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Veröffentlicht am 21.07.2019

Und dazwischen tobt das Leben

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Es ist die Mischung aus Schlichtem, fast schon Banalem, und intellektuell Hochtrabendem, was Ocean Vuongs Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ausmacht – und an manchen Stellen schwer erträglich macht. ...

Es ist die Mischung aus Schlichtem, fast schon Banalem, und intellektuell Hochtrabendem, was Ocean Vuongs Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ausmacht – und an manchen Stellen schwer erträglich macht.

Hinführungen oder Überleitungen zwischen nüchterner Beschreibung und abstrakter Reflexion sucht man vergebens. Der Erzähler beobachtet einen Mann im Gebet, Stimme und Hände des Betenden werden beschrieben, und dann beobachtet der Erzähler plötzlich sich selbst: „Ich erglühte im Blut des Lichts.“

Dass in die Beschreibung eines intimsten Moments ein Zitat von Simone Weil über vollkommene Freude eingebettet ist, das dem Erzähler einfällt, gehört auch zu dem, womit man bei Ocean Vuong rechnen muss. Es gibt nichts, was nicht auf eine höhere Reflexionsstufe gestellt werden könnte.

Aber nicht nur, weil Bilder oft weiter ausgeweitet werden, ist das Buch nicht immer einfach zu lesen. Das Lesen wird auch nicht dadurch leichter, dass Schlaglichter erzählt werden und nicht der Versuch unternommen wird, eine Deutung im Sinne eines großen Narrativs herzustellen, wo biographische Elemente ins große Ganze eingefügt werden und so ihren Sinn erhalten.

Die Dinge sind wie sie sind, geschehen eben. Vuong beschreibt sie ungeschönt. Etwa die Schläge der Mutter, die Gewalt in der Familie. Die Schwierigkeiten der Mutter, die Kriegserlebnisse zu verarbeiten und sich nach der Flucht aus Vietnam in den USA zurechtzufinden. Die Drogenabhängigkeit seines Freundes Trevor. Der Tod von bereits sieben Freunden des Erzählers, der seinen Geburtstag deshalb nicht mehr feiert.

Als Form hat der Roman die eines Briefes. Ein Brief an die Mutter, der Ungesagtes zur Sprache bringen will. Ein Brief, der kein „Textkörper“ sein will, sondern die Körper im Text bewahren will. Ein Brief, von dem ganz und gar nicht klar ist, dass er überhaupt gelesen wird. Schließlich ist die Mutter Analphabetin.

So ist „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ein postmoderner Roman, der ganz bewusst fragmentarisch angelegt ist. Dadurch entzieht er sich einer einlinigen, biographisch angelegten Lebensdeutung. Zudem verlässt er immer wieder die Ebene der Beschreibung. Nicht nur dass hier mit Symbolen wie dem Monarchfalter, Büffeln, dem Kalb und Ähnlichem gearbeitet wird, zudem gibt es eine Fülle literarischer Anspielungen und intertextueller Verweise. Und dazwischen tobt das Leben.

Veröffentlicht am 17.04.2019

Ein Bilderbuch für Erwachsene, in dem man sich verlieren kann

Der blaue Stein
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Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie ...

Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie für mich entdeckt habe.

Ein klein wenig erinnert hat mich Liaos neues Buch „Der blaue Stein“ an die „Kleine Raupe Nimmersatt“, die sich durch immer mehr Obst und Gemüse isst und dadurch immer größer wird.

Beim blauen Stein ist es direkt umgekehrt. Durch Menschenhand wird der er in zwei Teile getrennt. Ein Teil bleibt im Wald, das andere wird als Rohstoff bearbeitet. Dabei empfindet der Stein großes Heimweh nach dem Wald, aus dem er abtransportiert wurde. Und immer, wenn das Heimweh übermächtig wird, zerspringt seine Form und irgendwann wird etwas Neues aus ihm geschaffen. So wird der Stein immer kleiner und kleiner. Schönes und Trauriges erlebt er; er begegnet Tod, Liebe Freundschaft. Er wird zum Kunstwerk und will es doch nicht sein. Denn was er leibt ist der Gesang der Vögel, den Duft der Blumen und das Licht, das durch das Laub fällt.

