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Veröffentlicht am 29.09.2021

Der Preis der billigen Pflegekräfte

Wenn ich wiederkomme
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Die EU-Osterweiterung brachte für viele Menschen Hoffnungen auf mehr Wohlstand, Geld für eine bessere Zukunft, für Bildungschancen für ihre Kinder, für Träume von einem Morgen, die die Opfer von heute ...

Die EU-Osterweiterung brachte für viele Menschen Hoffnungen auf mehr Wohlstand, Geld für eine bessere Zukunft, für Bildungschancen für ihre Kinder, für Träume von einem Morgen, die die Opfer von heute erträglich machten. Doch vor allem im Fall der Elternpaare und Frauen, die ihre Kinder bei Verwandten zurückließen, hatte die Erfüllung dieses Traums einen hohen Preis. Von "Euro-Waisen" war die Rede. In seinem Buch "Wenn ich wiederkomme", beschreibt der italienische Autor Marco Balzano eine rumänische Familie und die Härten, die die Arbeit der Mutter als Pflegekraft in Italien für alle bedeutet.

Daniela geht heimlich nach Mailand. Ihr Mann, der wenig Unterstützung leistete, bleibt ebenso zurück wie die beiden Kinder, die 16-jährige Tochter, fleißig und zuverlässig, die unversehens in die Rolle der Ersatzmutter geschubst wird, und den zehnjährigen Sohn, der die Mutter für den als Verrat empfundenen Aufbruch mit Liebesentzug und immer größer werdenden materiellen Forderungen straft. Stabilisierender Faktor sind die Großeltern, die sich um die Kinder zu kümmern versuchen, aber aus Alters- und Gesundheisgründen nur begrenzt dazu in der Lage sind.

In dei Abschnitten erzählt Balzano aus der Perspektive von Sohn, Tochter und Mutter und gibt Einblick in die Herausforderungen der Situation für jeden von ihnen,: Der Sohn, der in der Dorfschule Bestnoten hatte, fällt im städtischen Privatgymnasium rapide ab, kapselt sich ein. Als die ältere Schwester ein Studium beginnt und die strenge Aufsicht zu Hause wegfällt, fängt er an zu trinken und zu kiffen. Dann stirbt auch noch der Großvater, die männliche Identifikationsfigur und das Vorbild des Jungen, der am liebsten Bauer werden und das aufgrund der Emigration sterbende Dorf retten will. Die Schwester dagegen will raus aus dem Dorf, hofft auf ein bißchen Freiheit, fühlt sich überfordert mit der Verantwortung, die ihr in jungen Jahren aufgeschultert wird.

Die Mutter wiederum macht als Fremde demütigende Erfahungen, muss sich durchbeißen, kämpft mit Einsamkeit und Heimweh. Die Videogespräche mit der Familie werden zum Symbol der Entfremdung und auch die Heimatbesuche können die wachsende Distanz schwer überbrücken. Als der Sohn nach einem Motorradunfall im Koma liegt. zwingt die neue Krise zu Entscheidungen und Neuorientierungen.

Im Nachwort schreibt Balzano, er habe vor dem Schreiben ausführlich zur Situation der Migrantinnen recherchiert, Experten zu den Problemen der zurückbleibenden Familien, gerade auch der Kinder und Jugendlichen befragt. Durch die verschiedenen Perspektiven gelingt es ihm, die jeweiligen Probleme und Sichtweisen auszuleuchten. Die Menschen, die sonst unter dem Begriff "ausländische Pflegekraft" gesichtslos und anonym bleiben, werden so greifbar, wobei Balzano auf Sozialkitsch verzichtet. Mit Sympathie, aber respektvollem Abstand gibt er gar nicht vor, alles über seine Protagonisten zu wissen. Eher am Rande skizziert sind diejenigen, die von den billigen Arbeiterinnen aus Ost- und Südosteuropa profitieren.

Balzano schreibt mit Empathie und offenem Blick von Träumen, Aufbruch und Scheitern. Es wäre schön, wenn sein Buch auch bei solchen Lesern landet. die sich gerne über Wirtschaftsflüchtlinge ereifern. Und es zeigt, was Migration nicht nur für die bedeutet, die aufbrechen, sondern auch für diejenigen, die zurückbleiben.

