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Veröffentlicht am 31.10.2022

Killer Granny

Frau mit Messer
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Ruhestand Mitte 60? Für viele Wunschvorstellung, für Hornclaw undenkbar. Auch wenn sie ihr eigenes Alter spürt, die Tücken ihres Jobs und das spöttisch-mobbende Verhalten eines jungen Kollegen. Aber Hornclaw ...

Ruhestand Mitte 60? Für viele Wunschvorstellung, für Hornclaw undenkbar. Auch wenn sie ihr eigenes Alter spürt, die Tücken ihres Jobs und das spöttisch-mobbende Verhalten eines jungen Kollegen. Aber Hornclaw ist auch nicht Lehrerin, nicht Ärztin oder Juristin – sie ist Auftragsmörderin. Oder wie sie es nennt: Schädlingsbekämpferin. Eine gute, die noch nicht bereit ist loszulassen. Bis sich alles überschlägt – und dann fast schon etwas zu schnell vorbei ist.

„Frau mit Messer“ startet behutsam und ruhig mit einem Mord. Klingt auf den ersten Blick merkwürdig, aber alles geschieht ganz ruhig in einer U-Bahn. Das Opfer, ein übergriffiger, misogyner Mann, hat es verdient und es ist erst einmal ganz egal, warum er es wirklich verdient hat und wer den Auftrag gegeben hat. Stück für Stück wird Hornclaws Job, ihre Agentur und ihr beruflicher Werdegang enthüllt. Sie lernt die Familie des neuen Agentur-Arztes kennen und zeigt ihre weiche Seite, die ihr zum Verhängnis zu werden scheint. Und dann ist da noch der junge Kollege, der Hornclaw auf dem Kieker hat.

Byeong-mo Gu legt hier einen Rachethriller der anderen Form vor. Der Nervenkitzel ist eher unterschwellig-empathisch, bezogen auf die Gefühle der Hauptfigur. Es überwiegt eine Art innere Ohnmacht, das eigene Alter (an) zu erkennen und loszulassen, ohne zu wissen, was folgen wird. An mancher Stelle ist das zu bedächtig, zu langatmig fast, an anderen genau richtig. Etwas schade: Der Höhepunkt, auf den die Autorin hinarbeitet, ist sehr schnell vorbei. Das passt natürlich, denn „Frau mit Messer“ ist kein Tarantino, aber etwas mehr Tiefe hätte das Ende des Buchs durchaus verdient.

Und dennoch ist „Frau mit Messer“ eine durchaus lesenswerte Reise nach Korea, eine Welt zwischen Alltag und Kriminalität, Altern und Zukunftssorgen, Gentrifizierung und Misogynie. Nicht so auffällig und schon gar nicht so knallig wie sein Cover. Aber passend zur Hauptfigur, die nicht groß auffallen möchte – und dann doch zuschlägt. Nicht schlecht für 65.

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Veröffentlicht am 07.10.2022

Großes (Kurzfilm-)Kino

Miss Kim weiß Bescheid
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Mit Kurzgeschichten ist das ja immer so eine Sache. Rein persönlich. Manche Einzelgeschichten sind dermaßen brillant, dass es fast schade ist, dass die Figuren nur über wenige Seiten begleitet werden. ...

Mit Kurzgeschichten ist das ja immer so eine Sache. Rein persönlich. Manche Einzelgeschichten sind dermaßen brillant, dass es fast schade ist, dass die Figuren nur über wenige Seiten begleitet werden. Manche Sammlungen sind oft so unterschiedlicher Natur, die Qualität so schwankend, dass am Ende eher eine durchschnittliche Meinung herauskommt. Cho Nam-Joos „Miss Kim weiß Bescheid“ ist da eine sehr erfreuliche Ausnahme: acht Erzählungen, acht Frauenschicksale – fast alle auf hohem Niveau und ihrer Länge genau richtig.

Eine Frau besucht ihre ältere Schwester im Pflegeheim. Eine andere schreibt einen Abschiedsbrief an ihren Nun-bald-Ex-Freund. Eine Schülerin hadert mit ihrer ersten Liebe während der Corona-Pandemie. Eine Lehrerin erfüllt sich einen Lebenstraum. Eine Tochter sucht ihren Vater. Eine Autorin besucht ihre ehemalige Lehrerin. Eine neue Mitarbeiterin wundert sich über mysteriöse Vorkommnisse in ihrer Firma. Zwei Schülerinnen wehren sich gegen sexuelle Übergriffe.

