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Veröffentlicht am 16.03.2025

Von Sprache, Familie und Krieg

Russische Spezialitäten
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Wenn man als Kind in ein neues Land mit einer neuen Sprache kommt, dann droht buchstäblich das Entgleiten der Muttersprache. Denn selbst wenn die zu Hause gesprochen wird - Kinder können sprachliche Mimikrys ...

Wenn man als Kind in ein neues Land mit einer neuen Sprache kommt, dann droht buchstäblich das Entgleiten der Muttersprache. Denn selbst wenn die zu Hause gesprochen wird - Kinder können sprachliche Mimikrys sein. Und anders als für die Erwachsenen in der Familie "reift" ihre muttersprachliche Sozialisation nicht mit dem Erwachsenwerden häufig nicht mit, sondern behält eine gewisse Kindlichkeit, die später Befremdlichkeit auslöst, erneut ganz buchstäblich: Sie haben zwar eine Muttersprache, sind aber irgendwie fremd in hier. In "Russische Spezialitäten" von Dmitrij Kapitelman geht es stark um Sprache als Heimat und den Heimatverlust, der auch Sprachverlust sein kann. Ganz besonders wenn politische Entwicklungen die Identität erschüttern und innerhalb der Familie zerreißen:

Der Erzähler, in Kiew geboren und im Grundschulalter nach Deutschland gekommen, und seine Familie waren russischsprachige Ukrainer. Der Krieg spaltet die Familie. So sehr die Mutter sich voller Zuneigung an Kiew erinnert, so gläubig lauscht sie nun den russischen Propagandasendungen, die sich auch an die russischsprachige Diaspora in Deutschland wenden. Ich-Erzähler Dmitrij (es bleibt offen, inwieweit die familiäre Zerrissenheit autobiografisch ist, wenn auch Erzähler Dmitrij und Autor Dmitrij vieles gemeinsam haben) fühlt sich solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, die gegen die russische Aggression kämpfen. Und hadert plötzlich mit der Sprache, die er so liebt und die plötzlich die Sprache des Feindes ist:

"Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir und liebe sie doch, bei aller Schuld. Neben aus der Ukraine geflohenen Menschen stehe ich stumm wie ein Baumstumpf. Zumindest bis ich einige von ihnen ebenfalls Russisch sprechen höre."

Die Zerrissenheit ist umso größer, da sich das ganze Leben der Familie auch beruflich in einem postsowjetischen Mikrokosmos in Leipzig bewegt, dem "Magazin", jenem Geschäft für russische/ukrainische/georgische usw Spezialitäten, das auch kulinarisches Heimweh bedient. In den Corona-Jahren ist Dmitrij hierhin zurückgekehrt als Manager, die alternden Eltern sollen so geschützt werden. Von den Pandemiejahren hat sich der Laden nie erholt, und auch das gesellschaftliche Klima tut ihm nicht gut, während eine gegen Migranten hetzende Partei immer mehr Zuspruch erhält.

Kapitelman beschreibt, wie der Krieg Familien spaltet und Freundschaften zerstört, wie Dmitrij schließlich noch einmal in seine Geburtsstadt fährt, seinen Sandkastenfreund Rostik besucht, immer mit der Angst im Hinterkopf, er könnte trotz deutscher Staatsbürgerschaft an der Ausreise gehindert und in die Armee eingezogen werden. Die Schilderungen dieser Erfahrungen zwischen Raketenalarm und Zusammengehörigkeitsgefühl, Nostalgie und Trauer über die Zerstörungen sind besonders eindrucksvoll in diesem Buch, dass trotz schwerer Themen eine gewisse Leichtigkeit bewahrt. Das Verhältnis des Autors zu seinen Eltern - liebevoll, wütend, besorgt wird mit einer Prise Humor und viel Wärme gezeichnet. Ein Buch, das den Krieg und das, was er mit den Menschen macht, auch denjenigen näherbringen kann, die Nachrichtensendungen ignorieren.