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Veröffentlicht am 24.07.2021

Unfreiwilliger Urlaub in den Bürgerkrieg

Wild Card
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Weston Kogi ist Yoruba und in dem fiktiven westafrikanischen Staat Alcacia (Nigeria lässt grüßen!) geboren. Doch seit seine Tante Blossom ihn und seine Schwester als Teenager in ein Flugzeug nach England ...

Weston Kogi ist Yoruba und in dem fiktiven westafrikanischen Staat Alcacia (Nigeria lässt grüßen!) geboren. Doch seit seine Tante Blossom ihn und seine Schwester als Teenager in ein Flugzeug nach England gesetzt hat, um die Geschwister in Sicherheit vor politischen Unruhen zu bringen, ist einige Zeit vergangen. Weston mag Afrikaner sein, doch er fühlt sich als Südlondoner. Nun muss er aber zurück in die ursprüngliche Heimat: Die Tante ist gestorben, und Weston kann auf der Beerdigung nicht fehlen, Nur ein paar Tage, so hat er sich vorgenommen. Doch dann kommt für den Ich-Erzähler in Tade Thompsons Roman "Wild Card" alles ganz anders.

Weston gehört nicht zu den Diaspora-Afrikanern, die sich nach den fernen Wurzeln verzehren. Sein Yoruba ist holprig geworden, und schon die Ankunft auf dem Flughafen empfindet er als eher herbe:

"Niemand hieß einen in Ede City willkommen; man wurde lediglich darüber in Kenntnis gesetzt, dass man gelandet war, dann musste man selbst sehen, wie man zurecht kam oder unterging. Keiner war zum Spaß hier, nach Alcacia reiste nur, wer musste. So wie Abgeordnete der UN-Friedensmissionen. Wie UNESCO-Vertreter. So wie ich."

Der erste, aber keineswegs letzte korrupte Beamte lauert gleich bei der Passkontrolle. Auch sonst löst das Wiedersehen mit der Heimat wenig sentimentale Gefühle bei Weston aus: Da sind die Hitze, der Dreck, Aberglauben, das Wiedersehen mit so ungeliebten alten Bekannten wie seinem ehemaligen Mitschüler Church, der ihm auf dem Internat das Leben zur Hölle gemacht hat. Auge in Auge mit seinem Schul-Alptraum kann sich Weston eine kleine Hochstapelei nicht verkneifen, bezeichnet sich als Detective bei der Mordkommission. Dabei ist er lediglich Wachmann in einem Supermarkt.

Die kleine Schwindelei hat Folgen, denn in den 15 Jahren seit Weston Alcacia verlassen hat, ist die Lage dort nicht ruhiger geworden. Gleich zwei Rebellengruppen entführen ihn nacheinander und wollen ihn für ihre Zwecke einspannen. Er soll den Tod eines Politikers aufklären, der zwischen Rebellen und Regierung vermittelte, einen Frieden für das leidgeprüfte Land erreichen würde. Angesichts der ständigen Bedrohung durch Gewalt, Folter und einen vermutlich ziemlich unangenehmen Tod kann Weston gar nicht anders: Er muss ermitteln. Nicht nur fachlich fühlt er sich überfordert, denn Leichen, Gewalt und Gefahren findet er gewissermaßen an jeder Straßenecke.

Tade Thompson überzeugt einerseits mit einer rasanten Handlung und immer neuen Steigerungen der Abenteuer seines Helden, andererseits mit schwarzem britischen Humor und Understatement. So sarkastisch, unterhaltsam und realistisch zugleich habe ich seit Michael Holmans "Kuvisha" Triologie nicht über Afrika gelesen. Und so wie dort unter fiktivem Namen Missstände und Alltag in Kenia gleichermaßen dargestellt werden, ist Alcacia eine einzige literarische Anspielung auf Nigeria. Ob Geisterglauben, Ahnenkult, Korruption, das System der Kleinkriminalität oder der scheinbar ewige Kreislauf politischer, ethnischer und ideologischer Trennlinien und Konflikte - Weston stolpert in jede Krise, die seine alte Heimat bietet. Oft blutig und brutal, immer wieder haarsträubend, mit einem mitunter derben Humor, niemals langweilig ist "Wild Card" ein Lesevergnügen, dass bei mir eine Menge afrikanischer Erinnerungen wachruft. An das Afrika jenseits der Safari-Urlaube - herausfordernd, oft unberechenbar aber immer fesselnd.

