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Veröffentlicht am 30.03.2022

Mein unveräußerlicher Schatz

Vom Aufstehen
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„Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, ...

„Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.

Inhalt

Helga Schubert resümiert in dieser Kurzgeschichtensammlung, die 29 verschieden Texte umfasst über ihr langes Leben. In beinahe willkürlicher Reihenfolge nimmt sie ihre Leser mit hinein in ihre Gedankenwelt, hinein in familiäre Ausflüge, in politische Gedankengänge, in gesellschaftliche Zwänge aber auch in das Hier und Jetzt, wie es sich anfühlt immer älter zu werden und welche Herausforderungen das Leben bereithält.

Meinung

Normalerweise liebe ich solche Texte, insbesondere, wenn sie in einer ansprechenden Struktur verfasst wurden und greifbar wirken. Die Rahmenbedingungen für dieses Buch könnten also nicht besser sein und dennoch bin ich vorwiegend enttäuscht von der Lektüre, gerade weil ich so eine hohe Erwartungshaltung hatte und die zahlreichen Lobesstimmen aus der geneigten Leserschaft mich dazu veranlasst haben, dieses Buch unbedingt zu konsumieren.

Im Wesentlichen sind es zwei Dinge, die mich nachhaltig gestört haben: Zum einen ist es die distanzierte Sicht auf die Menschen und Berührungspunkte in Helgas Leben, abschließend wirkt es so, als hätte sie viele Personen gekannt, die sie eigentlich nicht mochte und stattdessen ignorierte oder kritisierte. Andererseits wirkt sie nicht so, als wäre ihr das Alleinsein die liebste Lebensform gewesen.

Zum anderen sind es die vielen politischen Betrachtungen, die mich tatsächlich nur geringfügig interessiert haben, vielleicht auch deswegen, weil ich zu jung bin, für die entsprechenden gesellschaftlichen Hintergründe.

Fazit

Hier kann ich leider nur 3 mittelmäßige Lesesterne vergeben. Sprachlich ist das Buch ein Genuss und auch die Idee dahinter, die mich an ein buntes Kaleidoskop eines langen Lebens erinnert, finde ich sehr gut, doch gerade die emotionale Ebene kommt mir hier viel zu kurz, dass tatsächlich Private, die Schlussfolgerungen, die gezogen werden.

Eigentlich kann ich diesem Buch nur sehr wenig entnehmen, es besitzt längst nicht die Aussagekraft, die ich ihm gewünscht hätte und es wäre mir deutlich lieber gewesen, einen Roman in seiner Gesamtheit vorzufinden, als nun diese Kurzgeschichtensammlung. Die einzelnen Storys hätten auch von 29 verschiedenen Personen stammen können statt von einer Einzigen und das verbindende Element bleibt mir zu weit im Hintergrund.

Ich glaube, dass Buch findet seine Leser, es kann sehr einprägsam wirken, wenn man etwas entdeckt, dass einem selbst wichtig ist und es entfremdet eher, wenn man keine Berührungspunkte (privat, politisch, familiär, gedanklich) ausmachen kann. Leider zähle ich mich zur zweiten Gruppe und die Fremdheit überwiegt.

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Der Hafenmörder aus guten Kreisen

Der letzte Tod
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Im Herbst des Jahres 1922 geht in der österreichischen Hauptstadt Wien alles kontinuierlich den Bach hinunter, die Inflation ist auf einem Rekordniveau, die normale Bevölkerung leidet Hunger und Wohnungsnot ...

Im Herbst des Jahres 1922 geht in der österreichischen Hauptstadt Wien alles kontinuierlich den Bach hinunter, die Inflation ist auf einem Rekordniveau, die normale Bevölkerung leidet Hunger und Wohnungsnot und das kriminelle Pack ist auf dem Vormarsch. Normalerweise hätte Inspektor August Emmerich auch ohne seinen neuesten Fall alle Hände voll zu tun, doch eine in einem alten Tresor entdeckte Leiche, die anscheinend lebendig dort hineingesperrt und dann nicht wieder hinausgelassen wurde, weckt seinen Einsatzeifer. Selbst der ihm zugeordnete Psychologe Sándor Adler, der Licht in die dunklen Seelen der Mörder bringen soll, muss Emmerich genau so erleben, wie jeder andere auch: ungehobelt aber entschlossen. Während Adler von einem Serienmörder ausgeht, begeht der vermeintliche Täter Selbstmord und der Fall könnte geschlossen werden, allerdings sind sich die Inspektoren Emmerich und Winter fast sicher, dass die einfache Lösung hier nicht die richtige sein kann. Und tatsächlich entdeckt man nur wenig später, den nächsten Leichnam in einer Kiste, doch diese befindet sich im ungarischen Hafen und nicht in Österreich. Wer könnte über Grenzen hinweg morden und das nach dem immer gleichen modus operandi?