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Veröffentlicht am 09.03.2025

Geheimnisse um einen Ex-Präsidenten

Von Schafen und Wölfen
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Ein polarisierender Ex-Präsident mit einem Geheimnis, das unbedingt gewahrt werden muss, ein Plot, der zurück zum Sturm auf das Kapitol zurückreicht, eine Medienfusion, die eine Qualitätszeitung womöglich ...

Ein polarisierender Ex-Präsident mit einem Geheimnis, das unbedingt gewahrt werden muss, ein Plot, der zurück zum Sturm auf das Kapitol zurückreicht, eine Medienfusion, die eine Qualitätszeitung womöglich inhaltlich unter den Einfluss eines globalen Medienkonzerns bringt: "Von Schafen und Wölfen" von Achim Zons klang nach einem Polit- und Medienthriller mit aktuellen Bezügen, auf den ich gleich nach der Lektüre des Klappentextes sehr gespannt war.

Der "Deutschen Allgemeinen Zeitung", die irgendwie an die Süddeutsche erinnert, wird kurz vor der Fusion mit einem amerikanischen Medienkonzern eine brisante Information zugespielt: Der ehemalige US-Präsident soll an einem seltenen Gendefekt leiden, den er an mindestens zwei Nachkommen weitergegeben haben soll. Die entsprechende Akte ist seit dem Sturm auf das Kapitol verschwunden. Chefreporter David stößt im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod einer alten Freundin auf Ungereimtheiten und ein neues Rätsel: Wer hat die Leiche ihres tödlich verunglückten Sohnes gestohlen?

Seine Tochter Emma wiederum, die es offenbar gleich nach dem Abi und ohne Volontariat ins Investigativteam der Zeitung geschafft hat, nun aber endlich mal wieder eine große Geschichte liefern muss, hofft mit Hilfe eines Nerds finsteren Machenschaften auf die Spur zu kommen, verheddert sich aber zugleich in ihrem Gefühlsleben. Der gewaltsame Tod eines US-Korrespondenten lässt ahnen, dass es tatsächlich Geheimnisse gibt, die von einigen Menschen um jeden Preis geschützt werden müssen.

Macht und Medien - das ist eigentlich immer eine spannende Kombination. Hinzu kommt die Verbindung von Fiktion mit aktuellen Bezügen. Eigentlich ein Mix, der genau der richtige Lesestoff für mich wäre. Aber einerseits sind dann einige Entwicklungen doch recht unglaubwürdig, andererseits scheint der Autor ein wenig zu selbstverliebt in seinen Protagonisten zu sein, so ein Supertyp, auf den alle Frauen fliegen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht wollen. Und überhaupt, die Frauenfiguren - die konnten nun gar nicht überzeugen. Da schien irgendwie das Wunschdenken dahinter zu stecken, dass auch Powerfrauen eigentlich nur den richtigen Kerl brauchen, und schon wird das Denken weitgehend ausgeschaltet. Insofern leider mehr Melodram als Politthriller, trotz eines vielversprechenden Ansatzes.

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Veröffentlicht am 05.03.2025

Tödliches Autorenfestival

Die mörderischen Cunninghams. Jeder im Zug ist verdächtig (Die mörderischen Cunninghams 2)
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Mit den Regeln des Kriminalromans kennt sich Ernest Cunningham aus - als Romanautor hat er aber gegen eine ziemliche Schreibblockade anzukämpfen. Dabei rückt nicht nur die Deadline für sein Buch immer ...

Mit den Regeln des Kriminalromans kennt sich Ernest Cunningham aus - als Romanautor hat er aber gegen eine ziemliche Schreibblockade anzukämpfen. Dabei rückt nicht nur die Deadline für sein Buch immer näher, er ist auch zu einem rollen Krimiautorenfestival an Bord eines Zuges quer durch das australische Outback eingeladen. In "Die mörderischen Cunninghams" musste Ernest eines Serienmörder während eines Familientreffens in einer eingeschneiten Berglodge entlarven. Und auch auf der Zugfahrt geht es wieder tödlich zu: "Jeder im Zug ist verdächtig" lautet der Titel des Folgebands von Benjamin Stevenson.

