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Veröffentlicht am 25.04.2025

Zu bemüht für mein Gemüt

Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken
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Über autofiktionale Geschichten zu urteilen ist immer schwierig. Schließlich steckt darin ja oft mehr als „Opa erzählt vom Krieg“ – wahre, traurige bis traumatische Erlebnisse, die in Buchform kanalisiert ...

Über autofiktionale Geschichten zu urteilen ist immer schwierig. Schließlich steckt darin ja oft mehr als „Opa erzählt vom Krieg“ – wahre, traurige bis traumatische Erlebnisse, die in Buchform kanalisiert werden. Und manche davon sind für mich als Leser vielleicht nicht so berührend, wie es für die jeweiligen Autor:innen ist. Das ist auch leider bei „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“ von Sarah Lorenz der Fall. Was, bei längerem Nachdenken, für mich an zwei Dingen liegt: Es fehlt mir an Tiefe – und das Gespräch mit Mascha Kaleko ist mir zu bemüht und am Ende auch fast nicht mehr existent.

Sarah Lorenz gehört zu den Bluesky-Sweethearts des Landes. Launige Skeets, früher Tweets, als man noch nicht von Schwurblern auf diesem anderen Netzwerk überrannt wurde, nachdenkliche Einblicke ins Familienleben, ehrenwerter Antifaschismus, Mumin-Bilder, manchmal etwas quatschig. Große Fan-Bases im Netz mit Schreibtalent sorgen nicht selten für Buchverträge. Und manchmal geht’s gut, manchmal weniger. Die Autorin nimmt ihre Leser:innen mit auf eine fiktionalisierte Reise durch ihr Leben. Ob alles wahr ist, who knows, wer ihr schon länger folgt, kennt auf jeden Fall die ein oder andere Episode und freut sich sicher, mehr über Sarahs, hier Elisas, Leben zu erfahren. Trennung der Eltern, Monate im Heim, Punk-Leben mit Dosenbier und Domplatte, irgendwann zur Ruhe kommen in Hamburg, der Tod des Vaters in Eckernförde.

Kein einfaches Leben – Liebesmangel der Mutter, übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber einer Minderjährigen, Krebserkrankung des Mannes. Stoff für sehr, sehr traurige, böse, wachrüttelnde Bücher. Leider kratzt die Autorin hier nur an der Oberfläche, als wolle sie es weglächeln. Es erzählen, aber dann mit einem Abwinken vom Tisch wischen. Das ist schade, vielleicht aber auch verständlich, wer spricht schon gerne über selbsterlebte Traumata, wie nackt möchte man sich vor tausenden Leser:innen wirklich machen? Daher: kein Vorwurf, nur schade.

Doch in „Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken“ gibt es noch eine weitere Hauptfigur, eigentlich: Mascha Kaleko. Die Dichterin, 1907 in Polen geboren, 1975 in der Schweiz gestorben, hat die Buchfigur Elisa und vermutlich auch die Autorin ihr Leben lang begleitet. Jedes Kapitel wird durch ein Gedicht Kalekos eingeleitet, das zum Geschehen danach passt. Eigentlich eine hübsche Idee. Immer wieder spricht die Erzählerin Mascha daraufhin an, versucht ihre Erfahrungen in Linie zum Gedicht zu bringen, stellt ihr rhetorische Fragen zum Leben oder zu historischen Figuren. Aber das geht, für mich zumindest, ziemlich schief, ist bemüht, wirkt mehr wie ein Geplapper eines Kindes, das mit Lego-Figuren oder Puppen spielt. Am Anfang noch halbwegs charmant, ist der Abnutzungseffekt recht hoch – und am Ende finden diese Einschübe kaum noch statt, was zwar für mich als Lesenden erleichternd, aber aus Buchsicht recht inkonsequent ist.

Weniger Zwiegespräche, mehr emotionale Tiefe, und Sarah Lorenz‘ Debüt hätte mich mit dem Mix aus Familiendrama, Punk und Antifaschismus zu 100 % gepackt – so leider so ziemlich gar nicht. Aber eines hat die Autorin dann doch geschafft: Ich möchte mehr von Mascha Kaleko lesen. Und ich glaube, das würde ihr dann zumindest doch gefallen.

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Veröffentlicht am 04.04.2025

Es fehlt das Herz

Achtzehnter Stock
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Kann ein Buch ohne richtig sympathische Figuren funktionieren? „Achtzehnter Stock“ beantwortet diese Frage gleichzeitig mit Ja und mit Nein. Denn ja, Sara Gmuers Roman liest sich schnell und gut und interessant. ...