Meinung

Dies ist bereits der fünfte Band aus der historischen Kriminalreihe um den Inspektor August Emmerich. Die vorherigen Bände habe ich innerhalb kürzester Zeit im vergangenen Jahr konsumiert und mich immer bestens unterhalten gefühlt. Zum einen sind die Fälle in sich abgeschlossen, man muss also nicht immer den fiesen Cliffhänger erwarten, zum anderen lebt diese Reihe durch die Protagonisten, die ebenso speziell wie liebenswürdig dargestellt werden. In allen Bänden dominiert trotz düsterer Stimmung ein humorvoller Unterton und gerade die Vielschichtigkeit der Personen, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln, bietet hier den Mehrwert.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen eher klassischen, historischen Kriminalroman der neben einer ansprechenden Krimihandlung auch wieder ein facettenreiches Bild der vergangenen Zeit entwirft, angefangen beim verarmten Adel, hin zu neuer Dekadenz, über die Sorgen der einfachen Bürger und die erstarkenden politischen Bewegungen.

Alles wirkt sehr authentisch und unterhaltsam, man könnte sich auch eine Verfilmung gut vorstellen, weil der detaillierte Schreibstil vor allem das alltägliche Leben der Menschen einfängt und dem Leser näherbringt. An dieser Reihe bleibe ich definitiv dran.

Ganz so spannend wie in anderen Ermittlungsarbeiten der Bände 1-4 war es hier zwar nicht, was aber auch daran liegen mag, dass der Zufall dem Inspektor tatsächlich mehr als einmal zu Hilfe kam. Dafür hat mir die Darstellung des privaten Herrn Emmerich sogar besser gefallen, als Leser habe ich mittlerweile ein umfassendes Bild seines Charakters vor Augen und verfolge gespannt seinen Weg weiter.

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Veröffentlicht am 13.03.2022

Und dann erlosch die Aufmerksamkeit, wie sie es immer tut

Die Kinder sind Könige
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„Eine Zeit, die sie auszuradieren versucht, über die sie nicht zu sprechen bereit ist. Denn wenn man weitermachen will, muss man manchmal so handeln, als hätte es die Dinge nie gegeben.“

Inhalt

Die Polizistin ...

„Eine Zeit, die sie auszuradieren versucht, über die sie nicht zu sprechen bereit ist. Denn wenn man weitermachen will, muss man manchmal so handeln, als hätte es die Dinge nie gegeben.“

Inhalt

Die Polizistin Clara Roussel steht vor einem schwierigen Fall der Kindesentführung, als die kleine Kimmy Diore vom Versteckspiel nicht mehr zurückkehrt. Sie und ihr älterer Bruder Sammy wachsen ohnehin sehr behütet auf, eigentlich spielen sie nicht unter freiem Himmel und in der exklusiven Wohngegend gibt es niemanden, der einfach so kleine Mädchen von der Straße wegfängt. Schwierig wird es allerdings, als Clara begreift, wer hier tatsächlich gekidnappt wurde. Denn Kimmy und ihr Bruder sind echte Stars, weil ihre Eltern einen äußerst lukrativen Kanal betreiben, in dem ihre Mutter sich an alle Fans weltweit wendet und das komplette Familienleben als öffentliches Spektakel vermarktet. Familie Diore kennt fast jeder, sie sind wohlhabend und verdienen mit jedem geteilten Video eine nicht zu verachtende Summe Geld. Und jeder, der sich die zahlreichen Videos auf den Social-Media-Kanälen anschaut, würde mit wenig Aufwand herausfinden, wie das kleine Mädchen lebt und auch wo. Hauptakteurin hinter der Kamera ist Melanie Claux, eine Frau, die die Zufriedenheit ihrer virtuellen Fangemeinde schon längst über das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder gestellt hat. Und nun gezwungen wird, ihren Kummer als Mutter ebenfalls mit der Welt zu teilen …