Alle Geschichten haben etwas gemeinsam: gesellschaftliche Probleme und starke Frauen. Und direkt das Wichtigste für alle Leser:innen, die hoffen oder fürchten, dass es sich bei den Problemen um rein koreanische handelt – nein. Hatespeech, sexuelle Übergriffe, Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz und Gaslighting sind leider auch bei uns Alltag. Die Protagonistinnen leiden darunter, wehren sich, schaffen ihren eigenen neuen Platz im Leben.
Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes und/oder Sohnes neu aufleben. Frauen, die plötzlich Fck it und Fck you denken. Frauen, die sich gegen klassische Rollenbilder wehren. Ganz stark. Und auch die Autorin selbst wird zu einer Geschichte, so scheint es, so liest es sich in „Trotz“, in der die Figur beschreibt, wie sie nach ihrem Romandurchbruch gefeiert, aber auch angefeindet wurde, so wie Cho Nam-Joo nach ihrem Erfolg mit „Kim Jiyoung, geboren 1982“.

Die vielleicht schwächste Geschichte ist die letzte, einer ersten zarten Händchen-Halten-Liebe, der die Pandemie dazwischengrätscht, auch wenn auch diese ihren ganz eigenen Charme hat. Richtig stark dagegen: „Die Nacht der Polarlichter“, in der eine Endfünfzigerin ihren Lebenstraum erfüllen möchte und mit ihrer Schwiegermutter nach Kanada reist, um Polarlichter zu sehen, statt sich um ihren Enkel zu kümmern. Und „Lieber Hyunnam“, in der eine Frau einem Mann per Brief erklärt, warum sie ihn nicht heiraten wird und die mit den passendsten Schlussworten für ihre gemeinsame, toxische Beziehung endet.

Und auch wenn die Geschichten alle so global gültig sind, nimmt Cho Nam-Joo die Leser:innen dennoch mit auf eine spannende Reise in den koreanischen Alltag, in die Kultur, die Küchen, die Leben südkoreanischer Familien. Im Guten, wie im Schlechten skizziert sie die Schicksale, die Lebenswelten, die so allgemeingültig sind, dass jede:r seine und ihre Lehren daraus ziehen kann – und trotzdem noch Lust hat, einmal selbst in das asiatische Land zu reisen, wenn noch nicht geschehen. Großes (Kurzfilm-)Kino!

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Veröffentlicht am 05.10.2022

Verzweifelte Herzen

Unsre verschwundenen Herzen
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Die deprimierendsten Dystopien? Sind die realistischen. Die keine Aliens, keine Naturkatastrophen brauchen, um die Welt und die Gesellschaft an den Abgrund zu schieben, sondern menschliches Verhalten. ...

Die deprimierendsten Dystopien? Sind die realistischen. Die keine Aliens, keine Naturkatastrophen brauchen, um die Welt und die Gesellschaft an den Abgrund zu schieben, sondern menschliches Verhalten. Das so nah am aktuellen Weltgeschehen ist, dass es nur einen Funken und etwas Unaufmerksamkeit benötigt, bis aus Fiktion Wahrheit wird. Celeste Ng schafft dieses Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung mit „Unsre verschwundenen Herzen“ in Perfektion.

Bird lebt mit seinem Vater im obersten Stock eines Studentenwohnheims, seit sie aus ihrem alten Leben flüchten mussten, seitdem seine Mutter sie verlassen hat. Warum? Das wird nach und nach klarer. Die große Rolle dabei spielt PACT – ein patriotisches Gesetz, das die Rechte und das Leben chinesisch-stämmiger Amerikaner und ihrer Unterstützer einschränkt. Bis hin zum Verlust ihrer Kinder, die in Pflegefamilien entrissen werden. Die verschwundenen Herzen.

Der Roman ist in der nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt, vermutlich in den 2030er Jahren, nicht viel später. Zehn Jahre vor der Handlung versank das einst freie Amerika in einer Wirtschaftskrise, die China in die Schuhe geschoben wurde. Kein unrealistisches Szenario in Zeiten von Corona, Krieg und Trumpismus. Mit einem harten Gesetz wurden unamerikanische und pro-chinesische Einflüsse unter Strafe gestellt. Bücher verbrannt. Menschen getötet, während Polizei und Politik wegschauten. Doch langsam macht sich zarter Widerstand in der Gesellschaft breit. Und das unter einem Motto, das sehr viel mit Bird zu tun hat.

„Unsre verschwundenen Herzen“ ist brutal zu lesen. Allein schon für alles, was während der Lektüre im Kopf passiert, was zwischen den Zeilen steht. Wer ein bisschen das Geschehen in den USA, den Drift der Republikaner und ihrer Anhänger seit Beginn des Jahrtausends verfolgt hat, der weiß, wie der aufrührerische Politikstil funktioniert, der im Roman zu PACT führte.

Und dieses brutale Kopfkino, das trotz des ruhigen Schreib- und Erzählstils den Puls in die Höhe und Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt, macht Ngs dritten Roman zu einem der stärksten und vielleicht auch wichtigsten Bücher des Jahres. Daran ändert auch ein kleiner Bruch im Lesefluss durch einen Perspektivwechsel nach einem Drittel der Geschichte nichts. Spannend werden Handlungsfäden miteinander verknüpft, Birds Familiendrama immer klarer, für die Hauptfigur wie für Leser:innen gleichermaßen. Und am Ende? Bleibt vor allem eine Botschaft: dass es an der Gesellschaft ist, ein derartiges Zukunftsszenario zu verhindern.

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Veröffentlicht am 28.09.2022

Schauen und schauern

Schau durchs Fenster!
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Ein Feuer! Ein Monster! Ein böser, gefräßiger Wolf! Bei wie vielen von Ihnen ist der Puls jetzt bereits angestiegen? Seien Sie beunruhigt: All das erwartet Sie und Ihre Kinder in „Schau durchs Fenster!“ ...

Ein Feuer! Ein Monster! Ein böser, gefräßiger Wolf! Bei wie vielen von Ihnen ist der Puls jetzt bereits angestiegen? Seien Sie beunruhigt: All das erwartet Sie und Ihre Kinder in „Schau durchs Fenster!“ – oder etwa nicht?

Katerina Goreliks Kinderbuch ist in erster Linie ein großer Spaß mit leichtem Gruselfaktor. Und in zweiter Linie räumt er mit Klischees auf. Der Lefzen ziehende Wolf ist nicht etwa scharf auf gemischtes Hack aus Großmutter und Rotkäppchen, sondern auf die gemeinsame Teezeit. Das gruselige Skelett im Fenster? Ist lediglich die Knochenapparatur von Dr. Maus, der gerade einen Hund untersucht. Und der Brand in der Küche? Ist lediglich ein Drache gewordener Bagel-Toaster – wie praktisch!

Das Buch ist eine Wohltat, denn endlich einmal ist im Gegensatz zu Märchen nicht alles böse, nicht alles schrecklich. Auch wenn die wundervollen Illustrationen den ersten Schauer noch unterstreichen. Aber: Auch bei harmlosen Szenen ist auf den ersten Blick nicht alles Gold was glänzt – oder leckerer Apfelkuchen. Letztere Szenen geben dem Buch noch einmal einen ganz anderen Twist: Auch eine vermeintlich nette Omi kann ihre düstere Seiten haben.

Die Moral? Ein zweiter Blick lohnt sich im Leben. So lassen sich Vorurteile aus der Welt räumen, im Guten wie im Schlechten. Aber, auch das sei gesagt: Auf den 60 Seiten wird häufiger der Schrecken genommen als ein neuer gegeben. Und das ist nicht nur schön, sondern auch sehr zeitgemäß.

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Veröffentlicht am 20.09.2022

Der kleine Wunderladen

SAMi - Wie pflanze ich ein Einhorn?
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Liebe Eltern, ihr seid in der Einhornfalle gefangen und ächzt bereits beim Gedanken an ein weiteres Buch über stirnbehörnte Pferde? Keine Sorge – „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist keine Geschichte über ...

Liebe Eltern, ihr seid in der Einhornfalle gefangen und ächzt bereits beim Gedanken an ein weiteres Buch über stirnbehörnte Pferde? Keine Sorge – „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist keine Geschichte über quietschbunte Vierhüfler mit Regenbogenmähne. Zumindest nicht direkt. Dafür eine wundervolle Erzählung über die Macht der Pflanzen und warum manche Ratschläge nicht achtlos überhört werden sollten. Was wir Erwachsenen ja spätestens seit Gremlins wissen.

Die Geschichte in wenigen Worten: Die kleine Sally landet auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre Oma in einem – im wahrsten Sinne – zauberhaften Blumenladen. Mister Pottifer, eine völlig harmlose fleischfressende Pflanze, hat allerlei magische Gewächse im Angebot – manche beißen, andere schneien und hageln, boxen und schwingen im Takt und wieder andere haben Einhörner als Früchte. Bloß soll man von letzteren nie mehr als einen Samen pflanzen, ansonsten … naja, lest und hört selbst.

Denn „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist Buch und Hörspiel in Kombination mit dem SAMi Lesebär von Ravensburger. Der kleine Eisbär mit der Teetasse verwandelt die Geschichte in ein hübsch gelesenes Hörvergnügen, gesprochen von Anna Ewelina. Vielerlei Hintergrundgeräusche runden die magische Atmosphäre von Steven Lentons Geschichte perfekt ab. Natürlich funktioniert das Buch auch ganz klassisch. Im Gegensatz zu manch anderen Buch-Hör-Kombis wird hier keine Zeile Text weggelassen, so dass kleine Leser:innen die Geschichte auch ganz ohne Lesebär entdecken können.

Und die Einhörner? Sind am Ende tatsächlich für was gut. Dabei nicht mit der, tja, mittlerweile auch schon klassischen Einhornkotze, dafür mit … auch das möchte ich nicht verraten. Aber es bringt Mister Pottifers Laden noch einmal auf ein ganz neues Level. Ein bezauberndes, toll illustriertes und amüsant geschriebenes Buch für kleine Einhorn-Fans. Und ja, tatsächlich auch für Eltern, die eigentlich schon die Nase voll von Einhörnern haben. Versprochen!

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