Man kann den blauen Stein auf viele Weisen deuten. Für mich steht der blaue Stein vor allem für das Hören auf seine innere Stimme. Wir versuchen uns im Leben an vielem, was uns nicht gelingt, weil wir nicht dafür gemacht sind, weil uns das Talent dafür fehlt. Nur in dem, was uns wirklich liegt, gehen wir auch auf. Wir müssen unsere Natur entdecken.

Obwohl man ja sehr bald weiß, dass der Stein immer kleiner und kleiner wird, wird es trotzdem beim Lesen nicht langweilig, weil der Stein sich so sehr verändert und immer wieder in anderer Form und in anderer Farbe auftaucht – als großer Elefant, als Katze, als Mauerstein eines Gefängnisses, als kleines Herz.

Das Schöne an den Büchern von Jimmy Liao ist, dass man sich beim Lesen in ihnen verlieren kann.

Veröffentlicht am 05.09.2024

Ruhrpott-Tristesse

Als wir Schwäne waren
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„Als wir Schwäne waren“ ist ein Buch, das einen in seinen Bann zieht. Behzad Karim Khani beschreibt Kindheit und Jugend eines pakistanischen Migranten im Ruhrpott. Es ist die Geschichte von einem, der ...

„Als wir Schwäne waren“ ist ein Buch, das einen in seinen Bann zieht. Behzad Karim Khani beschreibt Kindheit und Jugend eines pakistanischen Migranten im Ruhrpott. Es ist die Geschichte von einem, der in einer Plattenbausiedlung lebt und weiß, dass er unten ist und der Weg nach oben erst einmal versperrt ist. Oder im Stil von Khani gesagt:

Unser Viertel zerreibt seine Bewohner. Alles ist stumpf hier. Wir alle leben in einem Abnutzungskrieg mit so vielen Fronten, wie unsere Siedlung Einwohner hat.

Am Anfang des Buches steht die Fremdheit, die Reza wahrnimmt, im Zentrum. Dazu gehört, dass man in Deutschland bei Grün über die Fußgängerampel geht – wobei sich die Eltern strikt weigern, die Fußgängerampel zu drücken.

Im zweiten Teil des Buches steht Reza selbst, der Ich-Erzähler, im Vordergrund. Man erfährt, was es heißt, in einer Plattenbausiedlung in Bochum zu leben und wer es schafft, den Stadtteil zu verlassen. Es ist ein Leben am Rand der Gesellschaft und nur wenigen gelingt der Absprung. Den meisten geht es darum, sich (einigermaßen) zu behaupten.

Sein Vorgehen beim Schreiben schildert Khani im Roman selbst:

Wir verdichten und vereinfachen, damit die Dinge Sinn machen, und weil Sinn eine Geschichte braucht, setzen wir Punkte in das Chaos, die wir zu Linien verbinden. Linien, die Geschichten ergeben.

Zu dem, was verdichtet ist, gehört der Konflikt mit dem Vater, der sich immer mehr zurückzieht. Die Verkapselung des Vaters zieht sich durch das ganze Buch. Und das, wo er doch einen hohen Bildungsanspruch hat und etwas mit dem Wahrig-Wörterbuch in den Urlaub fährt.

Zu dem, was weggelassen ist, gehört die Schule. Nur am Rande erfährt man, dass die Jugendlichen in die Schule gehen und Reza gerade so sein Abitur schafft. Dass der Erzähler noch Schüler ist während er Drogen vertickt, hätte man nicht vermutet.

Ob Schwäne Zugvögel sind, ist Thema in dem Roman. Die Antwort bleibt offen, wie es auch offen bleibt, wem es gelingt, den Stadtteil zu verlassen. Der Erzähler hat es sich auf jeden Fall vorgenommen, Deutschland zu verlassen. Schreiben will er aber weiterhin auf Deutsch. Für ihn ist das ein Happy End.