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Veröffentlicht am 11.07.2021

Schuld, Sühne und eine Nacht mit tragischen Folgen

Von hier bis zum Anfang
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2021 hat sich bisher als gutes Bücherjahr erwiesen - und mit Chris Whitakers Roman "Von hier bis zum Anfang" habe ich gerade ein weiteres Buch mit Wow-Effekt beendet, das sicher noch eine ganze Weile nachhallen ...

2021 hat sich bisher als gutes Bücherjahr erwiesen - und mit Chris Whitakers Roman "Von hier bis zum Anfang" habe ich gerade ein weiteres Buch mit Wow-Effekt beendet, das sicher noch eine ganze Weile nachhallen wird. Das liegt an zwei Gründen - an Whitakers Schreibstil, der manchmal klingt wie aus einem Chandler-Roman der Noir Serie ("Wenn Häuser Seelen hätten, wäre das von Star so schwarz wie eine Dezembernacht"), manchmal sowohl spröde als auch poetisch schreibt. Und an einer der Protagonistinnen, der 13-jährigen Duchess. Das Mädchen, das nicht weint und sich als Outlaw sieht, das sich nichts gefallen lässt und liebevoll den kleinen Bruder Robin umsorgt, da die alleinerziehende Mutter Star der beiden ihr Leben nicht in den Griff bekommt.

Das Unglück der Familie hat eine Vorgeschichte: Als Star 15 war, starb ihre kleine Schwester. Verantwortlich für den Tod ist Stars damaliger Freund Vincent - und auch wenn es sich um einen tragischen Unfall handelte, den er selbst gar nicht bemerkt hatte kommt der 15jährige in ein Gefängnis mit lauter erwachsenen Straftätern. Es war eine Nacht, so heißt es später in dem Buch, in der "eine Million Tragödien ihren Anfang genommen" haben - wie sehr sie auch eine Generation später nachwirken, wird gerade an Star mit ihren Alkoholproblemen, Depressionen und Selbstmordversuchen deutlich.

Nun wird Vincent nach 30 Jahren entlassen. Der einzige, der sich während all der Jahre um Kontakt bemühte, ist sein Walk, der Polizist der fiktiven kalifornischen Kleinstadt. Er war Vincents bester Freund - und hat doch die Polizei verständigt, als ihm klar wurde, dass sein Freund verantwortlich für den Tod der kleinen Sissy war. Für Duchess und Robin ist er die positive männliche Figur in ihrem Leben, der versucht, ein bißchen Stabilität zu schaffen.

Vincents Entlassung aus dem Gefängnis bringt das Gefüge der Kleinstadt durcheinander. Und als Star erschossen aufgefunden wird, wird Vincent als Tatverdächtiger verhaftet, ihm droht die Todesstrafe. Der kleine Robin hat den Täter möglicherweise gesehen, doch der schwer traumatisierte Junge leidet unter Gedächtnisverlust. Während Duchess und Robin zu ihrem Großvater nach Montana kommen, den sie nie zuvor gesehen haben, glaubt Walk als einziger an die Unschuld Vincents und versucht zusammen mit dessen Anwältin, Beweise zu finden, dass Vincent die Tat nicht begangen haben kann.

Hier splitten sich die Handlungsstränge auf - Walks Detektivarbeit auf der einen Seite, während gesundheitliche Probleme ihm die Arbeit immer mehr erschweren, das Leben von Duchess und Robin bei ihre Großvater auf der anderen Seite. Während Duchess ihrem Großvater voller Misstrauen begegnet, ihn ständig zu schockieren versucht und noch nicht mal Essen von ihm annehmen will, blüht Robin auf der Ranch, auf der er die Hühner versorgen darf, auf.

