✨ REZENSION zu „A Dark and Secret Magic“ von Wallis Kinney, übersetzt von Jasmin Humburg und erschienen im @kiwispace_verlag
📖 Inhalt (spoilerfrei): Kate, eine dreißigjährige Heckenhexe, lebt nach dem ...
✨ REZENSION zu „A Dark and Secret Magic“ von Wallis Kinney, übersetzt von Jasmin Humburg und erschienen im @kiwispace_verlag
📖 Inhalt (spoilerfrei): Kate, eine dreißigjährige Heckenhexe, lebt nach dem Tod ihrer Mutter zurückgezogen in einem alten Hexenhaus. Dort steht eines Abends ihr Exfreund Mat vor der Tür, ein Nekromant, dessen Magie in Kates Zirkel als verboten gilt. Als ihre Schwestern sie bitten, das jährliche Halloween-Treffen ihres Zirkels auszurichten, findet sie beim Aufräumen des alten Familenanwesens ein rätselhaftes Buch mit einer Nachricht ihrer Mutter. Mit Mat's Hilfe begibt sie sich daraufhin auf eine magische Spurensuche.
🖋️ Erzählstil und Struktur: Kinney schreibt sehr atmosphärisch und detailreich. Doch Kate's Küchenzauber sind für mich etwas zu ausführlich und haben meinen Lesefluss gebremst. Die Handlung folgt einem recht vorhersehbaren Aufbau: bestimmte Wendungen, wie der Ausgang des Kürbisschnitzens zeichnen sich früh ab. Ganz nett sind die im Anhang abgedruckten Rezepte zum Nachkochen, denen sich Kate im Buch gewidmet hat.
👥 Figuren: Kate ist eine in sich gekehrte Protagonistin, mit deren Alter und Lebenssituation ich mich sehr gut identifizieren konnte. Ihre Introvertiertheit und ihr ruhiger Alltag mit Merlin verleihen der Geschichte Authentizität und Wärme. Ihre Schwestern, sowie der restliche Zirkel bleiben mir etwas zu blass und auch Mat finde ich viel zu flach. Die Rückblenden zu seiner Vergangenheit mit Kate bleiben mir zu unklar und zu vage, sodass sich ihre Verbundenheit für mich ein bisschen oberflächlich konstruiert anfühlt.
💡 Fazit: Die Grundidee und die Atmosphäre sind toll, aber das Buch verschenkt an einigen Stellen sein Potenzial. Viele Szenen wirken zu vorhersehbar und folgen bekannten Mustern, wodurch für mich der Tiefgang fehlt. Die vielen Beschreibungen von Kates Kochritualen oder alltäglichen Handgriffen tragen zwar zur Stimmung bei, nehmen aber irgendwann zu viel Raum ein. Und das Ende wirkt für mich zu glatt und zu sehr auf ein Happy End hingeschrieben.
Rezension zu "Die drei Leben der Cate Kay" von Kate Fagan, übersetzt von Claudia Voit und erschienen im Insel Verlag
Inhalt (spoilerfrei): "Die drei Leben der Cate Kay" erzählt die Geschichte einer Frau, ...
Rezension zu "Die drei Leben der Cate Kay" von Kate Fagan, übersetzt von Claudia Voit und erschienen im Insel Verlag
Inhalt (spoilerfrei): "Die drei Leben der Cate Kay" erzählt die Geschichte einer Frau, die sich im Laufe ihres Lebens immer wieder neu erfindet. Annie, die sich später Cass und wieder später Cate nennt, wird als anonyme Schriftstellerin berühmt (ihre Bücher werden sogar verfilmt), doch trägt sie in all ihren drei Leben ein tragisches Geheimnis mit sich herum. Diesem widmet sie sich unter anderem in Form eines Memoires, in dem auch andere Stimmen aus ihren drei Leben zu Wort kommen.
