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Veröffentlicht am 21.05.2024

Familienchronik und Kriegsdrama

Saturnin
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»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, ...

»Leute wie mich nennt man »Singles«, aber ich bin kein Single, ich bin einfach nur einsam.« S.13

Der 30-jährige Handelsvertreter mit dem sonderbaren Namen Saturnin würde gern die nette Apothekerin ansprechen, kauft aber stattdessen ständig Ohrstöpsel und tröstet sich mit Süßigkeiten. Sein Traum, Profisportler im Gewichtheben zu werden, ist längst geplatzt. Fast widerwillig kehrt er in sein Heimatdorf zurück, als seine Mutter Hania ihn anruft, dass sein Großvater Tadeusz verschwunden sei.

Małecki entblättert die Geschichte der Familie Markiewicz, über der ein bedrückendes Schweigen liegt, das jeder für sich mit etwas auszufüllen gelernt hat. Die Mutter mit Wörtern, der Großvater mit Arbeit und der kleine Saturnin mit Träumen und Selbstzweifeln.
Vieles in seinem Leben bleibt Saturnin lange ein Rätsel, woher sein bescheuerter Name kommt, wieso sein Vater in den entscheidenden Momenten abwesend ist. Er hadert mit seinen Sommersprossen, mit seiner Unfähigkeit, Frauen anzusprechen, mit seinem Hang, sich ständig zu überfressen.
Hania weiß das Schweigen zu füllen und klebt Wörter um sich, durch die sich Saturnin auf der Suche nach der eigentlichen Information hindurchwühlen muss.
Seine Mutter leide an »Satzlosigkeit, an fehlenden Punkten und anderen Satzzeichen«.

»Sie überschüttet mich mit Wörtern, und es ist unmöglich, diejenigen herauszufischen, die sie wirklich sagen will, denn sie sind mit dem ganzen Rest vermischt, mit all den Ausstopfwörtern, die ihr, seit sie denken kann, dazu dienen, sämtliche Ritzen und Risse zu schließen, all das, was sie nicht sehen will.« S.29

Dann endlich bricht der Großvater sein Schweigen. Die Erinnerung an den Krieg kehren zurück, an seine tote Schwester Irka, über die er nicht spricht. An Dinge, die er getan hat, die er wie seine Trompete am liebsten im Wald vergraben hätte.

Eine äußerst bewegende Geschichte über verpasste Chancen, unerfüllte Träume, Scham, Trauer und Verlust, die von ihrer Zartheit lebt, von virtuos komponierten Sätze, durchzogen von Zeitschleifen. Małecki spielt mit den schriftstellerischen Möglichkeiten, wechselt die Perspektiven, die Erzählform, streut einen Hauch magischen Realismus ein, weiß zu überraschen – vor allem mit seinem allerletzten Satz. Spannung schwebt über all dem, wie ein leichter Wind, der über die polnische Landschaft streicht. Doch die Molltöne der Melancholie schälen sich durch. Kriegstraumata, Tote, die auf seltsame Weise noch zwischen den Lebenden hängen und sich in dem Schweigen festgesetzt haben. Das transgenerationale Trauma der Sprachlosigkeit. Das Trauma eines ganzen Landes.

»… kurz danach ziehen die Polen wieder ein, beladen mit den Erlebnissen der Vertreibung. … Schöne Sätze von Krieg, Mut und Freiheit, er hätte Lust, sie alle zu sammeln und in den Ofen zu werfen.« S.248

Małeckis Geschichten tröpfeln in die Seele, wärmen, versöhnen und richten sich ein, um zu bleiben. Er ist aufrichtig, unverblümt mit seinen bodenständigen Figuren, die so wenig heldenhaft sind, wie polnisches Ackerland sehenswert ist. In denen wir unsere eigene Verzweiflung und Ängste entdecken können. Die Vergangenheit klebt an ihnen wie die Erde der Ackerscholle nach einem Regen. Traurigkeit hat tiefe Furchen gezogen, die Małecki mit der Magie des Alltags füllt, auf so traurig schöne Weise, dass ich seine Worte einatmen will.