Doch gerade, als Duchess und ihr Großvater vorsichtige Schritte aufeinander zumachen können, kommt es zu einem weiteren Schicksalsschlag, die Geschwister enden in einer Pflegefamilie und Duchess, die überall aneckt und keiner Konfrontation aus dem Weg geht, merkt, dass die Chancen auf eine Adoption für Robin verschwindend gering sind, wenn sie bei ihm bleibt. Zugleich fühlt sie sich immer mehr getrieben, der Outlaw-Vergangenheit ihrer Vorfahren zu folgen und Rache für den Tod ihrer Mutter zu üben.

"Sie wusste, dass die Sehnsucht nach Rache manchmal alles Gute auffressen konnte, das einst in einem Menschen gesteckt hatte. Nur Walk hielt sie davon ab, etwas Dummes zu tun. Er war ihre Verbindung zum Guten, er ließ sie in die Zukunft schauen, nicht auf die Gegenwart. Walk erinnerte sie daran, dass Menschen gut sein konnten."

Dabei wird auch Walk zunehmend aufgerieben zwischen den Tragödien um ihn herum und den Kampf gegen seine Parkinso-Krankheit, die er irgendwann nicht länger verschweigen kann. Gerade weil Whitaker seine Protagonisten so erfolgreich ins Leser-Herz schreibt, ist es so quälend, ihre innere und äußere Zerstörung zu beobachten.

"Wenn Walk schon vorher ein gebrochener Mann gewesen war, dann waren die Einzelteile durch die Ereignisse in Montana jetzt so weiträumig versprengt, dass er die Hoffnung aufgab, jemals wieder ein ganzer Mensch zu werden."

Im Original heißt das Buch "we begin at the end", ein Satz, den Duchess immer wieder von ihrem Großvater hört - seine Hoffnung, dass es am Ende einer Serie schlimmer Erfahrungen etwas Versöhnliches geben kann. Wie sehr ein Ereignis eine ganze Lawine von Folgen auslösem kann, zeigt dieses Buch, das genremäßig schwer einzuordnen ist - Krimi, Spätwestern, Comin of Age-Geschichte? Auf jeden Fall aber ein Buch, dass ohne Gefühlsduselei Emotionen weckt, geschrieben in einer poetisch-spröden Sprache und mit Protagonisten, die auch nach der letzten Seite nachwirken..

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Veröffentlicht am 09.07.2021

Angst ist das beste Gift

Das perfekte Gift
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Nur in James Bond-Filmen ist die Welt der Agenten stylish, elegant und spektakulär, möglicherweise sogar mit Begriffen von Gut und Böse arbeitend. In den Romanen eines John Le Carré kommt das Milieu der ...

Nur in James Bond-Filmen ist die Welt der Agenten stylish, elegant und spektakulär, möglicherweise sogar mit Begriffen von Gut und Böse arbeitend. In den Romanen eines John Le Carré kommt das Milieu der Schlapphüte schon wesentlich desillusionierter daher und es ist wohl kein Zufall, dass happy ends in seinen Büchern eine Seltenheit sind. Sergej Lebedew hat mit seinem Roman "Das perfekte Gift" die Welt der Gegenspieler des "Circus" in den Mittelpunkt gestellt.

Auch wenn es sich nicht um einen klassischen Agententhriller handelt, geht es um die Geheimdienste und ihre Diener - seien es Wissenschaftler, die sich in den Dienst des Systems stellen, seien es die Vollstrecker und Folterknechte, die für die "wet operations" zuständig sind. In diesem Buch sind die wahren Killer allerdings klein, unscheinbar und aus den geheimen Forschungslaboren entnommen.

Lebedew zeigt in seinem mit 263 Seiten eher schlanken Roman den langen Schatten Stalins, doch zugleich hat er mit Giftmorden ein Thema voller Aktualität gewählt - man denke nur an Litwineko, Poroshenko, Nawalny usw.