Es geht einmal mehr turbulent zu - und Ernest ist nicht immer der Ermittler mit der schärfsten Spürnase. Leicht überfordert ist er auch, als es darum geht, seiner Freundin und Reisebegleiterin bei einem Stopp im Outback einen Heiratsantrag zu machen. Vermutlich war es nicht gerade geschickt, ihr vor der entscheidenden Frage damit zu konfrontieren, dass auch sie durchaus unter seinen Mordverdächtigen ist. So was ist denn doch ein echter Romantik-Killer.

Ein Killer geht aber auch im Zug rum und auf dem Autoren-Podium des Festivals werden unfreiwillig Plätze frei. Diesmal muss sich Ernest zwar nicht unter seiner mörderischen Familie bewegen, aber auch die Literaturwelt hat offensichtlich tödliche Nebenwirkungen - mal ganz abgesehen von einigen verlorenen Illusionen, wenn Star-Autoren aus nächster Nähe beobachtet werden. Der mitunter etwas tolpatschige Ernest gerät einmal mehr in ziemlich haarsträubende Situationen - doch vor dem Ende der Reise wird er dann doch den Durchblick haben.

Der Folgeband zu den mörderischen Cunninghams ist durchaus gelungen, allerdings ist es doch bedauerlich, dass Ernests exzentrische Verwandtschaft diesmal außen vor bleibt, die im ersten Band für eine ganz besondere Dynamik sorgte. Ernests Ermittlungen sind unterhaltsam und mit manchem kleinen Seitenhieb auf die Literaturwelt versehen - und die goldenen Regeln des Kriminalromans werden natürlich ebenfalls in Erinnerung gerufen.

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Veröffentlicht am 04.03.2025

Tödlicher Filmdreh

Mord im Chateau
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Das hätte sich Filmhistoriker Richard Ainsworth nicht träumen können, seit er seine akademische Karriere gegen den Betrieb einer kleinen Frühstückspension in Frankreich eingetauscht hat: Ein Filmteam ...

Das hätte sich Filmhistoriker Richard Ainsworth nicht träumen können, seit er seine akademische Karriere gegen den Betrieb einer kleinen Frühstückspension in Frankreich eingetauscht hat: Ein Filmteam ist angerückt, um einen historischen Film in der Region zu drehen. Cineast Richard ist begeistert, doch auch zusammen mit seiner Detektiv-Partnerin Valérie hat er mit den Filmleuten zu tun. Am Set gab es nämlich einige merkwürdige Vorfälle, eine junge Schauspielerin, die zudem eine Art Patentochter Valéries ist, wird bedroht. Das ungleiche Team soll sich um den Schutz auf dem Filmset kümmern. Als Security-Chef hat Richard schon bald viel Arbeit. Erst stirbt ein Komparse, dann kommt ein Schauspieler ums Leben. An eine natürliche Todesursache will Richard nicht glauben, so sehr der Produzent um eines reibungslosen Filmdrehs willen auf reinen Zufall pocht.

Zwischen exzentrischen Darstellern, die sich teilweise als echte Ekelpakete herausstellen, einer plötzlichen Funktion als Pressesprecher und angesichts neuer Drohungen und Intrigen sehnt sich Richard schon bald nach ein bißchen Qualtiy Time mit seinen geliebten Legehennen. Doch der Hühnerstall muss ein Sehnsuchtsort bleiben, solange im historischen Chateau vermutlich ein Mörder herumschleicht.