Ich bin begeistert. Auch von der großartigen Übersetzung durch Renate Schmidgall.

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Veröffentlicht am 16.05.2024

Ein letztes Mal zurück in North Bath

Von guten Eltern
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Hat es sich gelohnt, zum 3. und letzten Mal nach North Bath zurückzukehren? Ein Ort, der mit Sully so eng verbunden war, wie sein Hintern mit dem Barhocker im Horse, auf dem jetzt nur noch ein Blechschild ...

Hat es sich gelohnt, zum 3. und letzten Mal nach North Bath zurückzukehren? Ein Ort, der mit Sully so eng verbunden war, wie sein Hintern mit dem Barhocker im Horse, auf dem jetzt nur noch ein Blechschild mit seinem Namen übrig ist?
Na ja ganz ist Sully nicht verschwunden, irgendwie lebt er in den Menschen ja doch weiter, die sich oft fragen: »Was würde Sully tun?«
Da ist sein Sohn Peter, der eigentlich gar nicht hier sein will, aber von seinem Vater nicht nur ein Haus geerbt hat, das er nun auf Vordermann bringen und verkaufen will, sondern auch eine Liste mit Namen, um die er sich kümmern soll. Allen voran Rub, Sullys Anhängsel, der ohne ihn nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Oder Ruth, Sullys ewige Geliebte, die versucht ihre Familie zusammenzuhalten.
Da wäre auch noch Raymer, der ehemalige Polizeichef des Ortes. Doch North Bath wurde nach einer langen Zeit des Sterbens endlich von Schuyler Springs eingemeindet, was seinen Job überflüssig machte. Aber man hält gern fest an alt Vertrautem und benachrichtigt ihn zuerst, als im Sans Souci eine Leiche gefunden wird. Doch das wäre eigentlich Charices Aufgabe, die inzwischen zur ersten Schwarzen Polizeichefin von Schuyler Springs ernannt wurde und dort nicht nur mit Rassismus, sondern auch noch mit Polizeigewalt befassen muss.
Und dann bekommt Peter auch noch unverhofften Besuch von seinem Sohn Thomas, zu dem er seit seiner Scheidung kaum noch Kontakt hatte. Doch sein Besuch endet fast in einem Desaster.

Über dem ganzen Buch schwebt der Geist der Vergangenheit, nicht in Form von Sully. Wie immer hat Russo die komplizierten Beziehungen seiner Figuren gut beobachtet. Sie taumeln zwischen Trauer und Erinnerungen, sie resümieren, philosophieren. Letztlich fühlten sich die vielen inneren verzweifelnden Monologe an, als hätte die Geschichte Bleigewichte an den Füßen und wollte nicht so recht vorwärtskommen. Aber der Reihe nach.

30 Jahre sind seit Erscheinen des 1. Bands vergangen. Während Russo im 1. Teil mit Sully seine Erinnerungen an seinen eigenen zu früh verstorbenen Vater verarbeitete, hat sich die Welt weiter gedreht. Unter anderem starb George Floyd durch die Hand eines Polizisten. Obwohl, wie Russo selbst sagt, nie ein 3. Teil geplant hat, hat er sich intensiv mit Schwarzen Autoren auseinandergesetzt und die Themen Rassismus und Polizeigewalt nach North Bath geholt. Dies hat er in meinen Augen sehr glaubwürdig dargestellt. Wie unterschiedlich die Sichtweisen von weißen und Schwarzen Menschen sein können, zeigt er in der Beziehung von Charise und Raymer. Allerdings muss Jerome, Charise’ Bruder, Raymer dazu einiges erklären, was zum Teil sehr zäh wird. Raymer, der ohnehin eine schwierige und humorlose Figur war, rückt mir hier zu sehr in den Vordergrund.
Rub und Carl, die Potenzial hatten, bekommen dagegen nur eine Nebenrolle. Damit ging auch viel von Russos Humor verloren, der seine umfangreichen Bücher enorm aufgelockert hat.
Am stärksten war für mich die komplizierten Eltern-Kinder-Konstellationen von Peter und Thomas sowie Ruth und Janey und deren Tochter Tina. Allerdings bleiben ein paar angelegte Konflikte in der Luft hängen. Legt Russo da einen 4. Teil an oder überlässt er es den Leserinnen, sich deren Zukunft vorzustellen?

