Profilbild von dr_y_schauch

dr_y_schauch

Lesejury Profi
offline

dr_y_schauch ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dr_y_schauch über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 30.04.2021

Ein suggestiver Lesesog

Lichte Horizonte
0

Anne, Ende vierzig, verheiratet und Mutter, schreibt ihr zweites Buch. Dieses soll „ihr“ Buch werden, das Buch, in dem viel von ihr selbst, ihrem Leben, ihrer Vergangenheit und ihren persönlichen Erfahrungen ...

Anne, Ende vierzig, verheiratet und Mutter, schreibt ihr zweites Buch. Dieses soll „ihr“ Buch werden, das Buch, in dem viel von ihr selbst, ihrem Leben, ihrer Vergangenheit und ihren persönlichen Erfahrungen steckt. Die Rekapitulation vergangener Ereignisse weckt Erinnerungen: an die Frau, die sie einst war, an ihre Träume, Vorstellungen und Sehnsüchte, an die Männer, die sie einst liebte – oder nicht liebte – und an die Männer, die sie einst liebten – oder auch nicht liebten.

Ihre Auseinandersetzung mit der Anne von damals führt unweigerlich zu einer Betrachtung der Anne, die sie jetzt ist, des Lebens, das sie führt, der Gegenwart, die nicht nur ein gut situiertes, solides Familienleben vorhält – sondern auch Stéphane, den faszinierenden, äußerst anziehenden Musiker, der ebenso gebunden ist wie Anne, mit dem sie aber mehr verbindet, als – möglicherweise – ihrem Seelenfrieden zuträglich ist.

„Lichte Horizonte“ war ganz anders, als ich mir vorgestellt habe. Ich dachte, es handele sich um einen dieser Romane, die mal humorvoll, mal melancholisch, manchmal auch dramatisch oder gar tragisch das Leben einer Frau von Mitte/Ende vierzig reflektieren, ein – im besten Sinne – perfektes „Buch für zwischendurch“. Doch ich musste rasch feststellen, dass die Lektüre mich mehr bewegte, beschäftigte, gedanklich vereinnahmte, als ich erwartet habe. Und das lag vor allem an der Protagonistin und Ich-Erzählerin Anne, die mir nah genug war, um mich mit ihr zu identifizieren, und zugleich fern genug, um mich zu faszinieren. Ihre Worte, ihre von zahlreichen literarischen Anspielungen begleiteten Erinnerungen und Abschweifungen in die Vergangenheit (für mich als Literaturwissenschaftlerin ein besonderer Genuss) fügen sich zu einem assoziativen Erzählfluss, einem suggestiven Sog, der mich vereinnahmte, mich nahezu absorbierte. Eine für mich intensive Lektüre, die mich auch nach ihrem Abschluss noch eine ganze Weile weiterbeschäftigt hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.04.2021

Wie eine erwachsene Version eines Joël-Dicker-Romans

Jenseits der Erwartungen
0

Lincoln, Teddy und Mickey: Drei Männern in ihren Sechzigern, Freunde seit Studienzeiten, treffen sich eines Spätsommers in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Es ist Jahrzehnte her, seit sie zuletzt ...

Lincoln, Teddy und Mickey: Drei Männern in ihren Sechzigern, Freunde seit Studienzeiten, treffen sich eines Spätsommers in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Es ist Jahrzehnte her, seit sie zuletzt gemeinsam dort waren. Damals hatten sie gerade das College abgeschlossen und blickten teils einer hoffnungsvollen, teils einer ungewissen Zukunft entgegen: Es war die Zeit, in der das Los darüber entschied, ob man in den Vietnamkrieg eingezogen wurde, und Fortuna meinte es nicht mit jedem der drei gut. Und es war die Zeit, in der alle drei in dasselbe Mädchen verliebt waren, die hinreißende, freiheitsliebende, wunderhübsche Jacy. Jacy war in jenem schicksalhaften Sommer mit den drei Jungs im Ferienhaus – und wurde danach nie wieder gesehen.

Jetzt, fast vierzig Jahre später, kann Lincoln – obgleich seit Ewigkeiten glücklich verheiratet, stolzer Vater und Großvater, beruflich auf soliden Füßen – Jacys unbekanntes Schicksal noch immer nicht vergessen. Er nimmt das Wiedersehen mit den Freunden zum Anlass, die Umstände ihres Verschwindens zu erforschen, auch wenn er insgeheim befürchtet, dass Teddy oder Mickey daran beteiligt waren – in welcher Form auch immer.