Erzählstil und Struktur: Kate Fagan erzählt diesen Roman auf eine kluge, vielstimmige und ungewöhnliche Weise. Die Kapitel wechseln zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Zeiten. Annie-Cass-Cate erzählt ihre Geschichte in verschiedenen Lebensphasen, und immer wieder treten andere Menschen aus ihrem Umfeld hervor. So entsteht das vielschichtige Porträt einer Frau, die versucht, sich selbst zu finden, während sie immer neue Identitäten annimmt. Der Stil ist fein, intelligent und voller Zwischentöne. Fagan hat ein unglaubliches Gespür für Sprache und Rhythmus. Ihre Sätze sind mal nüchtern, mal poetisch, mal unglaublich lustig und immer mit einem leisen Unterton von Melancholie. Sie schafft es, Themen wie Schuld, Liebe und Identität mit einer feinen Ironie und Leichtigkeit zu erzählen. Besonders die kleinen Randbemerkungen, d.h. Cates Kommentare und Einschübe verleihen dem Roman eine besondere Lebendigkeit. Sie sind manchmal humorvoll, manchmal schmerzhaft ehrlich und machen das Buch zu etwas sehr Intimen, das sich sehr echt anfühlt. Anfangs braucht man ein wenig Zeit, um in die Erzählstruktur hineinzufinden, weil vieles unausgesprochen bleibt. Aber genau das ist Teil des Reizes. Spätestens ab Seite 90 entfaltet der Roman eine wahnsinnige Sogwirkung und man kann kaum aufhören zu lesen.
Figuren: Was mich beim Lesen sofort fasziniert hat, war, wie sehr mich dieses Figurenensemble an "Die sieben Männer der Evelyn Hugo" von Taylor Jenkins Reid erinnert hat (nicht inhaltlich eins zu eins, aber in der Art, wie beide Romane Frauen zeigen, die im Rampenlicht stehen und zugleich mit den Erwartungen der Öffentlichkeit, mit ihrer eigenen Identität und mit gesellschaftlichen Zwängen ringen). Im Mittelpunkt steht natürlich Annie (Anne Marie) bzw. Cass bzw. Cate. Sie ist eine Frau, die sich in unterschiedlichen Lebensphasen immer wieder neu erfindet und zugleich versucht, ihrer Vergangenheit zu entkommen. Um sie herum herrscht ein Netz von Menschen, die sie prägen und spiegeln: ihre beste Freundin Amanda, Amandas Schwester, Annies Mutter, eine Schauspielerin, die an der Verfilmung von Annies (bzw. Cates) Büchern mitwirkt, etc. etc. etc. Zu gerne würde ich auf jede einzelne Figur eingehen und warum ich sie so wundervoll, ungeschönt und authentisch porträtiert finde, aber damit würde ich viel zu viel vorweg nehmen und ich möchte meine Rezensionen gerne spoilerfrei halten.
Symbolik und Themen: Das zentrale Thema des Romans ist Identität. Cates wechselnde Namen und Lebensentwürfe spiegeln den Versuch, sich immer wieder neu zu erfinden (leichte CoA-Züge) oder sich selbst zu entkommen. Es geht um die Frage: Wer bin ich, wenn ich meine Geschichte selbst erzähle, und wer, wenn andere sie für mich erzählen? Aber auf der Meta Ebene geht es auch um die Grenzen zwischen Authentizität und Inszenierung von Identität in der Öffentlichkeit. Weiterhin geht es um Schuld, Verantwortung und um Freund:innenschaft, aber vor allem fokussiert der Roman auf eine ganz feinfühlige und subtile Weise starke weibliche Figuren, die allesamt unterschiedlich mit ihrem Schmerz umgehen. Das hat mich wirklich stark berührt.
Fazit: Ich kann mit voller Überzeugung sagen: "Die drei Leben der Cate Kay" gehört zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe (außerhalb des Fantasy Genres). Es ist hingebungsvoll, klug, mutig, stark, und zugleich unglaublich gefühlvoll. Ich habe beim Lesen mehrmals geweint, vor allem am Ende, als sich die Spannung zuspitzte und die Emotionen sich entluden wie ein Faden kurz vorm Zerreißen. Es war ein Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte (leicht zu lesen, schwer zu vergessen). Jede Figur hat mich berührt, jede Geschichte hat mich ein Stück näher an Kate herangeführt. Und am Ende bleibt dieses Gefühl, dass man etwas wirklich Besonderes gelesen hat: ein unkonventionelles, tief berührendes, zutiefst menschliches Buch über komplexe Frauen, über Schuld, Liebe, Identität und das Erzählen selbst. Hut ab vor Kate Fagan, zumal dies ihr Debüt ist!
Rezension zu „Das seltsame Haus“ von Uketsu, übersetzt von Heike Patzschke und erschienen im Bastei Lübbe Verlag.
Mini-Trigger-Warnung: In diesem Buch geht es unter anderem um grausame Morde und abgetrennte ...
Rezension zu „Das seltsame Haus“ von Uketsu, übersetzt von Heike Patzschke und erschienen im Bastei Lübbe Verlag.