Kann ein Buch ohne richtig sympathische Figuren funktionieren? „Achtzehnter Stock“ beantwortet diese Frage gleichzeitig mit Ja und mit Nein. Denn ja, Sara Gmuers Roman liest sich schnell und gut und interessant. Aber dennoch fehlte mir über große Strecken die Verbindung zu Wanda, der Protagonistin. Und das ist vor allem eines: schade.

Wanda ist Schauspielerin ohne Engagement. Als ihr endlich eine Rolle winkt, wird ihre Handtasche geklaut und ihre Tochter krank. Rolle futsch, aber immerhin hat sie nun die Telefonnummer von Adam, dem angesagtesten Schauspieler des Landes. Ein Ausweg aus der Plattenbauwohnung, in der sie im achtzehnten Stock lebt? Nur scheinbar. Denn erst einmal muss Tochter Karlie für drei Wochen ins Krankenhaus – und dann verschweigt Wanda ihre Tochter gegenüber Adam und Produzenten als endlich ein Jobangebot kommt. Kann sie das Geheimnis wahren? Und falls ja – zu welchem Preis?

„Achtzehnter Stock“ funktioniert als Geschichte über eine alleinerziehende Mutter. Man leidet mit Wanda, als Karlie mit Hirnhautentzündung in die Notaufnahme muss. Man fühlt ihre Sorgen, als sie trotz Wasserverbot ins Schwimmbad geht. Vielleicht hat man auch Empathie dafür, dass Wanda ihre Tochter zur Nachbarin gibt, um endlich einen Job zu bekommen, um ihre Rechnungen zu zahlen oder noch besser, den Plattenbau zu verlassen.

Gleichzeitig aber bleibt sie fremd, kühl. Vielleicht ist das ihrem Alltag geschuldet, ich möchte gar nicht wissen, wie es ist, alleine für ein Kind zu sorgen, dessen Vater zwar Kontakt wünscht, aber damals eine Abtreibung forcierte. Ständig am Existenzminimum zu knabbern. Träume platzen zu sehen und dennoch an ihnen festzuhalten. Das schafft die Autorin auf nachvollziehbare Art und Weise. Trotzdem springt der Funke nicht komplett über, denn Wanda blieb mir über die rund 250 Seiten fremd. Und selbst die Kulisse Platte mit den anderen einsamen Frauen und Kindern wirkt austauschbar – bis auf die letzten Seiten. Aber selbst da ist es nicht Wandas Verdienst.

So bleibt „Achtzehnter Stock“ für mich hinter seinen Möglichkeiten zurück, leider, obwohl es eine gute Geschichte ist, mit authentischen Problemen und ja, vielleicht auch authentischen Figuren. Nur fehlt das Herz.

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Veröffentlicht am 02.04.2025

Traurig-schöne Coming-of-Age-Geschichte

Für Polina
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Vermutlich ist „Für Polina“ nicht perfekt. Aber: Es war das perfekte Buch für diesen Moment. Es hat mich emotional gecatcht, mich mit Hannes und den teils wunderbar skizzierten Nebenfiguren leiden lassen, ...

Vermutlich ist „Für Polina“ nicht perfekt. Aber: Es war das perfekte Buch für diesen Moment. Es hat mich emotional gecatcht, mich mit Hannes und den teils wunderbar skizzierten Nebenfiguren leiden lassen, mich rasend schnell mit ins Moor und durch Europa geschickt. Ja, vielleicht ist Takis Würger Diogenes-Debüt ein bisschen kitschig, ein bisschen konstruiert, aber hey, es ist vor allem auch eines: gute Unterhaltung für Fans von Coming-of-Age-Geschichten.

Der erste Teil des Buchs ist wunderschön. In toller Sprache nimmt Takis Würger uns mit ins Moor, irgendwo bei Hannover, auf ein altes Gut, verwaltet von Heinrich Hildebrand, ein „alter Zausel“, dessen Herz der kleine Hannes, seine Mutter Fritzi, aber auch deren Freundin Gunes samt Tochter Polina schnell zum Schmelzen bringen. Dieses Zusammenleben ist so heimelig beschrieben, dass das Wörtchen Hygge sich verneigend aus dem Wortschatz verabschieden könnte. Bis zum Ende dieses Abschnitts zumindest.