Russo ist und bleibt einer meiner Lieblingsautoren, auch wenn ich hier nicht vor Begeisterung sprühe. Was mich immer wieder versöhnt, sind Sätze wie diese:

»Wie hätten Sie Ihr Steak gern?«
»So, dass ein guter Tierarzt das Rind noch retten könnte.«

Ich bleibe dieses Mal also etwas enttäuscht zurück und vertraue auf sein Wort, dass er kein viertes mal nach North Bath zurückkehren will, stattdessen Teddy aus »Jenseits der Erwartungen« eine weitere Geschichte widmen möchte. Wir dürfen also gespannt sein.
Eine Leseempfehlung gebe ich diesmal nur an die Leser
innen der vorigen Bände, Neueinsteiger könnten durch einige unverständliche Lücken enttäuscht sein.

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Veröffentlicht am 13.05.2024

Familienbande und das emotionale Erbe

Martha und die Ihren
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In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts ...

In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in prekärer Armut aufwächst. Eine von der Nachbarin vor die Haustür gestellte Schüssel Haferbrei wird für die Kinder zum Festessen. Auch wenn Martha, abgezählt nach Altersjahren, nur sieben gestrichene Löffel voll davon bekommt. Nach dem frühen Tod des Vaters weiß die Mutter nicht mehr, wie sie die sechs Kinder satt bekommen soll. Und so kommt Martha, wie auch ihre Geschwister, als Verdingkind zu einer anderen Familie.

»Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.« S.17

Dort ist sie als zusätzliche Arbeitskraft willkommen, aber nicht als zusätzlicher Esser. Die Schüssel mit den Kartoffeln ist oft schon leer, wenn sie bei ihr am Ende des Tischs ankommt. Doch Martha ist tapfer, kann zupacken und ist intelligent. Sie schafft es, eine Stelle in einer Strickerei in Bern zu ergattern und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Doch das Erlebte hat längst einen Weg tief in ihr Inneres gefunden, und sich dort festgesetzt. Und es wird nicht nur ihr Leben beeinflussen, sondern auch das ihrer Söhne.
Toni, der Älteste, kennt kein anderes Ziel, als den Makel, Sohn eines Verdingkinds zu sein, durch eigene Anstrengungen auszulöschen. Wenn er von der Mutter etwas gelernt hat, dann das hart verdiente Geld zu sparen und mit Zuneigung zu geizen.
Erst Tonis ältester Sohn Bastian, der sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, geht dem Gefühlsdefizit seiner Familie auf den Grund, rebelliert und versucht die Auswirkungen seiner Familiengeschichte zu verstehen.

Basis des Romans sind Hartmanns Gespräche mit seiner Großmutter, als sie schon alt ist, sich ein Leben lang verschlossen hat und nur bruchstückhaft über ihr Leben spricht. Diese Leerstellen füllt er mit einer hochemotionalen Geschichte, die so oder so ähnlich viele Familien ereilt hat. Armut war in der Schweiz nicht nur ein Makel, sondern ein Fehlverhalten und eine Gefahr für das Gemeinwohl, weshalb die Behörden bis in die 70er Jahre den Eltern die Kinder entzogen, sie auf Bauernhöfe schickte, in Armenhäuser und Heime. Und man kann Marthas ganzen Stolz, es aus diesem Milieu herausgeschafft zu haben, nachvollziehen.

»Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden«, sagt der Autor im Nachwort und als Leser*in versteht man es im Laufe der Geschichte, wie sehr dieser Makel zur Triebkraft von Marthas Kindern wurde, quasi als Trauma vererbt wurde.

Obwohl es nur wenige Schnittstellen mit meiner eigenen Familiengeschichte hat, kamen mir doch vieles bekannt vor. Eine Generation, die schweigt, die sich Emotionen versagt. Bloß keine Schwäche zeigen, keine Nähe zulassen. Die sich auf der Karriereleiter nach oben abmüht, ständig mit der Angst im Nacken, zu versagen und trotzdem das Gleiche von den Kindern einfordert. Doch die Kinder träumen von einem freieren Leben und sehnen sich nach Liebe um ihrer selbst willen.

Die Essenz des Romans ist für mich, wenn wir das Leben der Vorgeneration verstehen, können wir begreifen, warum sie sind, wie sie sind – warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir heute noch an diesem seelischen Erbe zu knabbern haben. Dass aufeinander zugehen, miteinander reden und verzeihen wichtige Schritte sind, um sich von den transgenerationalen Traumata zu befreien.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Zu konstruiert, zu gewollt

Der Wind kennt meinen Namen
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Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. ...

Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. Er wird seine Eltern nie wieder sehen. 80 Jahre später flüchtet die 7-jährige Anita mit ihrer Mutter aus Angst vor der Gewalt in El Salvador in die USA. Unter der Regierung Trumps werden dort Kinder von ihren Eltern getrennt. Wie viele andere landet Anita in einem Lager, immer in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Der Klappentext des Buches ist noch wesentlich blumiger und spektakulärer und es hätte eine emotionale Geschichte werden können. Hätte. Leider hat Allende es nicht geschafft, Emotionen bei mir zu wecken. Fast berichtartig jagt sie durch die Jahrzehnte, reiht auf eine bemühte Art Ereignis an Ereignis, streut alltägliche Nebensächlichkeiten ein und wenig glaubwürdige Dialoge. Alles wirkt reichlich konstruiert, um bei dem von ihr angestrebten Ende anzukommen. Umständliche Konjunktiv- und Passivkonstruktionen tun ihr Bestes, die Distanz zum Leser noch zu vergrößern. Es wird zusammengerafft, was nur geht. Für mich fühlte sich alles an, als würde ich Ähnliches bereits aus den Nachrichten oder aus Dokus kennen.

Zu viele Informationen werden vermittelt und ersticken die eh schon karge Handlung. Sie verliert sich in Einrichtungsbeschreibungen und reiht zahlreiche Menüfolgen aneinander, was leider keine Atmosphäre schafft, ja noch nicht mal authentisch wirkt, da oft um spanische Worte handelt, die übersetzt auch Bahnhof bedeuten können.

Zu viele schablonenhafte Figuren, die am Ende unwichtig sind, eine verschüttete Geschichte, die wahrscheinlich rührender gewesen wäre, hätte sie sich darauf konzentriert. Sie berichtet, kommentiert, streut Infos ein, um Zusammenhänge zu erklären, anstatt uns diese wirklich dramatischen Erlebnisse fühlen zu lassen. Und am Ende ist es einfach vorbei. Bisschen zu fix.

Ich denke, sie hat hier ein großes Anliegen gehabt, was vom Grundgedanken eine großartige Geschichte hätte werden können. Aber es fehlte an Tiefe, an Allendes magischem Realismus, kurzum, ich bin enttäuscht. Im Übrigen auch von der Übersetzung, die Anitas kindliche Gedanken in ein nacktes Schriftdeutsch übertragen hat, was völlig unglaubwürdig klingt.

Ich habe im letzten Jahr so viele großartige Bücher zum Thema Flucht gelesen, die mich berührt haben, deren Schicksale glaubhaft waren und die mir die vielen Zusammenhänge deutlich gemacht haben. Mag sein, dass es daran lag, dass mich Allende nicht erreichen konnte. Ich denke aber, sie wird ihre Leserinnen finden, die die nicht ganz so im Thema sind wie ich.

