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Veröffentlicht am 13.05.2022

Süffisant und subtil unheilvoll

Inmitten der Nacht
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Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht ...

Stell dir vor, du hast Urlaub. Endlich! Statt der Schwüle im stickigen Brooklyn erwartet dich eine Woche auf dem mondänen Long Island. Okay, für ein Haus direkt am Strand hat das Budget zwar nicht gereicht – doch dein Feriendomizil hat genau das Quäntchen Luxus mehr als deine Wohnung, dass es sich wie etwas Besonderes anfühlt, aber nicht einschüchtert. Das Wetter ist traumhaft, der Pool erfrischend. Du gibst zwar im Supermarkt mehr Geld aus als gewöhnlich, aber – hey! Es sind Ferien! Die Kids sind so entspannt wie lange nicht mehr, genau wie du selbst. Und auch die eheliche Romantik erfährt eine höchst zufriedenstellende Wiedergeburt. Es könnte nicht besser sein, denkst du, bis … ja, bis eines Nachts ein älteres Ehepaar vor der Tür deines Ferienhauses steht (das sich nach zwei Tagen tatsächlich bereits anfühlt, als sei es dein Haus) und behauptet, dein Vermieter zu sein. Sichtlich aufgelöst berichten sie dir von diesem plötzlichen Stromausfall in New York, der alles lahmgelegt hat. Und deswegen seien sie hierhergefahren, in ihr Ferienhaus, um dem Chaos in der Metropole zu entkommen. Man könne sich doch gewiss miteinander arrangieren? Nur für eine Weile? Nur so lange, bis man Näheres wisse? Indes – wann wird das sein? Das Internet ist ausgefallen, weder Radio noch TV sind noch verfügbar. Zudem scheinen sich die Tiere unversehens recht ungewöhnlich zu benehmen. Und das ist, wie es aussieht, gerade erst der Anfang …

„Inmitten der Nacht“ (Deutsch von Eva Bonné) war eine wahrlich außergewöhnliches Leseerlebnis. In ebenso bestrickendem wie süffisantem Erzählton entwirft Rumaan Alam ein Szenario, in dem scheinbar (?) unaufhaltsam (?) alles (?) außer Kontrolle gerät. Und meine eigenwillige Interpunktion deutet bereits das Vage, Fragwürdige, Rätselhafte an, das diesen Roman durchzieht. Ich habe bis zur letzten Seite gerätselt, was – und ob überhaupt etwas – vor sich geht. Sind die nächtlichen Besucher die, die zu sein sie vorgeben? Stimmt das, was sie berichten? Ist das, was wirklich erscheint, wirklich „wirklich“? Ich habe „Inmitten der Nacht“ kaum aus der Hand legen können. Aber vielleicht lag das (auch) daran, dass ich den Roman im Urlaub gelesen habe. Bei traumhaftem Wetter. Und in einem Feriendomizil, das ein Quäntchen mehr Luxus hatte als meine Wohnung …

Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 30.04.2022

Erfrischend wie ein Glas Rosé

Die Paradiese von gestern
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„Ein untrügliches Zeichen der Liebe ist wohl, dass es den Liebenden möglich ist, einander anzuschauen, ohne auch nur in die geringste Verlegenheit zu geraten.“ (35)
Sommer 1990. Die Mauer ist gefallen, ...

„Ein untrügliches Zeichen der Liebe ist wohl, dass es den Liebenden möglich ist, einander anzuschauen, ohne auch nur in die geringste Verlegenheit zu geraten.“ (35)
Sommer 1990. Die Mauer ist gefallen, die Grenzen sind offen. Zum ersten Mal in ihrem Leben reisen Ella und René, ein junges ostdeutsches Paar, durch Frankreich. Das Budget ist klein, der Freiheitsdrang umso größer. Unversehens gelangen sie zu dem Schloss der Comtesse de Violet, das diese mit dem einzigen ihr verbliebenen Dienstboten bewohnt. Der einst prunkvolle Bau verfällt zusehends, in dem darin beherbergten Hotel wurden schon seit geraumer Zeit keine Gäste mehr empfangen. Umso erstaunlicher ist es, dass Ella und René ein Zimmer bekommen, ja, mehr noch: Die distanziert-elegante Comtesse erweist dem Pärchen die Ehre, mit ihr dinieren zu dürfen. Das Essen ist vorzüglich, die Atmosphäre unterkühlt – bis Alain, der hitzköpfige Sohn der Gräfin unangekündigt aus Paris anreist und die unterschwellig angespannte Situation zwischen ihm und seiner Mutter eskaliert, wovon auch Ella und René nicht unberührt bleiben. In der Folge reist René mit Alain nach Paris – ohne Ella …

… und mehr möchte ich über den Inhalt des Romans nicht verraten, auch wenn es noch sehr, sehr viel mehr zu erzählen gäbe. Denn Mario Schneiders scheut sich in seinem Romandebüt nicht davor, die ganz großen Themen des Menschseins aufzugreifen: Vergangenheit und Zukunft, Hoffnung und Verzweiflung, Lebenshunger und Lebensüberdruss und – natürlich! – die Liebe, in all ihren Schattierungen. Doch so monumental diese Themen auch sein mögen: Der Autor nimmt sich ihrer mit einer Leichtigkeit und Eleganz an, die so erfrischend ist wie ein Rosé an einem heißen Sommertag – und das, ohne in Banalitäten abzugleiten.