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Veröffentlicht am 01.09.2024

Ein Buch, das den Leser unzufrieden zurücklässt

Juli, August, September
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Eigentlich ist es Anne Frank, die das Leben von Lou durcheinanderbringt. Denn beim Übernachten bei einer Freundin liest Lous Tochter Rosa ein Kinderbuch über Anne Frank und erfährt so zum ersten Mal von ...

Eigentlich ist es Anne Frank, die das Leben von Lou durcheinanderbringt. Denn beim Übernachten bei einer Freundin liest Lous Tochter Rosa ein Kinderbuch über Anne Frank und erfährt so zum ersten Mal von Adolf Hitler und dem Holocaust. 

In der Folge stellt sich Lou zahlreiche Fragen zur Erziehung ihrer Tochter. Denn die ist nach ihrer Urgroßmutter Rosa, einer Holocaust-Überlebenden, benannt. 

Es bleibt dabei nicht bei der Frage, ob die eher säkular lebende Familie nun den Sabbat feiern sollte, damit Rosa die jüdischen Traditionen erleben kann. Vielmehr beginnt Lou, sich für die Familiengeschichte zu interessieren. 

Schließlich reist sie zu einem Familientreffen auf Gran Canaria, um mehr darüber zu erfahren. Bald muss Lou aber erkennen, dass ihr Unterfangen alles andere als einfach ist. Manche Familienmitglieder wollen die Vergangenheit auf sich beruhen lassen, andere verändern die Geschichten aus der Vergangenheit nach ihrem Gutdünken. Wieder andere sind bereits gestorben. 

Die Familienkonstellation erweist sich als vermintes Gelände. Das ist angenehm humorvoll erzählt. 

Ein wenig enervierend ist der Erzählstrang um Lous Ehe mit all den Eheproblemen und der gefährdeten Karriere des Ehemanns als Pianist. Auch Nebenfiguren wie die Putzkraft bekommen eine irritierend große Bedeutung. 

Das wäre alles verkraftbar, wäre Lous Ausflug in die Vergangenheit wenigstens von Erfolg gekrönt. Das ist allerdings nicht so. Daher erweist sich "Juli, August, September" als ein eher seicht daherkommendes Buch, das einen am Schluss unzufrieden zurücklässt. 

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Veröffentlicht am 09.05.2024

Wo geht das Licht hin...

Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist
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Nadine Olonetzky hat sich in ihrem Roman „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“ mit ihrer Familiengeschichte beschäftigt. Ihr Großvater Moritz kam in einem Konzentrationslager ums Leben, ihrem ...

Nadine Olonetzky hat sich in ihrem Roman „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“ mit ihrer Familiengeschichte beschäftigt. Ihr Großvater Moritz kam in einem Konzentrationslager ums Leben, ihrem Vater Emil gelang 1943 die Flucht in die Schweiz.

Eigentlich wäre das schon Stoff genug für einen Roman. Aber ihr Vater hat Nadine Olonetzky nur einmal, auf einer Parkbank, seine Geschichte erzählt. Kaum genug, um einen Roman zu füllen. Doch als sie im Jahr 2020 auf Unterlagen der Anträge zur Entschädigung stieß, begann Nadine Olonetzky die Geschichte ihres Großvaters und ihres Vaters zu rekonstruieren und besuchte auch die Orte ihrer Vergangenheit.

So ist „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“ letztlich auch ein Bericht über die Detektivarbeit, aus rund 2500 Seiten an Dokumenten eine Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Freilich bleiben viele Lücken, Unklarheiten und Ungenauigkeiten, auch Widersprüche.

Von der Gestapo verhaftet, wurde ihr Großvater Moritz am 26.4.1942 von Stuttgart nach Izbica deportiert, ein Konzentrationslager oder „Transitghetto“ bei Lublin, 300 Kilometer entfernt von Treblinka. Dort kam er vermutlich im gleichen Jahr zu Tode. Ihrem Vater Emil gelang jedoch 1943 auf abenteuerliche Weise mit gefälschten Papieren die Flucht in die Schweiz.