Mini-Trigger-Warnung: In diesem Buch geht es unter anderem um grausame Morde und abgetrennte Gliedmaßen (Leser:innen sollten mit verstörenden Bildern und Szenen rechnen).
Inhalt (spoilerfrei): Der Erzähler, ein Autor für die japanische Website "Omokoro" wird von einem Freund angefragt, sich Grundrisse eines Hauses anzusehen, das dieser erwerben möchte. Auf den ersten Blick wirkt das Haus unproblematisch, doch irgendwas ist an der Architektur fragwürdig. Gemeinsam mit seinem Architektenfreund Kurihara beginnt der Erzähler, eine unheimliche Spur zu verfolgen.
Erzählstil und Struktur: Der Stil wirkt zunächst ungewöhnlich: Es ist eine Ich-Perspektive, aber zugleich klingt das Ganze wie eine Reportage oder ein Interview. Die wörtliche Rede ist häufig knapp, mit repetitiven Reaktionen in Form von Ausrufen wie „Was?!“ oder ähnlichen. Dies erinnert weniger an ein literarisches Erzählen als an eine dokumentarische Aufzeichnung. Die Handlung schreitet sehr schnell voran (man hat manchmal den Eindruck eines Zeitraffers: Eben noch wird das Haus eines Freundes beschrieben, auf der nächsten Seite springt das Geschehen in die Vergangenheit („damals“) oder in ganz neue Zusammenhänge). In Japan scheint mit dem Buch ein Trend aufzugreifen: Die Verbindung von Kriminal- bzw. Mysteryelementen mit visuellen Skizzen (kenne ich bereits aus "Die Bibliothek meines Großvaters" von Masateru Konishi). So lädt Uketsu seine Leser:innen dazu ein, selbst Detektiv:in zu spielen, anhand von Grundrissen den versteckten Raum hinter der Fassade zu entdecken. Die Struktur wechselt im letzten Viertel zu einer dichten Informationsfülle (viele ähnlich klingende, neue Namen, Abkürzungen und Ahnentafeln) was die Lesbarkeit deutlich erschwert.
Figuren (der Autor): Die Hauptfigur ist der Ich-Erzähler, der zugleich als fiktiver Autor auftritt. Der reale Autor Uketsu bleibt anonym: Bekannt ist, dass er öffentlich kaum auftritt, stattdessen mit Ganzkörperanzug und Maske operiert, sein Pseudonym gewählt hat und über YouTube-Videos bekannt wurde, bevor er Bücher veröffentlicht hat. Die Figur Kurihara, ein Architekt, übernimmt gegen Ende eine reflexive Rolle im Nachwort: Er spricht über Uketsu, seine Arbeitsweise, über die Authentizität der Ereignisse. Durch diesen Meta-Wechsel (eine Figur spricht über den Autor) wird das erzählte „Berichthafte“ nochmals bestätigt und die Grenze zwischen Fiktion und fiktionaler „Realität“ verschwimmt. Die Verwendung von Kürzeln wie „X“ oder „XY“ bei Namen von Städten, Präfekturen oder Personen trägt zwar bestimmt zur Lesefreundlichkeit bei (zumindest für die europäische Leser:innenschaft), aber gleichzeitig wirkt so alles ein bisschen austauschbar und distanziert, es entsteht das Gefühl, eher einem Bericht mit irrelevanten Rahmendaten als einer emotionalen Geschichte zu folgen. Außerdem steht es für mich in einem krassen Bruch dazu, dass man im letzten Drittel plötzlich mit einer Fülle an Namen, Ritualen, Familienzusammenhängen und Stammbäumen konfrontiert, die kaum zu durchschauen sind. Diese Diskrepanz zwischen überdeutlicher Einfachheit (besonders am Anfang) und späterer Überforderung ist fast schon irritierend und macht das Buch meines Erachtens erzählerisch schwer greifbar.