Der Inhaltsangabe nach rechnet man mit einem Spannungsroman, wenn nicht gar Thriller, und zweifellos wird während der gesamten Handlung eine gewisse Grundspannung gehalten. Doch tatsächlich ist der Roman in meinen Augen weitaus vielschichtiger: Er ist eine Art Lebensbilanz dreier höchst unterschiedlicher Männer mit ebenso unterschiedlichen Lebenswegen, deren früheres, jüngeres, unverfälschtes Ich auch mit sechzig noch immer durchscheint (wer je auf einem Klassentreffen war, weiß vermutlich, was ich meine). Es ist zugleich eine subtile Gegenüberstellung eines vergangenen Amerikas mit dem gegenwärtigen, die indes beide die drei Freunde, jeden auf seine Weise, geprägt haben. „Jenseits der Erwartungen“ (fantastisch übersetzt von Monika Köpfer) war für mich – eingefleischte Dicker-Fans hören bitte mal kurz weg –, als läse ich eine bedeutend reifere und erfahrenere, gekonnte und auch kunstvollere Version eines Joël-Dicker-Romans.

Ganz große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.04.2021

Blieb hinter meinen Erwartungen zurück

Du hättest es wissen können
0

Dein Mann hat dich belogen und betrogen? Er hat dich gedemütigt, herabgewürdigt, schlecht behandelt? Du stehst unmittelbar vor einer schmutzigen Scheidung oder bist gar mittendrin? Tja, Mädchen, selbst ...

Dein Mann hat dich belogen und betrogen? Er hat dich gedemütigt, herabgewürdigt, schlecht behandelt? Du stehst unmittelbar vor einer schmutzigen Scheidung oder bist gar mittendrin? Tja, Mädchen, selbst schuld. Denn: „Du hättest es wissen können“!

Davon ist zumindest Grace, eine erfolgreiche New Yorker Therapeutin, überzeugt. Und ihre Erkenntnisse möchte sie fortan nicht nur mit ihren Klientinnen, sondern mit einem breiten Publikum teilen: Die Premiere ihres Buches steht unmittelbar bevor, alle Zeichen stehen auf Erfolg. Denn Grace hat ihrerseits – selbstverständlich – in dieser Hinsicht alles richtig gemacht. Ihr Mann Jonathan, ein aufopferungsvoller Kinderonkologe, ist ein Musterexemplar von einem Ehemann, der gemeinsame Sohn die Krönung ihres Lebens. Okay, Jonathan hält so manche Verabredung nicht ein, verschwindet bisweilen unangekündigt zu Medizinerkongressen – aber hey!, was sind Graces Bedürfnisse und Befindlichkeiten schon im Vergleich zur Rettung eines Kinderlebens? Eben!
Dass in ihrer Ehe vielleicht doch nicht alles so ist, wie es scheint, dämmert Grace, als die Mutter eines Mitschülers ihres Sohnes ermordet aufgefunden wird und Jonathan spurlos verschwindet. Sollte sie, die doch ein absoluter Profi auf dem Gebiet ist, sich tatsächlich in ihm geirrt haben? Gibt es da etwas, was sie hätte wissen können? Man ahnt es schon bald: ja, sogar eine ganze Menge.

„You Should Have Known“, wie der Originaltitel lautet, ist nicht nur ein New-York-Times-Bestseller, sondern wurde von der US-amerikanischen Presse gefeiert: „Ein ausgebuffter psychologischer Spannungsroman“ sei das Buch, „absolut faszinierend“ sei es, „mitreißend“ oder „unfassbar gut“. Nun ja …

Ich kann die Begeisterungsstürme leider nicht teilen. Ja, der Roman hat seine guten Momente, er ist zweifelsohne kurzweilig und unterhaltsam. Dass Jonathan nicht der ist, der er zu sein scheint, ist zwar schnell – vielleicht etwas zu schnell – erkannt, doch die sich langsam enthüllenden Hintergründe sind wirklich spannend zu lesen. Was meinem Lesegenuss indes einen Abbruch getan hat, war die Protagonistin Grace, die in ihrer Naivität und Verblendung auf Dauer, pardon, eine echte Nervensäge wurde und mein Mitgefühl letztlich etwas überstrapazierte. Auch die meiner Ansicht nach etwas betuliche Übersetzung ließ mich das eine oder andere Mal die Stirn runzeln. Mein persönliches Fazit: Alles in allem ist der Roman ein Regenwetter-Couch-Wolldecke-Buch, das durchaus unterhält, dem man aber nicht mit einer allzu hohen Erwartungshaltung begegnen sollte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.04.2021

Horizonterweiternd und durchaus anspruchsvoll

Du bist das Universum
0

„Alle Schöpfung bringt etwas aus dem Nichts hervor.“ (S. 41)
Spirituelle Bücher gibt es wie den sprichwörtlichen Sand am Meer oder, in diesem Fall vielleicht zutreffender, wie Sterne am Nachthimmel. Manche ...