Ian Moores "Mord im Chateau" lebt wie schon die Vorgängerbände von dem Gegensatz zwischen dem eher weltfremden Cineasten Richard und der mondän-mysteriösen Valérie. Das ungleiche aber erfolgreiche Gespann wird einmal mehr ergänzt durch mittlerweile vertraute Nebenfiguren wie die resolute Putzfrau, die Betreiber einer Swingerclub-Pension und Richards Noch-Ehefrau. Und auch die britisch-französischen Kontraste in Temperament wie Lebensphilosophie geben dem rasanten Cozy-Krimi einmal mehr eine besondere Würze. Das augenzwinkernde Spiel mit Klischees macht einfach Spaß. Da hoffe ich doch mal auf ein Encore.

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Veröffentlicht am 04.03.2025

Coming of Age-Geschichte im Bürgerkrieg

Nachtgäste
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Nenad Velickovic´s Roman "Nachtgäste" ist vor 30 Jahren erschienen und klingt doch ungemein aktuell, vielleicht abgesehen von Erwähnungen etwa eines Walkman - die Leser*innen im Alter der 18 Jahre alten ...

Nenad Velickovic´s Roman "Nachtgäste" ist vor 30 Jahren erschienen und klingt doch ungemein aktuell, vielleicht abgesehen von Erwähnungen etwa eines Walkman - die Leser*innen im Alter der 18 Jahre alten Ich-Erzählerin Maja wissen vermutlich gar nicht mehr was das ist. Maja ist 18 und ihr Traum ist es, Schriftstellerin zu werden. Ihr Leben besteht nicht aus Parties und Musik, der Erwartung, vielleicht Literatur zu studieren, sondern der Beschaffung von Trinkwasser und kargen Lebensmittelrationen, stets in der Furcht von Scharfschützen, aus Nächten im Keller und Granat- und Raketenbeschuss. Immerhin nicht irgendein Keller, sondern der des Museums, dessen Direktor ihr Vater ist.

Erinnert an das Leben junger Ukrainerinnen und Ukrainer in Charkiv oder Mariupol, doch es ist ein anderes Land, ein anderer Krieg. Maja lebt in Sarajevo, und um sie herum ist der Traum vom südslawische Vielvölkerstaat gerade in blutige Einzelteile zerbrochen. Die Bosnier sitzen in der Stadt fest, in den Bergen schießen die Serben. Manche Nachbarn entdecken gerade ihre bosnisch-muslimische Identität, doch nicht überall sind die Verhältnisse so eindeutig, auch nicht in Majas Familie: Mutter und Oma sind jüdisch, der Vater Bosnier, der ältere Halbbruder hat einen serbischen Vater und versucht sich hartnäckig der Einberufung zu entziehen, weil er nicht auf Serben schießen will und obendrein seine Frau schwanger ist.

In ihrem Tagebuch notiert Maja ihre Beobachtungen, die Zankereien und Versöhnungen der Schicksalsgemeinschaft im Museum, zu der auch noch zwei alte ehemalige Partisanen gehören, die hypochondrische Schwägerin und quasi als Dauergäste die Nachbarin mit ihrer großen Kinderschar, deren Ehemann einer der bosnischen Kommandanten ist, vor allem aber gut im Organisieren und Requirieren ist.

Scharfsinnig, mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor und Ironie beobachtet Maja den Mikrokosmos im Museum, die Verhandlungen mit verschiedenen Uniformierten. Während es ihrem Vater vor allem um den Schutz der Museumsexponate geht, scheint die esoterisch angehauchte Mutter in einer ganz eigenen Welt zu leben. Maja sehnt sich nach Büchern, nach Gesprächen mit ihrem Literaturprofessor, die schüchternen Annäherungsversuche eines jungen bosnischen Kämpfers versucht sie abgeklärt an sich abprallen zu lassen. Gerade weil sie nicht dramatisiert, wird der Alltag der Bürgerkriegs konkret, jenseits von Heldenmythen und Parteinahmen. Eine berührende Coming of Age-Geschichte im Bürgerkrieg, die trotz des ernsten Hintergrunds auch unterhaltsam ist.

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