Symboliken und Themen: Thematisch fand ich den Hintergrund spannend. Sicher hat man schon einmal von der Ein-Kind-Politik in China gehört, aber von Mabiki hatte ich vorher noch nie etwas gelesen. Damit ist die Praxis der Kindstötung gemeint, die in Japan bis zur Meiji-Zeit in vormodernen japanischen Gesellschaftsschichten existierte, wenn Familien sich zu viele Kinder nicht leisten konnten. Der Begriff "Mabiki" bedeutet wörtlich „das Ausdünnen (von Setzlingen)“ und wurde in Ost-Japan bis ins 19. Jahrhundert als Euphemismus für Infanticide verwendet. Was für (ungeübte) europäische Leser:innen vielleicht ungewohnt wirkt, ist die stark mythologische Prägung. In Japan spielt der Glaube an Mythen, Geister und Legenden eine viel größere Rolle als bei uns. Im Shintō-Glauben gibt es unzählige Kami (Geister oder Gottheiten) die in Bäumen, Bergen, Flüssen oder sogar Alltagsgegenständen wohnen. Diese Durchlässigkeit zwischen Materiellem und Spirituellem ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt. Während wir in Europa Mythen meist als vergangene Erzählungen betrachten, die man symbolisch oder literarisch liest, werden sie in Japan eher als etwas Lebendiges verstanden, als etwas, das sich im Alltag fortsetzt. Genau das spürt man hier: Das Okkulte und das Reale, das Glaubenssystem und die Architektur verschmelzen, bis man nicht mehr weiß, wo die Grenze liegt. In der japanischen Literatur begegnet man dieser mythologischen Thematik recht häufig (besonders eindringlich finde ich ist es in dem Buch "Der Laden in der Mondlichtgasse" von Hiyoko Kurisu).
Fazit: Man merkt dem Buch auf jeden Fall an, dass es etwas völlig anderes sein will als das, was man aus westlicher Erzähltradition kennt. Das ist mutig und in der ersten Hälfte erfrischend (wenn auch in seinen Andeutungen und Interpretationen maßlos übertrieben und völlig abstrus). Aber dann verliert es sich in seiner eigenen Konstruktion. Der Stil ist widersprüchlich: mal übererklärend, mal völlig überladen, und sprachlich so wechselhaft, dass man als Leserin kaum Halt findet. Besonders das letzte Drittel hat ich rausgerissen, wegen der vielen neuen Namen, den komplizierten Familienverhältnissen, die okkulte Wendung, die für mich zu abstrus wurde. Ich war kaum noch „drin“ und mein Lesefluss war gestört und ich hätte zu viel investieren müssen, um wieder einzusteigen. Dazu war ich am Ende dann auch nicht mehr bereit, weil mir die grundlegende Sympathie mit den Figuren fehlte. Das Ende hat für mich vieles legitimer gemacht, u.a. das Nachwort verdeutlichte, warum der Berichtston gewählt wurde. Und die Verbindung von realem Autor und fiktionaler Figur hat für mich die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verflüssigt, wodurch das unbehagliche Gefühl beim Lesen noch verdeutlicht wurde. Es wirkte dann am Ende plötzlich immersiver, weil es durch diese Metaebene fast so scheint, als würde man einer echten Dokumentation folgen, deren Figuren am Ende lebendig werden und über den Autor sprechen, als wäre er nicht Autor, sondern Selbstfigur. Das hat mich irgendwie beeindruckt. Aber, ehrlich gesagt, finde ich das Mysterium um den Autor auch ein bisschen albern und wichtigtuerisch (er trägt eine weiße Maske und einen schwarzen Ganzkörperanzug, seine Identität bleibt ein Rätsel). Insgesamt würde ich dem Buch 2,5 Sterne geben: Es ist, innovativ und mutig, aber stilistisch und strukturell für mich nicht durchgängig überzeugend.
Eigentlich hatte ich mich richtig auf das Buch gefreut und war aufgrund der Beschreibungen ("Düster, sexy, mit Horrorelementen, herbstliche Romance") voller ...
Achtung: Ich habe das Buch abgebrochen! (DNF)
Eigentlich hatte ich mich richtig auf das Buch gefreut und war aufgrund der Beschreibungen ("Düster, sexy, mit Horrorelementen, herbstliche Romance") voller Erwartungen. Ich fand ich das Setting auf dieser abgelegenen Insel in einem alten Herrenhaus richtig toll und auch der Schreibstil hat mir gut gefallen. Und ich fand auch eine der Protagonistinnen (Salem) sehr gut gestaltet, da sie nach einer aufgelösten Verlobung mit einem Mann (und der Trennung von ihm) offenbar auch an Frauen interessiert ist. Es wird aber gar nicht erklärt oder weiter ausgeführt, welche sexuelle Orientierung sie hat und ich finde das sehr gut, da es meiner Meinung nach heutzutage keiner Rechtfertigung mehr dafür bedarf.