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Veröffentlicht am 07.05.2024

David Copperfield in den Apalachen

Demon Copperhead
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»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die ...

»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die zuerst von den Bergwerksbesitzern verlassen wurde, dann von denen, die noch bei Verstand waren und zuletzt auch noch von Gott.
Seine Teenagermutter ist high, als er auf den dreckigen Vinylfliesen in einem Trailer auf die Welt kommt, sein Vater tot.

»Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.« S.10

An seinem 11. Geburtstag knallt sich seine Mutter mit einer Überdosis Oxy weg und für ihn beginnt ein trauriges Leben in miesen Pflegefamilien. Gewalt, Hunger, harte Arbeit, Drogen sind seine ständigen Begleiter – der amerikanische Albtraum. Mit jedem neuen Kapitel wünscht man dem kleinen Rotschopf (daher sein Spitzname Copperhead), dass es diesmal für ihn gut ausgehen soll. Und immer wieder denke ich: Nein, bitte nicht auch das noch.

»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.« S.741

Doch Demon hat eine Superkraft, na eigentlich zwei. Er liebt Comics und ist ein begnadeter Zeichner. Aus seinen Freunden macht er Superhelden, denn scheinbar mühelos erkennt er, was sie im Kern ausmacht. Nur seine eigene Superkraft zu erkennen, fällt ihm schwer. Aber er ist ein unverwüstliches Stehaufmännchen mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Als der 11-Jährige gefragt wird, was er einmal werden wolle, sagt er: »Hauptsache, noch am Leben«.

Nicht zuletzt ist es Kingsolvers herausragendes schriftstellerisches Talent mit ausgefallenen Sätzen, auffälligen Metaphern und Demons flapsiger Stimme, sein Schicksal für uns Leser*innen aushaltbar zu machen.

Kingsolvers Roman ist eine Hommage an ihre Heimat, die Appalachen. Dort, in einem der ärmsten Gegenden Amerikas, in Lee County, Kentucky, wächst ihr Protagonist auf. Ein Landstrich, der verächtlich als der Fußabstreifer des Landes bezeichnet wird, ihre Bewohner als Hillbillys. Um sie aus der Vergessenheit herauszuholen, transferiert sie Dickens Sozialdrama »David Copperfield« auf eine tief beeindruckende und intensive Weise. Mit der wachsenden Reife von Demon erfahren wir viel über die geschichtliche Entwicklung seiner Heimat, darüber, warum keiner Interesse an den Menschen hat, die von Sozialschecks, Schwarzbrennerei und Eigenversorgung leben. Und warum ausgerechnet sie das bevorzugte Opfer der Pharmaindustrie wurden.
Sie übt Kritik am bestehenden Sozialsystem, das massiv überfordert ist, deren Schutzbedürftige nur eine Aktennummer und sich selbst überlassen sind. Das alles wird überschattet von der großen Opioid-Krise, die in den letzten Jahren hunderttausend Tote hinterlassen hat. Demon ist ein dieser Babys, die schon süchtig zur Welt kommen.

Missverstanden, auf Stereotype reduziert, wegen ihres Akzents verspottet und ungesehen vom Rest der Welt. Und daher sind die letzten Worte in der Danksagung ihnen gewidmet:

»Die Kinder, die an diesen dunklen Orten jeden Tag hungrig erwachen, die ihre Eltern durch Armut und Schmerzmittel verloren haben, deren Sachbearbeiterinnen ständig ihre Akten verlegen, die sich unsichtbar fühlen oder sich wünschen, sie wären es: Dieses Buch ist für euch.«

Eine schmerzhaft schöne Geschichte, die mit jeder Seite süchtig macht, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. 800 Seiten, die emotional fordern, aber ebenso spannend wie lehrreich sind, die viel zu schnell vorbei waren.

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