Gleich zu Beginn des Buches erwischt es den Überläufer Wyrin. Der hat sich bislang erfolgreich verborgen mit einer Biographie, "die Meister der Lüge für ihn erdacht hatten" - nicht nur mit einem neuen Gesicht, sondern mit einer anderen Sprache, anderen Gewohnheiten, ja selbst die Träume, so schreibt Lebedew, waren andere. Nur die Allergie gegen Insektenstiche ist geblieben. Und als ihm bei einem Restaurantbesuch Wespengift verabreicht wird, ist der einzige Patzer in Vorgehen der Killer, dass der sterbende Wyrin einem Kellner noch zuflüstern kann, dies sei Mord.

Die westlichen Geheimdienste brauchen Beweise - und wer weiß mehr über die geheimen Stoffe als einer ihrer Väter, der Chemiker Kalitin, der sich vor Jahren ebenfalls in den Westen abgesetzt hat und untergetaucht ist. Seine einstigen Oberen schicken zwei Agenten aus, die Kalitin endgültig zum Schweigen bringen sollen. In seinem Roman lässt Lebedew die Handlung zwischen Kalitin und dem KGB-Oberstleutnant Schernjow und der Vergangenheit beider Männer wechsel. Führte Kalitin seit seiner Kindheit während des Stalinismus ein geradezu behüteten Leben in einer abgeschlossenen, geheimen Stadt, ist Schernjow schon immer ein Mann für die blutige Arbeit gewesen, der bei Verhören seiner eigenen Lust an der Gewalt nachgehen konnte. Doch auch Kalitin hat Blut an den Händen, wurden doch für seine Forschung an biochemischen Stoffen Experimente an Gefangenen durchgeführt. Die "Gliederpuppen" wurden diese Todeskandidaten in den Protokollen genannt.

Die Welt in Lebedews Roman ist eine voller Paranoia: Die Jäger wissen nie, ob ein politischer Richtungswechsel nicht auch sie zu Gejagten macht, ob der Kollege nicht eigentlich derjenige ist, der sie bespitzeln, Zweifel säen soll. Kein Wunder, dass ihr ganzes Verhalten auf die ewige Furcht vor Verrat ausgerichtet, ihre Existenz gewissermaßen selbst vergiftet ist: "Aber ihre spezifische Sprache - ausgeklügelt und voller berufsmäßiger Euphemismen - ermöglichte es ihnen, Sätze nicht zu Ende zu sprechen und so zu konstruieren, dass sie sowohl als Gewissheit wie auch als Zweifel ausgelegt werden konnten ." Denn man weiß ja nie....

Der Chemiker Kalitin hat sich der Welt der Geheimnisse entzogen, hütet nur noch das eigene. Doch er weiß - was in den geheimen Laboren ersonnen wurde, ist immer noch tödliches Wissen, das jederzeit reaktiviert werden kann, "wenn schon die gute alte Jagd auf Menschen neu begonnen hatte". Der Chemiker kann die Zeichen lesen, wenn seine Stoffe und die seiner Kollegen wieder in Aktion treten, "Weit verstreut hinterließen sie unerklärliche Todesfälle, nachgewiesene Attentate,Unfälle"

Und der Wissenschaftler, anders als seine Häscher nicht von der Liebe zur rohen Gewalt angetrieben, kann über das System und seine Rolle darin ganz anders reflektieren als Schernjow, der nur darüber nachdenkt, ob sein Co-Agent ihn beobachten soll und heimlich Berichte über ihn anfertigt.

"Kalitin wusste, dass er nicht nur einfache, in Ampullen verpackte Mordwaffen erzeugt hatte. Er hatte Angst erzeugt. Ihm gefiel der paradoxe, aber einleuchtende Gedanke, dass Angst das beste Gift ist. Die beste Vergiftung ist jene, bei der sich jemand selbst vergiftet."

Wird der "Debütant", der tödliche Stoff, den Kalitin mit ins Exil nahm und der seine eigene Ehefrau bei einem Experiment tötete, die Besitzer wechseln oder gar für einen Anschlag eingesetzt? Kann sich Kalitin seinen Häschern entziehen, die vom Wetter über Autoprobleme bis hin zu Magenproblemen aeine Mission voller Widerstände erleben? Und welche Rolle spielt der Landpfarrer, der immer wieder das Gespräch mit Kalitin sucht?