Meinung

Ich bin ein großer Fan der französischen Bestsellerautorin Delphine de Vigan, die sich in jedem ihrer Romane einem kontroversen Thema stellt, welches oftmals Bezug zu unserer ganz alltäglichen Welt besitzt und meist eine generalistische Aussagekraft besitzt. Aktueller könnte es kaum sein, denn die Ausbeutung von Kindern im Netzt, ist ein sehr brisantes und mittlerweile nicht zu verachtendes Phänomen, tatsächlich muss man sich nur einmal durch die Profile alter Klassenkameraden auf facebook klicken und schon, lernt man deren Nachwuchs beim morgendlichen Frühstück kennen, auch wenn man längst keinen direkten Kontakt mehr zu den gewählten Personen hat.

Das Buch gliedert sich inhaltlich in zwei klar voneinander getrennte Teile. Im ersten Teil wird die Story rund um die Entführung geschildert und gewissermaßen auch die Hintergrundgeschichte beleuchtet. In kurzen Episoden erfährt der Leser auch von der Vernehmung und den aktuellen Umständen, ebenso wie vom Ermittlungsansatz der Polizei. Der zweite Teil des Buches spielt dann im Jahr 2031, die ehemaligen Kinderstars sind erwachsen geworden, ihre Mutter gealtert und die Polizistin mittlerweile mit anderen Fällen beschäftigt und doch setzt die Erzählung gerade hier andere Maßstäbe, denn sie fokussiert sich auf die Spätfolgen, die eine derartige Lebensweise mit sich bringen kann. Tatsächlich hat mich der zweite, deutlich kürzere Teil wesentlich mehr gereizt, denn zunächst bewahrt die Erzählung eine sehr objektive Sicht, man fühlt sich auf Distanz gehalten, gerade wenn man sich so wenig mit dieser Lebensweise identifiziert. Viele Emotionen werden ausgeblendet, es entsteht kaum Nähe zu den Protagonisten.

Danach gewinnt der Text aber immer mehr Tiefe und zeigt die traurigen Wahrheiten, die zerrütteten Lebenswege, die verpassten Chancen, die späte Abrechnung der Geschädigten und die Uneinsichtigkeit manch Betroffener – ab Seite 235 war dieses Buch ein Lesevergnügen für mich, sehr gern hätte ich hier die Schwerpunkte gesetzt aber so funktioniert das Buch eben nicht. Im Vergleich zu anderen Werken der Autorin bin ich deshalb auch etwas enttäuscht, hier fehlt es an durchgängiger Intensität, an Charakteren, denen man ihr Wesen abkauft, die nicht nur in ihre Rolle schlüpfen oder sich dem Leser so präsentieren, als wären sie aus Fleisch und Blut. Mag sein, dass es an meinem fehlenden Interesse für das gezeigte Leben im World Wide Web liegt, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie man so sehr auf fremde Bestätigung angewiesen sein muss, dass man dafür sein reales Leben vernachlässigt und nur noch wie verblendet auf die steigenden Zahlen der Likes schaut.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen aktuellen, sehr aufklärungsreichen Roman, dessen Kernthematik mir doch leider etwas fremd geblieben ist und nicht ganz an die gewohnt intensiven Texte der Autorin heranreicht. Die psychologischen Feinheiten kommen mir zu kurz, dennoch ist dieses Buch sprachlich ausgewogen und gut konzipiert. Eine mehr interessante Betrachtung als ein Herzensbuch, stellenweise hat mich die Interaktion richtig wütend gemacht und durchaus für die Sorgen und Nöte der Betroffenen sensibilisiert. Besonders dramatisch finde ich die Leere, die manch einer zu füllen versucht, indem er alles zur Schau stellt, was ihm begegnet und leider kenne ich tatsächlich solche Menschen, die sich ausschließlich über die Anerkennung Dritter definieren – sehr traurig gerade im Anbetracht der gesellschaftlichen Entwicklung.

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Veröffentlicht am 01.03.2022

Toxische Geschwisterliebe, die ihre Opfer fordert

SCHWEIG!
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„Aber unter der Oberfläche passiert etwas mit den Leuten, das du nicht siehst. Es ist nicht so, dass sie zerbrechen unter dem Druck, den du ausübst. Das denkst du vielleicht. Aber das Gegenteil ist der ...

„Aber unter der Oberfläche passiert etwas mit den Leuten, das du nicht siehst. Es ist nicht so, dass sie zerbrechen unter dem Druck, den du ausübst. Das denkst du vielleicht. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es wächst etwas in ihnen. Aus Widerwillen wird Widerstand.“

Inhalt

Am Tag vor Heiligabend besucht Esther ihre jüngere Schwester in deren Haus am Wald. Denn Sue ist nicht nur abgemagert, hilfsbedürftig und frisch geschieden, sondern auch psychisch labil. Erst im Jahr zuvor musste der Krankenwagen kommen, so etwas darf sich nicht noch einmal wiederholen – denn Esther fühlt sich verantwortlich. Allerdings ist Sue nicht so hilflos wie es scheint und bald wird deutlich, dass die Vergangenheit der Schwestern bei jeder von ihnen tiefe Spuren hinterlassen hat …

Meinung

Dies ist mein zweiter Roman aus der Feder der deutschen Autorin Judith Merchant, die aus ihren Thrillern stets psychologische Spannungsromane mit Einblicken in die seelischen Abgründe ihrer Protagonisten macht. Hier begegnen dem Leser zwei erwachsene Frauen, die ihre gemeinsame Herkunft aus einem von Alkohol und Vernachlässigung geprägten Elternhaus nur schwer verkraftet haben und sich nun eine Art Scheinwelt für das Gelingen ihres jeweiligen Lebens aufgebaut haben. Während sich die eine kinderlos in der Einsamkeit verkrümelt und keine menschlichen Kontakte pflegt, spielt die andere ihre fast perfekte Rolle als liebende Ehefrau und organisierte Mutter zweier Kinder.

Zwischen den beiden Schwestern herrscht eine eisige Stimmung, ihre Treffen begrenzen sich auf die Weihnachtszeit, sobald sie einander begegnen, brechen die Verhaltensmuster an der Grenze zur psychischen Manipulation abermals auf – eine toxische Beziehung, die über kurz oder lang ihre Opfer fordern wird.

Der erste Teil des Buches war für mich etwas ernüchternd, denn es herrschen verhärtete Fronten zwischen gleichermaßen gestörten Persönlichkeiten, so dass ich weder Verständnis noch Mitleid mit ihnen empfinden konnte. Dadurch tritt auch der Handlungsverlauf auf der Stelle, denn außer den Eindrücken der beiden Protagonistinnen bezüglich des Verhaltens der jeweils anderen bekommt man nichts geboten. Erst nachdem die jüngere Schwester beschließt, ihr Schweigen zu brechen gewinnt die Story sowohl an Tempo als auch an Potential. Das Gleichgewicht verschiebt sich immer wieder zu Gunsten einer der beiden und dann wird es endlich Zeit dafür, mit all den Lügen aufzuräumen.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen authentischen, bizarren Seelenstriptease, der den Leser tief hinein in eine vollkommen verkorkste Situation führt, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Die Charakterisierung ist vielschichtig, die Stimmung erdrückend und unheilschwanger und das Ende bietet abermals eine unvorhersehbare Wendung. Auch als Verfilmung könnte ich mir diese Textvorlage gut vorstellen, gerade die Interaktion zwischen den Figuren bietet viel Spielraum und diverse Rückblicke sorgen für ein stimmiges Bild.

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Veröffentlicht am 27.02.2022

Jeder geht den Weg, der für ihn bestimmt ist

Tell
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„Ich muss zugeben, dass mich sein Besuch beglückt hat. Wenn man an Menschen erinnert wird, die man einst geliebt hat, fühlt man nicht bloß Kummer.“

Inhalt

Eine Bauernfamilie hoch in den Bergen der Schweizer ...

„Ich muss zugeben, dass mich sein Besuch beglückt hat. Wenn man an Menschen erinnert wird, die man einst geliebt hat, fühlt man nicht bloß Kummer.“

Inhalt

Eine Bauernfamilie hoch in den Bergen der Schweizer Alpen, weit weg von der Zivilisation, leben sie ein bescheidenes Leben, ausgerichtet auf die täglichen Bedürfnisse. Die beiden Brüder Peter und Wilhelm Tell halten zusammen, auch wenn der eine ein munterer Zeitgenosse ist und der andere ein schweigsamer Eigenbrötler. Als ein Lawinenunglück dem jüngeren Bruder zum Verhängnis wird, sieht sich der ältere in der Verpflichtung, die Familie des Bruders durchzubringen. Doch am Himmel ziehen dunkle Wolken auf, schließlich durchpflügen die Mannen der Habsburger die Orte in der näheren Umgebung, schänden Frauen und Kinder und plündern, wo sie nur können. Spurlos wird der Feind auch nicht am Haus der Familie Tell vorbeiziehen, doch Wilhelm ist nicht gewillt, sich kampflos zu ergeben. Seine Ehrfurcht vor dem König und dessen Vasallen ist nicht existent, die Armbrust sein bester Freund und wenn er schon nicht den Bruder retten konnte, dann wenigstens die noch Lebenden.

Meinung

Dies war mein erster Roman aus der Feder des in Island lebenden Autors, der sich hier mit der Sage des berühmten Wilhelm Tell auseinandersetzt und sie in moderner Sprache und komprimierter Handlung zu Papier bringt. Der Klappentext des Buches verspricht einen Blockbuster und genau so habe ich diesen Roman auch empfunden, denn während des Lesens läuft vor dem inneren Auge eine sehr stimmungsvolle, glaubwürdige Handlung ab, die man szenengenau wahrnehmen kann. Doch weniger die Historie selbst steht im Zentrum der Erzählung als vielmehr die familiäre Situation eines einfachen Mannes, der bemüht ist, die Seinen zu beschützen.

Das Besondere an diesem belletristischen Unterhaltungsroman ist wohl die gewählte Perspektive, denn die Erzähler des Buches wechseln in kurzen, prägnanten Kapiteln und stellen allesamt Zeitgenossen von Wilhelm Tell dar. Jeder Beteiligte schildert auf seine Art und Weise die Begegnung mit Tell und das Zusammenspiel der Ereignisse. Er selbst kommt dabei zwar nicht zu Wort, doch das tut dem Lesevergnügen keinerlei Abbruch, wird er doch als ein wortkarger, harter, prinzipientreuer Mann beschrieben, der am liebsten allein mit sich und seinen Gedanken war.

Besonders gut gefallen hat mir die Vielschichtigkeit in der Charakterisierung des Hauptprotagonisten, denn der Leser erfährt viel über seine Hintergründe und wird ebenso umfassend über seine Handlungen informiert. Es sind die zahlreichen Facetten, die hier ein stimmiges Bild ergeben und die auch über das Leben des Legende hinaus eine Aussagekraft besitzen. Denn obwohl es ausschließlich um ebenjenen Schweizer Freiheitskämpfer geht, beleuchtet die Erzählung auch generalistische Aussagen bezüglich des Menschseins. Mut, Rache, Vergebung, Hass und Liebe, Glück und Versagen – alles Themen, die zwar nicht explizit genannt werden, aber dank des authentischen Erzählstils eben trotzdem ihre Spuren hinterlassen und die Aussage des Romans sehr vielfältig und nachdenklich erscheinen lassen.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen starken, wichtigen Roman, der ungeachtet seines Handlungsortes eine angenehme Zeitlosigkeit besitzt. Hier funktioniert beides: die Einbettung der Geschichte in die ursprünglichen zeitlichen Hintergründe, geprägt von Armut und Unterdrückung, Kampf mit dem Feind und gegen die Widrigkeiten der Umwelt. Aber ebenso die beispielhafte Schilderung menschlicher Charakterzüge und ihre Auswirkungen auf das direkte Umfeld und die nächsten Angehörigen. Sehr gern hätte dieses Buch noch ein paar hundert Seiten mehr haben dürfen, einfach weil man sich so schön in der Erzählung wiederfinden konnte und die Personen des Buches einem nach und nach ans Herz gewachsen sind. Eine große Leseempfehlung für dieses erste Jahreshighlight und ich werde nun „Kalmann“ direkt auf meine Wunschliste setzen.

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