Im zweiten Teil verlässt der etwas ältere Hannes nach dem Abitur seinen Vater, schleppt Klaviere durch Hamburg statt auf ihnen zu spielen, trifft dabei auf den sonderbaren, aber herzensguten Bosch mit seiner oft zitierten Vorliebe für Olivenöl-Gerichte, auf skurrile Gestalten der musikaffinen Oberschicht und auf Leonie, seine Liebe für die nächsten Jahre. Doch kann er eine Person nicht vergessen, die er über die Jahre aus den Augen, nicht aber aus dem Herzen verloren hat: Polina. Dann beginnt er wieder Klavier zu spielen. Auf der Straße. Und geht damit viral.

Ich kann durchaus verstehen, dass „Für Polina“ auf Kritik stößt, dass Leser:innen Takis Würger vorwerfen, nichts Neues zu schreiben, zu wenig Liebe in die Hauptfiguren gesteckt zu haben, hart auf der Kitschgrenze zu wandeln. Aber Würger hat hier auch wunderbare Figuren geschaffen, die mir mehr ans Herz gewachsen sind als Hannes und Polina. Allen voran die liebenswerte, toughe Fritz, den grummelig-herzensguten Heinrich, den wortkarg-fürsorglichen Bosch. Wenn Autoren es schaffen, dass einem die Nebenfiguren ans Herz wachsen, haben sie in meinen Augen etwas Besonderes geschaffen. So gut haben es nicht alle, manche tauchen zwar wieder auf, ohne besondere Eigenschaften, aber zumindest schließt sich so mancher Kreis.

Dazu ist Würgers Roman ein Coming-of-Age-Roman, ein Genre, dass nicht immer die allzu große Tiefe benötigt, um Emotionen zu wecken. Erinnerungen an die eigene Kindheit oder Jugend oder Zeit danach, Empathie für Hannes. Dass es ein virales Video benötigt, um die Geschichte zu einem Ziel zu führen, ist halt Zeitgeist. Auch das Namedropping von Sophie Passmann und Prince Harry hätte es vermutlich nicht benötigt, werden doch vorher schon andere, viel charmantere fiktive Figuren beim Sharing von Hannes‘ Video gezeigt. Völlig verzeihbar.

Mich hat „Für Polina“ erreicht, für zwei Abende bestens unterhalten, traurig und glücklich gemacht, abwechselnd oder zugleich – das schaffen nicht viele Bücher. Daher: vollste Empfehlung, trotz Hype und Kritik an eben diesem. Am besten aber ist es, das Buch völlig neutral anzugehen und sich von Hannes‘ Melodien durch die Seiten tragen zu lassen. Und hoffentlich entzückt zu sein.

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Veröffentlicht am 31.03.2025

Alles ist verbunden

HEN NA E - Seltsame Bilder
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Eigentlich ist der Titel ein Spoiler. Zumindest bis man in der zweiten der vier Geschichten ist, den Prolog einmal ausgeklammert. Denn die erste Geschichte aus „Hen na e – Seltsame Bilder“ wirkt fast wie ...

Eigentlich ist der Titel ein Spoiler. Zumindest bis man in der zweiten der vier Geschichten ist, den Prolog einmal ausgeklammert. Denn die erste Geschichte aus „Hen na e – Seltsame Bilder“ wirkt fast wie eine in sich geschlossene, leicht mysteriöse Kurzgeschichte, in der zwei junge Männer über einen rätselhaften Blog diskutieren und einem möglichen Mordfall auf die Schliche kommen. Doch schon die nächste Geschichte zeigt: Bestimmte Personen tauchen erneut auf – und der Täter oder die Täterin hat mehrere Opfer auf dem Gewissen.

Ich lese selten Krimis, dafür umso lieber japanische Gesellschaftsromane, aber „Hen na e“ ist eigentlich beides. Mit einem Twist, denn der Kriminalroman von Uketsu gehört zum recht neuen Genre „Sketch Mystery Roman“. So sind Bilder ein wichtiger Teil der Ermittlungen – Bilder, die von Opfern hinterlassen wurden oder die auf eine besondere Beziehung der Figuren hindeuten. Ob es sie in jeder der insgesamt vier Geschichten gebraucht hätte oder ob die Leser:innen nicht auch so den Ermittlungen hätten folgen können, sei einmal dahingestellt. Aber sie machen durchaus einen gewissen Reiz bei der Lektüre aus. Auch die plastische Wiederholung von Ermittlungsnotizen wie die Tagesabläufe des Opfers und der Verdächtigen in der dritten Geschichte sorgen für ein ganz anderes Lesegefühl.

Vor allem aber ist „Hen na e“ eine recht dramatische, tragische Geschichte, die Leser:innen in die japanische Kultur eintauchen lässt – in Ehre, in Alltag, in den Umgang miteinander. Und mitreißend ist sie, schnell geschrieben, toll übersetzt von Heike Patzschke – 272 Seiten, die sich in einem Rutsch lesen lassen und auch müssen, möchte man doch direkt alle Geheimnisse und Verbindungen erfahren.

Bloß ein Geheimnis lässt sich nicht lösen – dass des unbekannten Autors, der sich hinter einer weißen Maske versteckt, die entfernt an Michael Myers aus Halloween erinnert. Aber vielleicht kommt das ja noch mit einem der nächsten Sketch Mystery-Romane, die hoffentlich bereits in der Arbeit oder Übersetzung sind.

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Veröffentlicht am 31.03.2025

Zurück in die Vergangenheit

Nowhere Heart Land
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"My fingertips are holding onto the cracks in our foundation and I know that I should let go but I can't."

18 Jahre ist der Song von Kate Nash bereits alt, 15 Jahre in „Nowhere Heart Land“ von Emily Marie ...

"My fingertips are holding onto the cracks in our foundation and I know that I should let go but I can't."

18 Jahre ist der Song von Kate Nash bereits alt, 15 Jahre in „Nowhere Heart Land“ von Emily Marie Lara – und ähnlich wie die Figur im Song hält auch die Protagonistin im Buch an Dingen fest, die sie längst loslassen müsste. Wenn das mal so einfach wäre.

In der Gegenwart ist gerade die Queen gestorben. Rosas Kollege, dessen Arbeit sie in einer Londoner Ad-Agency mitmacht, kommentiert das mit einem abfälligen Spruch – und kassiert Rosas Faust in sein Gesicht. Verdientermaßen muss man auch als gewaltfreier Mensch zugeben. Rosa wird freigestellt. Und muss zurück nach Deutschland, denn das Altersheim ihrer dementen Oma verlangt mehr Geld, das nur durch den Verkauf ihres Hauses aufzutreiben ist. Eine Reise in die Vergangenheit beginnt – zurück zum längst abgerissenen Internat, die zerbrochene Schulfreundschaft zu Leni und die Kartons mit den Erinnerungen an ihre früh verstorbene Mutter Conny.

„Nowhere Heart Land“ ist ein forderndes Buch. Eine Tour de Force durch diverse Breakdowns der Protagonistin, deren toxischer Alltag durch zu viel Alkohol und nie aufgearbeitete Abschiede bestimmt wird. Leser:innen werden sich viele Frage stellen und es ist nicht zu viel gespoilert, wenn man festhält, dass eigentlich keine davon beantwortet wird. Mag sicher für einige unbefriedigend sein, mir hat’s gefallen, mit klaren Antworten können auch Enttäuschungen einhergehen – und das ist auch sicherlich nicht die Intention des Buchs.

Es ist ein Homecoming-Roman einer Person, die nach dem Ende ihrer Schulzeit nach London geflüchtet ist, mit Heimat und Freund:innen gebrochen oder letztere auch verprellt hat. Die feststellen muss, dass auch ihre Freundschaften in England nicht allzu viel wert sind. Die den Abriss ihrer Schule und damit auch ein Auslöschen an ihre Mutter, die das Internat ebenfalls besucht hat, nie überwunden hat, vor allem aber auch deren viel zu frühen Tod – und wie soll man das überhaupt schaffen?

Ich mochte in Emily Marie Laras Debüt drei Sachen besonders: die Sprache, mit der sie Rosas Geschichte erzählt. Die Gefühle, die ich nachvollziehen konnte, wenn sie durch ihre alte Heimat läuft und sie gleichzeitig vertraut und doch fremd scheint. Aber auch die vielen „Oh girl, come on!“-Momente, wenn man Rosa von etwas abhalten oder ihr gut zureden oder wenigstens in den Arm nehmen mochte. Sie ist keine sonderlich sympathische, aber eine realistische Protagonistin, voller Fehler, voller Vergangenheit, der man auch nicht immer ganz vertrauen möchte und sie sich selbst vermutlich auch nicht.

Und auch wenn das Buch keine Antworten liefert, so ist das Ende doch durchaus passend, die Szene in der Pizzabude mehr als stark und das Buch trotz kleinerer Längen sehr lesenswert – aber nicht für jede:n.

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