"Das perfekte Gift" ist düster und voll vergifteter Atmosphäre mit allgegenwärtiger Paranoia. Dabei gelingt es Lebedew, nachvollziehbar zu erzählen, wie Wissenschafler sich in den Dienst von Zerstörung und tödlicher Forschung stellten und wissenschaftliche Neugier und Forschungsgeist ihre Unschuld verlieren. Sein Buch ist ausgesprochen spannend zu lesen. Wer Le Carrés Romane und Dürrenmatts "Physiker" mag, wird auch "das perfekte Gift" genießen.

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Veröffentlicht am 06.07.2021

Schachtalent zwischen Genie und Abgrund

Das Damengambit
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Nein, das ist nicht das Buch zur Serie. Walter Trevis, der Autor von "Damengambit", starb im Jahr 1984. Den Erfolg seines Romans als Netflix-Serie hat er, ebenso wie Netflix, Streaming, Serienbinging ...

Nein, das ist nicht das Buch zur Serie. Walter Trevis, der Autor von "Damengambit", starb im Jahr 1984. Den Erfolg seines Romans als Netflix-Serie hat er, ebenso wie Netflix, Streaming, Serienbinging und andere Erscheinungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr erlebt. Mit seiner Hauptfigur Beth Harmon hatte er allerdings einiges gemeinsam: die Liebe zum Schach und das Suchtverhalten. Kann er gerade deshalb so nahe herankommen mit seinem Blick auf selbstzerstörerisches Verhalten, auf Pillenkonsum und Alkohol zum Frühstück?

Wer Damengambit liest, ist sicherlich im Vorteil, wenn er oder sie wenigstens Grundkenntnisse im Schachspielen hat. Ich weiß vom Spiel der Könige gerade mal so viel, dass die Dame die wichtigste Figur ist und sich auch Bauern, Türme, Springer und ein König auf dem Brett tummeln. Nein, Ahnung haben sieht anders aus.

Doch auch, wenn sich mir die Raffinesse von Schachduellen somit leider nicht voll erschließen kann, habe ich "Damengambit" sehr gerne gelesen. Denn mit Beth Harmon hat das Buch eine Protagonistin zwischen Genie und Abgrund, mit einer berührenden Geschichte und unglaublichem Ehrgeiz. Wie leicht könnte ein Autor hier in Kitsch abgleiten mit der Geschichte eines Waisenkindes, mit Pillen ruhiggestellt, das beim Hausmeister im Keller des Waisenhauses zum ersten Mal ein Schachbrett sieht und sofort von dem Spiel fasziniert ist.

Geradezu spröde, ohne jede Gefühlsduselei beschreibt Trevis den tristen Alltag im Heim, das viel zu frühe Wohlgefallen an den Pillen, die zwar irgendwann mal von den Behörden verboten werden, auf die Beth aber mittlerweile nicht mehr verzichten will. Als sie im Alter von zwölf Jahren adoptiert wird, hat das Mädchen aus Kentucky gerade mal an der örtlichen high School gespielt, doch als ihre Adoptivmutter merkt, dass Schachturniere auch erhebliche Preisgelder einbringen können, unterstützt sie Beth´s Ambitionen.

Doch so obsessiv die Begeisterung von Beth für das Schachspiel ist, so obsessiv ist auch ihr Umgang mit Beruhigungsmitteln und Alkohol. Zerstört sie ihr Potential, ehe sie es überhaupt entwickeln kann? Kann sie dem intuitiven Zugang zum Spiel eine Tiefe hinzufügen, die sie bei Begegnungen mit den Großmeistern des Spiels braucht, ganz besonders den Russen? Das amerikanische Schachtalent ist in Zeiten des Kalten Krieges plötzlich selbst eine Figur auf dem Brett der Großmächte - dabei will sie doch nur Schach spielen.

Autor Trevis schafft es, bei Beschreibung von Schachpartien und der Vorbereitung Beths auf Turniere die Partien so zu beschreiben, dass auch Schachlaien in das Spiel gezogen werden. Intelligenz, mentale Stärke und Kampfgeist machen die Begegnungen zu echten Duellen voller Spannung. Mir ist es jedenfalls schwer gefallen, das Buch aus der Hand zu legen.

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