„Alle Schöpfung bringt etwas aus dem Nichts hervor.“ (S. 41)
Spirituelle Bücher gibt es wie den sprichwörtlichen Sand am Meer oder, in diesem Fall vielleicht zutreffender, wie Sterne am Nachthimmel. Manche von ihnen sind hilfreich, geben Impulse und erweitern das eigene Denken, andere sind, das lässt sich nicht leugnen, in ihrer Banalität und/oder Spintisiererei schlichtweg ein Ärgernis.
„Du bist das Universum“ ist ohne jeden Zweifel der ersten Kategorie zuzurechnen. Dem Mediziner Deepak Chopra, der vielen als einer der größten spirituellen Vordenker gilt, und seinem Co-Autor, dem US-amerikanische Physiker Menas Kafatos, gelingt es in diesem Buch, zahlreiche sich scheinbar gegenüberstehende Konzepte miteinander in Einklang zu bringen und zu einer nicht nur harmonischen, sondern gleichsam unvermeidbaren Einheit zusammenzuführen: Spiritualität und Wissenschaft, ratio und emotio, Individuum und Kosmos. Die zahlreichen wissenschaftlichen Bezüge machen dabei den besonderen Reiz des Werkes aus, heben es aus (vermeintlich) ähnlichen Büchern heraus und verleihen ihm einen höheren Anspruch. Und das ist gleichzeitig der Punkt, der möglicherweise einige Leser*innen abschrecken könnte (oder überfordern oder langweilen oder alles zugleich). Deshalb gibt es von mir zwar eine klare Leseempfehlung, gleichwohl mit einer kleinen Einschränkung: Wer eine Art spirituellen Ratgeber sucht, den man einfach mal so zwischendurch liest, um praktische Impulse für seinen Alltag zu erhalten, wird „Du bist das Universum“ vermutlich rasch mit einem Stirnrunzeln beiseitelegen. Wer indes – idealerweise mit einem gewissen physikalischen Grundverständnis – bereit ist, seinen Horizont zu erweitern, wird dieses Buch mit großem Genuss lesen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 13.04.2021

Ein typischer Mosebach

Krass
0

„Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.“

Er macht seinem Namen – selbstverständlich – alle Ehre: Ralph Krass, ein undurchsichtiger ...

„Die Kraft eines Genies besteht darin, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Willen zu formen.“

Er macht seinem Namen – selbstverständlich – alle Ehre: Ralph Krass, ein undurchsichtiger Waffenhändler, der Ende 1988 umgeben von einer Handvoll „Freunde“ (man könnte auch sagen: Claqueure, wenn nicht gar Schmarotzer) so etwas wie Urlaub in Neapel verbringt. Seinem unbedarften Assistenten, dem erfolglosen Kunsthistoriker Dr. Jüngel, obliegt es, sich um alles Organisatorische zu kümmern. Dazu gehört nicht nur die Aufsicht über einen prallvollen Geldkoffer – Herr Krass bevorzugt Barzahlung –, sondern auch die Akquise eines neuen Mitglieds der ebenso illustren wie befremdlichen Gesellschaft: Lidewine Schoenemaker, jung, hübsch, sinnlich, und, seit sie ihren Liebhaber-Schrägstrich-Arbeitgeber, einen zweitklassigen Zauberkünstler, verlassen hat, arbeitslos und pleite. Krass ist großzügig, sehr sogar, allerdings nur, wenn man sich unwidersprochen und in jeglicher Hinsicht seinen Wünschen beugt. Das muss nicht nur die bezaubernde Lidewine feststellen, sondern auch der ach so loyale Jüngel, der im zweiten Teil des Romans ebenso arbeitslos und pleite wie einst Lidewine in Frankreich strandet und mit seinem Schicksal hadert. Im dritten Teil schließlich werden sich die Wege der drei in Kairo wieder kreuzen: zwanzig Jahre später und unter gänzlich veränderten Vorzeichen.

Das Wesen verkündende Namen, eine fulminante Sprache, die teils von großer Eleganz, teils von einem Hang zum Manierismus geprägt sind (auch in diesem Roman wird das Sofa zum „Sopha“, das Telefon zum „Telephon“ und „daß“ wird selbstredend mit „ß“ geschrieben), und Figuren, die während des Lesens Stirnrunzeln und Schmunzeln, Mitleid und Abscheu – und nicht selten alles zugleich – wecken: „Krass“ ist, wenn man so will, ein typischer Mosebach-Roman, was oftmals nichts anderes bedeutet als dass man ihn entweder feiert oder genervt die Augen verdreht und die Lektüre abbricht. Auch wenn der Sprachpomp mir bisweilen zu viel wurde und ich auf die eine oder andere Wortziselierung durchaus hätte verzichten können, habe ich Mosebachs neuen Roman mit außerordentlicher Freude gelesen. Dennoch würde ich ihn nicht uneingeschränkt empfehlen wollen, denn eines ist er ganz gewiss nicht: ein Allerweltsbuch, das immer und überall jede und jeden anspricht, unterhält, fesselt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere