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Veröffentlicht am 17.05.2023

Herausragende Kurzgeschichten

Böses Glück
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„Welche Bedeutung hat ein Mensch überhaupt für den anderen, abgesehen davon, dass der eine den anderen zum Handeln zwingt?“

Kleine, ganz alltägliche Begebenheiten Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts in ...

„Welche Bedeutung hat ein Mensch überhaupt für den anderen, abgesehen davon, dass der eine den anderen zum Handeln zwingt?“

Kleine, ganz alltägliche Begebenheiten Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts in Dänemark. Eigentlich könnten die Geschichten aber auch in einer anderen Zeit spielen, denn an Aktualität haben sie kein bisschen eingebüßt. Zumeist geht es vor allem um die (Familien-) Beziehungen der Protagonistinnen und um ihr Innenleben.

Die Geschichten sind in sehr klarerer, ungeschmückter Sprache geschrieben, kommen fast leicht daher. Und doch spürt man bereits beim ersten Satz, dass wir es hier nicht mit der Leichtigkeit des Seins zu tun bekommen. Im Gegenteil, die Protagonistinnen stolpern über Sätze, Blicke, Betonungen... scheinbare Kleinigkeiten, die andere (meist Männer) gar nicht wahrzunehmen scheinen. Und plötzlich muss alles in Frage gestellt werden.

Mir läuft es eiskalt den Rücken runter bei diesen Kurzgeschichten. Sie sind unversöhnlich und irgendwie auch trostlos. Voller Resignation.

Tove Ditlevsen - der Name war mir bisher noch nicht aufgefallen. Und jetzt frage ich mich, wieso ich nicht viel früher auf diese Autorin aufmerksam geworden bin!

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Veröffentlicht am 15.05.2023

Und plötzlich bricht die Welt zusammen

Siegfried
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„Wie schlecht ist man im Vergleich zu dem, was gut wäre – und wie soll man mit diesem Terror fertigwerden?“

Und plötzlich bricht die Welt zusammen. Aber nicht mit einem lauten Knall oder viel Lärm, sondern ...


„Wie schlecht ist man im Vergleich zu dem, was gut wäre – und wie soll man mit diesem Terror fertigwerden?“

Und plötzlich bricht die Welt zusammen. Aber nicht mit einem lauten Knall oder viel Lärm, sondern weil alles zu viel wird und aus dem Gleichgewicht gerät. So geht es der Protagonistin in Antonia Baums neuem Roman ‚Siegfried‘.
Sie streitet sich mit ihrem Partner. Er zeigt ihr die kalte Schulter. Nebenbei gilt es den Anforderungen des Alltags als junge Mutter wie immer gerecht zu werden… Nach und nach lässt sie ihre Familiengeschichte Revue passieren und es wird deutlich, dass es nicht nur die konkreten Herausforderungen im Alltag sind, die ihren Zusammenbruch gefordert haben. Auch in ihrer Geschichte und der ihrer Eltern und Großeltern liegen Probleme verborgen, die bis heute nachwirken.

Antonia Baum spricht eine aktuelle und sehr wichtige Thematik an. Sie analysiert Zusammenhänge, die bis in unsere Herkunftsfamilien reichen. Ein durchaus gelungenes, unterhaltendes Buch. Es ist auch ein sehr junges Buch, modern und urban. Manchmal fand ich die Vielschichtigkeit und gleichzeitige Strukturlosigkeit etwas anstrengend. Es ist auch kein Buch, das besonders lange nachhallt. Zumindest für mich nicht. Dennoch empfehlenswert.

„Die Dunkelheit dort war so unerträglich gewesen, dass ich das Licht wieder angemacht und auf den Tag gewartet hatte. Jetzt war er da, und ich wusste nicht, wie ich ihn überstehen sollte. Mir war heiß, ich hatte das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, und vielleicht kam mir da das erste Mal der Gedanke, in die Psychiatrie zu fahren.“

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Veröffentlicht am 28.04.2023

Das muss ich nicht gelesen haben

Muss ich das gelesen haben?
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„Wenn ein literarischer Klassiker ach so zeitlos ist, wieso interessieren sich dann immer weniger Leute für ihn? Wieso finden Jugendliche (sowie Erwachsene) den Zugang dazu nicht mehr?“ (2%)

Mit dieser ...

„Wenn ein literarischer Klassiker ach so zeitlos ist, wieso interessieren sich dann immer weniger Leute für ihn? Wieso finden Jugendliche (sowie Erwachsene) den Zugang dazu nicht mehr?“ (2%)

Mit dieser durchaus wichtigen Fragestellung befasst sich die Autorin Teresa Reichl. Sie hinterfragt den Literaturkanon, der seit Jahren und immer noch in der Schule behandelt wird. Und prangert an, dass diese angestaubten Klassiker wenig diverser Schriftsteller schuld daran sein könnten, dass immer weniger Interesse an Literatur und am Lesen gezeigt wird.

Damit trifft sie einen Punkt. Ihr Ansatz ist absolut richtig und ich glaube, dass tatsächlich ein frischer Wind in Literaturkanon und -didaktik wehen sollte, um aus den Menschen in der heutigen Zeit interessierte und vielleicht sogar passionierte Leser zu machen.

Teresa Reichels Sprache in „Muss ich das gelesen haben“ ist allerdings sehr schwierig. Zumindest für mich; vermutlich findet sie damit unter Jugendlichen den richtigen Ton. So war das Buch für mich enttäuschend und kaum zu Ende zu lesen. Aber ich vermute, dass ich einfach nicht zur Zielgruppe gehöre. Drei Sterne für ein Werk, dass sich mit einem wichtigen Thema befasst und die richtigen Fragen stellt, mich aber leider sprachlich nicht überzeugen konnte.

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Veröffentlicht am 19.04.2023

Bis der Tod uns scheidet

Das Ende der Ehe
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„Mit dem »Ende der Ehe« fordere ich das Ende einer obsoleten Institution, die die Ungleichheit und Unterdrückung der Frauen in unserer Gesellschaft produziert und aufrechterhält.“ (4%)

Frau und Mann ...


„Mit dem »Ende der Ehe« fordere ich das Ende einer obsoleten Institution, die die Ungleichheit und Unterdrückung der Frauen in unserer Gesellschaft produziert und aufrechterhält.“ (4%)

Frau und Mann verlieben sich und wollen ein gemeinsames Leben aufbauen. Die nächsten Schritte: Kinder bekommen, Haus bauen und selbstverständlich heiraten. Die Kleinfamilie ist das typische Lebensmodel in unserer Gesellschaft, inklusive aller Stereotype, die es enthält. Es handelt sich um ein heterosexuelles Zweiergespann, ein Kinderwunsch ist da, der Sex folgt dem von Hollywood und anderen Geschichten geprägten Bild, die finanzielle Versorgung und die Heimarbeit werden „klassisch“ geteilt und so weiter und so fort…
Doch warum ist ausgerechnet dieses so intime Lebensthema scheinbar so normiert? Und warum wird es durch die Möglichkeit der Eheschließung staatlich gefördert? Warum greift überhaupt der Staat in eine so private Entscheidung ein?

Emilia Roig analysiert und zerlegt die Institution Ehe. Sie zeigt auf, dass darin ein wichtiges und diskriminierendes Machtmittel des Patriarchats steckt. Ein Instrument, das seit Jahren das ungleiche Verhältnis zwischen den Geschlechtern Frau und Mann fördert und aufrechterhält - und alle anderen Geschlechter, Identitäten und Beziehungen erst gar nicht mitdenkt.

Dieses Buch hallt sehr nach. Roigs Argumente sind sehr zugespitzt formuliert; vieles, das uns so „normal und selbstverständlich“ scheint, analysiert sie messerscharf als diskriminierendes, unterdrückendes Mittel des Patriarchats. Und das tut weh. Denn man fühlt sich dann entlarvt und vorgeführt. Wie naiv bin ich eigentlich, dass ich da mitspiele und mir das alles noch als Romantik verkläre?

Trotzdem sind es keine persönlichen Angriffe auf die individuellen Entscheidungen der Menschen. Sie analysiert das große Ganze, die gesellschaftlichen Zusammenhänge.

Die klaren Worte, die die Autorin findet, sind also nicht nur schmerzhaft, sondern auch sehr wichtig. Denn wenn wir unsere Gesellschaft gerechter machen wollen, müssen wir uns ihre Missstände vor Augen halten. Nur dann können wir sie erkennen und ändern.

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Veröffentlicht am 05.03.2023

Über das Ungesagte

Wir hätten uns alles gesagt
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„Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“ (7%)

In ihrem aktuellen Buch nähert sich Judith Hermann ...

„Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“ (7%)

In ihrem aktuellen Buch nähert sich Judith Hermann scheinbar autobiografisch ihren bisherigen Geschichten. Was dabei entsteht ist eine sehr besondere neue Geschichte.
Wer Judith Hermanns Werk kennt, weiß, dass sie vieles in ihren Geschichten ungesagt lässt: Sie lösen in uns Lesern Bezüge und Emotionen aus und wir bleiben frei darin, sie zu interpretieren.

„Wir hätten und alles gesagt“ setzt eine Ebene höher an. Wir scheinen uns über allem bisher von Hermann Geschriebenem zu befinden und sie verrät uns ein wenig über den Schreibprozess und die Hintergründe zu ihren Geschichten. Aber tut sie das wirklich? Am Ende dieses Buches war ich mir da nicht mehr so sicher. Denn auf der einen Seite scheint „Wir hätten uns alles gesagt“ zu analysieren und Persönliches aus dem Leben der Autorin preiszugeben; auf der anderen Seite ist es wieder ein typischer Hermann-Roman. Alles bleibt in der Schwebe.

Und auch in diesem Buch geht es wieder um zwischenmenschliche Beziehungen, die so vielfältig und manchmal schwierig sein können. Es geht um ungewöhnliche Freundschaften, die familiäre Herkunft und um Wahlverwandschaften.

„Wie hätten uns alles gesagt“ hat mich unheimlich tief berührt und angesprochen. Für mich ist dieses Spiel mit dem Ungesagten, das Judith Hermann so meisterlich beherrscht, tiefgründig und aufregend. Und so sehr mich ihre Kurzgeschichten beeindrucken - Hermanns Romane (und dieses Buch zähle ich dazu) sind für mich noch bedeutender.

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