Zur Fluchtgeschichte kommt immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Vater. Der Vater, der alles fotografierte, festhalten wollte. Der allen seinen Ehefrauen untreu war. Der häufig Wutausbrüche hatte. Der fünf Jahr lang nicht mehr mit seiner Tochter redete, sagte sie sei für ihn gestorben.

Und: Der Vater, der sich taufen ließ. Die Tochter wusste nichts davon:

Wie bitte? Mein Vater ließ sich taufen? Das erfahre ich erst jetzt aus den Dokumenten.

Dies gehört zu den Lücken, die bleiben. Warum er vom Judentum zum Christentum konvertierte und vor allem: warum er das seiner Familie nie erzählte, darauf hat Nadine Olonetzky keine Antwort.

Die Familiengeschichte ist das eine, das die Autorin erzählt. Das andere ist die Geschichte des 20 Jahre andauernden Kampfs um Wiedergutmachung. Ein Stück Nachkriegsgeschichte. Ausführlichst zitiert Nadine Olonetzky aus der Korrespondenz zwischen ihrem Vater bzw. dessen Rechtsanwälten und dem Landesamt für Wiedergutmachung.

„Schaden an wirtschaftlichem Fortkommen“, „Ausbildungsschaden“, „Schaden an Freiheit“, „Schaden im beruflichen Fortkommen“: So klingt Verfolgung im Juristendeutsch. 24 Jahre lang führte Emil Olonetzky den Schriftverkehr für Wiedergutmachung für sich und seinen Vater. Da ist seine Tochter Nadine stolz, stolz und verwundert. Auch das, dass er für Entschädigung so lange kämpfte, wusste seine Tochter nicht. Erst 2020 hat sie die Unterlagen entdeckt – der Anlass, sich intensiv mit der Vergangenheit zu beschäftigen. 17000 Deutsche Mark bekam Emil Olonetzky schließlich als Entschädigung, natürlich unterteilt in die unterschiedlichen „Schadenskategorien“. 3816 Mark. Für die Anwälte, vermutet die Tochter, habe der Vater ein Mehrfaches ausgegeben. Rückblickend urteilt sie:

Dass mein Vater so sehr für das bisschen Entschädigung kämpfen musste, zerreißt mir heute das Herz. Dass er einfach nicht aufhören konnte, wie unglaublich stark war das. Wie verbissen und wie demütigend auch.

Insgesamt hat Nadine Olonetzky aber etwas zu viel in ihr Buch hineingepackt. Aktuelle Bezüge zum Ukraine-Krieg liegen zwar nah, führen aber doch eher vom Eigentlichen Weg. Die eingerückten Teile über den Garten wirken sehr befremdlich – auch wenn am Anfang des Buches darauf hingewiesen ist, dass „die tröstende Kraft eines Gartens im Jahreslauf“ für alle da sei, die die Geschichte lesen. Für Pausen beim Lesen braucht es keinen beschriebenen Garten.

Auch wenn die Autorin ins Poetische übergeht, schießt sie sprachlich über das Ziel hinaus, wenn zum Beispiel von der Erinnerung als Skelette, die in der Erde stehen, geschrieben ist. Oder wenn sie sich zu Aufzählungen hinreißen lässt.

So schreibt sie über das verkohlte Holz der Stuttgarter Synagoge:

Wie viele Schwarz gibt es? Schwarz wie Trauerkleidung, wie die Rabenkrähen, die im Garten landen. Schwarz wie das Fell meiner Lieblingskatze. Schwarz wie die Dunkelkammer, bevor das rote Licht aufflammt. Schwarz wie das Schwarze Meer? Schwarz wie Pech. Schwarz wie schwarzer Humor.

Andere, wiederkehrende Motive überzeugen dagegen, wie etwa die Parkbank, auf der der Vater der 15-jährigen Nadine seine Geschichte erzählte. Oder der Verweis auf Zlatek die Ziege.

Fazit: Gerade weil man über die Entschädigungs-Prozedur so wenig weiß, ist das Buch so spannend, wenn auch die behördlichen Briefwechsel sehr ernüchternd sind.

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