Vielleicht kennt ihr das, dass man sich während der Lektüre eines Buches die Frage stellt, wie eine Verfilmung aussähe. So ging es mir mit „Die Paradiese von gestern“. Doch wenn ich ehrlich bin, bedürfte es dieser gar nicht: Der Roman ist so atmosphärisch, lebendig und plastisch, dass der „Film“ sich ganz von allein vor dem inneren Auge entfaltet.

Zwei kleine Kritikpunkte habe ich indes doch. Zum einen hätte manche Passage und mancher Dialog für meinen Geschmack gerne etwas straffer erzählt werden dürfen. Zum anderen sollte man die an einigen Stellen etwas eigenwillige Interpunktion für die nächste Auflage vielleicht noch einmal überarbeiten.

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Veröffentlicht am 30.04.2022

Ein leider nur allzu realistischer Roman

Hundepark
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Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette ...

Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette Mutter. Den engagierten Vater. Die entzückenden Kinder. Sie: Das ist Olenka, eine einst schöne, einst erfolgreiche junge Ukrainerin. Einst glaubte sie an eine glückliche Zukunft ohne Geldsorgen und mit einem geliebten Mann an ihrer Seite. Jetzt ist sie sichtlich vom Leben gezeichnet, auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, in Angst um ihr Leben. Und es soll noch schlimmer kommen, denn eines Tages sitzt Olenka nicht mehr allein auf ihrer Bank. Unvermittelt taucht Dana auf, genauso abgezehrt und heruntergekommen wie sie selbst. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es Olenka war, die Dana ins Unglück stürzte. Und die scheint nun auf Rache aus zu sein …

„Hundepark“ mutet anfänglich wie ein Thriller an – und es gelingt Sofi Oksanen vortrefflich, die Spannung subtil aufrechtzuerhalten –, doch der Roman ist weit mehr als das. In Rückblenden zeichnet die Ich-Erzählerin Olenka ihr Leben bis zu dem schicksalhaften Wiedersehen mit Dana nach: ihre Kindheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Versuche der Menschen, sich in der plötzlich veränderten politischen und gesellschaftlichen Ordnung zurechtzufinden, die alten Seilschaften und Mentalitäten, die sich nicht mit einem Handstreich wegwischen lassen – und die neuen „Geschäftsmodelle“, die sich unvermutet daraus ergeben.

Und damit eröffnet sich der eigentliche Themenkomplex des Romans, denn in ein solches „Geschäftsmodell“ gerät unversehens Olenka, das erfolglose Model, das zwar keine nennenswerte Ausbildung besitzt, dafür aber über etwas anderes verfügt: gesunde Eizellen. Ein Gut, für das wohlhabende europäische Paare, deren Kinderwunsch bislang unerfüllt blieb, bereit sind, sehr viel Geld zu zahlen. Und das ansonsten chancenlosen jungen Frauen eine vermeintliche Perspektive bietet. Doch wo große Umsätze locken, ist gemeinhin die Ausbeutung nicht fern, wird aus der Medizin eine Industrie. Mit Gewinnern auf der einen – und Verliererinnen auf der anderen Seite.

Bis ich „Hundepark“ von Sofi Oksanen (aus dem Finnischen von Angela Plöger) vor einigen Wochen las, war mir nicht bekannt, dass die Ukraine eines der wenigen Länder ist, in denen eine kommerzielle Leihmutterschaft gesetzlich erlaubt ist. Noch hätte ich vermutet, was diese Kommerzialisierung für die Leihmütter mitunter bedeuten kann. Und am allerwenigsten hätte ich geahnt, wie grundlegend und dramatisch sich die Situation in der Ukraine kurz nach meiner Lektüre ändern sollte. Ein brutaleres Zusammentreffen von Fiktion und Realität ist kaum vorstellbar, denn natürlich sind auch die ukrainischen Leihmütter von dem Angriffskrieg betroffen (in den Medien finden sich wiederholt Beiträge und Berichte zu ihrer Situation).

Eine Leseempfehlung ist in diesem Kontext für mich nur schwer uneingeschränkt auszusprechen, doch möchte ich betonen, dass das ausschließlich an der grausamen Lebenswirklichkeit liegt, und keineswegs an dem Roman. Der ist in ganz besonderem Maße lesenswert!

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Veröffentlicht am 29.03.2022

Mitreißend und aktuell

Die Kinder sind Könige
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Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie ...

Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als berühmt zu werden. Bekannt. Begehrt. Bewundert. Und: geliebt. Denn das ist es doch, was Berühmtheit bringt, oder nicht? Mit dem Aufkommen neuer Fernsehformate wie „Big Brother“ scheint Mélanies Traum zum Greifen nah: Um im Reality-TV durchzustarten, bedarf es weder einer Modelfigur noch ausgeprägter Talente. Ihr erster Versuch scheitert kläglich; Mélanie ist, wie es scheint, nicht schön genug, nicht sexy genug, nicht extrovertiert genug, einfach: „nicht genug“. Das ändert sich, als Mélanie Mutter zweier entzückender Kinder wird – und entdeckt, dass ein süßes kleines Mädchen und ein aufgeweckter kleiner Junge in jeglicher Hinsicht „genug“ sind, und sogar mehr als das. Innerhalb kurzer Zeit wird Mélanie dank der – immer professioneller gestalteten – Videos und Storys ihrer Kleinen zu einer der bekanntesten und (einfluss-)reichsten „Momfluencerinnen“ Frankreichs. Endlich ist sie am Ziel ihrer Träume. Endlich ist sie bekannt. Endlich ist sie berühmt. Endlich wird sie von allen bewundert und geliebt … Von allen? Mit der Berühmtheit kommen die ersten kritischen Stimmen. Denn ausgerechnet ihre kleine Tochter Kimmy, der Star ihres YouTube-Kanals, wirkt immer lustloser, immer unwilliger, immer – unglücklicher. Und eines Tages ist Kimmy verschwunden …

Mit „Die Kinder sind Könige“ (aus dem Französischen von Doris Heinemann) nimmt die wie stets großartige Delphine de Vigan sich eines ebenso aktuellen wie brisanten Themas an: der kommerziellen Vermarktung, um nicht zu sagen Ausbeutung, von Kindern im Netz an. Dabei beweist sie nicht nur eine bemerkenswert scharfe Beobachtungsgabe, sondern spinnt den nur allzu realistischen Erzählfaden weiter in die Zukunft: Was wird einst aus diesen Kindern, deren Aufwachsen sich unter einem alles aufzeichnenden Auge und unter den Blicken von Millionen vollzogen hat? Wie entwickeln sie sich, wenn nahezu jedermann sie kennt? Kurzum: Was ist der Preis, den sie zahlen? Er ist, so viel sei verraten, astronomisch, denn:

„Nie werden all die Blicke abgewaschen sein, die sie durch einen Bildschirm hindurch beschmutzt, abgenutzt und beschädigt haben.“

Fazit: Ein großartiger, kluger Roman, der bereits jetzt zu meinen Lesehighlights des Jahres gehört.

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Veröffentlicht am 14.03.2022

Wer hätte ich sein können?

Ein völlig anderes Leben
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Nein, sie hatten wahrlich nicht das beste Verhältnis. Seit der Vater die Familie verlassen hat und ihre Schwester „verschwand“, bestand Jules Familie nur noch aus ihrer Mutter, und die zog sich nur allzu ...

Nein, sie hatten wahrlich nicht das beste Verhältnis. Seit der Vater die Familie verlassen hat und ihre Schwester „verschwand“, bestand Jules Familie nur noch aus ihrer Mutter, und die zog sich nur allzu oft in schwermütigen Phasen von ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrer Tochter zurück. Dennoch fühlt Jule sich nun, da ihre Mutter gestorben ist, einsam. Verlassen. Man könnte sagen, „entwurzelt“ – wenn es denn je so etwas wie echte Wurzeln – familiäre, soziale, emotionale – gegeben hätte. Bei der Wohnungsauflösung stößt sie indes auf Dokumente, die darauf hinweisen, dass ihre Mutter gar nicht ihre Mutter war, zumindest nicht ihre leibliche. Jule wurde, ohne dass sie je davon erfuhr, adoptiert, und das auf höchst umstrittenen Wegen. Erklärt das die Distanz, die sie immer zu spüren meinte? Und wäre ihr Leben „ein völlig anderes Leben“ geworden, wenn sie bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen wäre? Jule beschließt, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, und macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln – und damit letztlich nach sich selbst.

In ihrem Debütroman „Ein völlig anderes Leben“ nimmt Lisa Quentin sich eines aufwühlenden Themas und damit zugleich eines Aspekts der jüngeren deutschen Geschichte an, der – zumindest meinem Empfinden nach – in der öffentlichen Wahrnehmung eine erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend untergeordnete Rolle einnimmt. Aus zwei Erzählperspektiven schildert sie eindrücklich die Geschichte zweier Frauen, die zugleich so viel mehr ist als der literarische Bericht zweier Einzelschicksale. Die Umstände, die zu der Adoption führten, die von ihr verursachten seelischen Wunden und tiefen Spuren, die sie in den beiden Protagonistinnen hinterließ, bieten nicht nur den Hintergrund für ein aufwühlendes, emotionales und intensives Leseerlebnis, sondern zugleich ein literarisiertes Stück Zeitgeschichte, das noch lange nachwirkt.

Ein bemerkenswertes Debüt und eine lohnenswerte Lektüre!

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