Das schwere Leben einer starken Frau
Martha und die IhrenMeine Meinung
Schweiz, Anfang 20. Jahrhundert
"Verdingkind" ist eine Bezeichnung, die nicht nur traurig klingt, sondern auch wirklich ist. Martha musste am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein ...
Meine Meinung
Schweiz, Anfang 20. Jahrhundert
"Verdingkind" ist eine Bezeichnung, die nicht nur traurig klingt, sondern auch wirklich ist. Martha musste am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ein Verdingkind zu sein, nachdem der Vater bei einem Arbeitsunfall gestorben war. Es war ein langsames, schmerzhaftes Sterben, da sich die Familie kein Krankenhaus leisten konnte.
Die Mutter war nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zu ernähren und musste sie zu verschiedenen Bauern geben.
Wir erleben das Geschehen überwiegend aus der Sicht von Martha, die sich als 8-Jährige bei der Bauernfamilie Bürgi im Berner Umland verdingt hatte. Als letzte am Esstisch durfte sie nur essen, was übrig blieb. Stets ging sie hungrig vom Tisch; beklagte sich aber nie, obwohl es Martha innerlich zerriss. Sie musste kaum übliche Arbeiten auf dem Hof verrichten. Es war ihre Aufgabe, den behinderten Sohn der Familie jeden Tag spazieren zu führen; angeleint, damit er ihr nicht davon laufen konnte. Kräftemäßig war er ihr weit überlegen und daher trug sie oft Verletzungen davon.
Martha wuchs bald über sich selbst hinaus. Das intelligente Mädchen fiel ihrem Lehrer auf, der sich für sie einsetzte und ihr zu einer Arbeit in einer Strickfabrik verhalf. Sie stellte sich von Anfang an sehr geschickt an, und wurde ziemlich schnell von den Kolleginnen und der Vorarbeiterin geschätzt. Von da an zahlte das Mädchen Kostgeld bei der Familie und kaufte von ihren Ersparnissen ein Fahrrad, um zügiger in die Arbeit zu kommen. Die Bauernfamilie zollte ihr darauf hin mehr Respekt, aber Zugehörigkeit erlangte sie nie.
Sie lernte einen Mann kennen und heiratete. Bekam zwei Söhne und half ihrem kränklichen Mann Schuhe zu anfertigen und reparieren. Das passierte heimlich, da keiner im Ort einer Frau diese Arbeit zutraute. Als ihr Mann starb, blieben die Aufträge aus und Martha kämpfte gegen die Armut an. Ihre Söhne sollten es besser haben.
Ich habe mich oft gefragt, wie so eine zierliche Frau das alles verkraften konnte. Zeit für eine Verschnaufpause blieb ihr so gut wie nie. Ihre Kinder hatte sie zur Zielstrebigkeit erzogen und selten Zeit gehabt, sie mal in die Arme zu nehmen. Besonders der ältere Sohn übernahm ihren Ehrgeiz und brachte es zu einem gewissen Wohlstand.
Sie vermisste ihre fünf Geschwister, zu denen sie den Kontakt verloren hatte, da keiner vom anderen wusste, wo er lebte. Zu ihrer resignierten Mutter hatte sie für kurze Zeit sporadisch Kontakt.
Für mich ist das Ganze unvorstellbar, zumal allein erziehende Mütter in der heutigen Zeit die nötige Hilfe bekommen, um ihre Kinder zu behalten. Das ist bestimmt auch nicht leicht, aber machbar.
Der Schreibstil wirkt direkt und schnörkellos, da auf jegliche Weichzeichner verzichtet wird. Die Emotionalität geht dabei keineswegs verloren und ich konnte Marthas Leid zwischen den Zeilen wahrnehmen. Die starke Frau musste immer wieder von vorne anzufangen; was ihr Leben zu einem einzigen schweren Kampf machte. Sie wirkte hart, was sie aber wirklich nicht war. Als junges Mädchen musste sie nach und nach ihre Träume begraben, um Platz für harte Arbeit zu schaffen.
Über drei Generationen hinweg beeinflusste Marthas Leben die ihren. Ihre Enkelkinder führten ihren eigenen Kampf, da sie ihr Leben selbstbestimmt - ohne Altlasten ihr Eltern und Großmutter - führen wollten.
Es handelt sich um die Großmutter des Autors, dem ich herzlich danke, dass er die Geschichte mit uns geteilt hat.
Eine klare Empfehlung, für diese spannende und emotionale Biografie, die mich von der ersten Seite an fesseln konnte. Ich empfehle das Nachwort vom Autor zu lesen.