn sich die Fernbeziehung auf eine ganze Familie bezieht und wenn die Zusammenkünfte auf Geburtstage und Feiertage beschränkt sind? Mit dieser Frage setzt sich Marco Balzano in seinem neuen Roman „Wenn ich wiederkomme“ auseinander.
Daniela ist eine engagierte Mutter, die wie die meisten Mütter möchte, dass es den eigenen Kindern später mal besser geht als ihr jetzt. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine gute Ausbildung, besser noch ein abgeschlossenes Studium in einem lukrativen Fach. Um ihren Kindern diese Bildungschance sowie ein komfortables Leben zu finanzieren, verlässt sie ihre Heimat Rumänien in Richtung Italien, um dort betagte Menschen zu pflegen, was deutlich besser bezahlt ist als ihr bisheriger Bürojob.
Der Roman selbst erzählt nun aus drei Perspektiven, wie sich das Leben in Dauertrennung anfühlt. Zunächst kommt Danielas Sohn Manuel zu Wort. Er schildert seine Einsamkeit, erzählt von seinen schulischen Eskapaden, von seinen Problemen. Selbst bei verwöhnten Kindern sieht glücklich sein anders aus. Er machte mir einen überforderten Eindruck. Schließlich hatte Daniela ihre Entbehrungen für die Kinder mit einer Erwartungshaltung verknüpft. Danielas Part hat einen reflektierenden Charakter. Sie blickt auf die Zeit in Italien und ihre Versäumnisse zu Hause zurück. Ihre Gedanken haben einen Charme von Abwägen, was wäre wohl gewesen, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Im letzten Teil des Romans wagt die Tochter Angelica einen Rückblick. Sie musste schnell erwachsen werden, den Bruder bei Laune halten, damit er sich schulisch nicht zum Totalausfall entwickelt. Die aufgewendete Zeit dafür hätte sie lieber in das eigene Lernen investiert.
Obwohl ich die jeweilige Perspektive der drei Hauptcharaktere gut nachvollziehen konnte, hat sich keine Nähe oder echte Zugewandtheit entwickelt. Die Drei blieben für mich auf Distanz. Ich habe mich eher als Beobachter der Situation empfunden, war nicht hineingezogen. Nachdem ich den Vorgänger „Ich bleibe hier“ mit Begeisterung gelesen habe, weil ich mit den Charakteren fiebern konnte, hätte ich mir hier ebenfalls mehr von der Geschichte ausgelöste Emotion gewünscht.
Die Aufbereitung des Textes wirft zwar verschiedene Blickwinkel auf die Trennungsgeschichte, durch die Realisierung in aufeinanderfolgenden Teilen, ergibt sich allerdings ein sehr geradliniger Schreibstil. Dieser lässt sich einerseits flüssig lesen, wirkt literarisch gesehen andererseits nicht so hochwertig wie der Vorgänger. Es entsteht keine echte Komplexität. Ich habe Danielas Geschichte trotzdem gern gelesen, mir fehlte nur der letzte Pfiff, das i-Tüpfelchen sozusagen.

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