Allerdings entwickelt sich die Geschichte dann in eine Richtung, mit der ich persönlich gar nicht warm geworden bin. Es gibt sehr explizite Szenen mit BDSM-Elementen, in denen unter anderem (und für mich unerwartet) Dominanzspiele mit Fesselungen und Erniedrigung vorkommen. Das ist etwas, was ich echt nicht brauche... deshalb habe ich das Buch an dieser Stelle abgebrochen.
Ich finde es schade, dass die Triggerwarnung nicht direkt im Buch steht, sondern erst online nachgelesen werden muss (auf den ersten Seiten steht nur "Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/HouseOfRayne eine Content-Note"). Wäre dort klar auf die expliziten BDSM-Inhalte hingewiesen worden, hätte ich das Buch gar nicht erst begonnen (nicht, weil das Thema falsch ist, sondern einfach, weil es nicht meinem Geschmack entspricht!) Trotzdem glaube ich, dass "House of Rayne" für Leser:innen, die sich für düstere, sinnliche Geschichten mit queeren Protagonist:innen interessieren und mit BDSM Themen kein Problem haben, durchaus interessant sein kann. Für mich persönlich war es allerdings nichts und ich finde es dann immer schade, dass man so explizit sexuelle Inhalte nicht überspringen kann (z.B. mit einer Anmerkung der Autorin, dass man bis Seite ... blättern soll, dabei aber nichts Relevantes verpasst).
Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie ich da jetzt eine numerische Sterne-Bewertung geben soll, da diese ja nur eingeschränkt aussagekräftig wäre (ich kenne ja nicht das ganze Buch). Handwerklich fand ich es gut, aber es war einfach nicht mein Geschmack...
✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag
📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch ...
✨ REZENSION zu „Beste Zeiten“ von Jenny Mustard, übersetzt von Lisa Kögeböhn und erschienen im Eichborn Verlag
📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Mittelpunkt steht Sickan, die eigentlich Siv heißt, sich jedoch selbst einen neuen Namen gibt, um sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Mit Anfang 20 ist sie für ihr Studium gerade nach Stockholm gezogen und versucht nun, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen, fernab ihrer exzentrischen Eltern, die hochintelligente Wissenschaftler, aber sozial unbeholfen und auffällig sind. Sie selbst kämpft mit Scham, Einsamkeit und dem tiefen Wunsch, „normal“ zu sein und dazuzugehören und muss erkennen, wie schwer es ist, sich selbst zu verstehen, während man versucht, in einer Welt voller Erwartungen seinen Platz zu finden.
🖋️ Erzählstruktur & Stil : Jenny Mustard wählt eine fragmentarische, introspektive Erzählweise. Mit beinahe jedem Absatz wechselt die Perspektive zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Erinnerungsfetzen. Wir sind mal in Stockholm, mal in Sickans Kindheit, mal während der Weihnachtsferien bei ihren Eltern. Diese ständigen Zeit- und Ortswechsel fordern die Lesenden, ohne sie zu überfordern. Der Stil ist nüchtern, präzise und poetisch. Viele Sätze wirken beiläufig und tragen doch eine tiefe emotionale Wucht. Besonders auffällig ist die sprachliche Ehrlichkeit: Körperliche und intime Erfahrungen werden nicht ausgespart, sondern selbstverständlich in den Text integriert. Wenn Sickan über ihre Menstruation spricht oder den Kauf von Tampons reflektiert, wird deutlich, wie subtil gesellschaftliche Schammechanismen wirken und wie absurd sie sind. Jenny Mustard benennt Scham, Sexualisierung und Körperlichkeit offen und enttabuisiert damit Themen, die in vielen Romanen noch ausgespart werden. Die Sprache ist dabei nie plakativ, sondern ruhig, beobachtend, reflektiert und kraftvoll.
👥 Figuren: Sickan ist eine komplexe, oft widersprüchliche Figur: sensibel, introspektiv, manchmal kühl, abgebrüht, dann wieder verletzlich und unsicher. Diese Ambivalenz macht sie authentisch und menschlich. Ihre Eltern, Freunde und Partner sind weniger im Mittelpunkt, dienen aber als Spiegel ihrer Entwicklung. Besonders ihre Beziehung zu Abbe ist ambivalent: von Zuneigung geprägt, aber auch von Distanz, Unsicherheit und Schmerz.
🌙 Symbolik: Einerseits spiegelt die fragmentarische Struktur Sickans seelische Unruhe und die Suche nach Orientierung wider: Wie sie selbst sich noch nicht zurechtfindet, muss man sich als Leserin ebenfalls immer wieder neu verorten. Die Benennung ihrer Menstruation steht für Körperlichkeit, Weiblichkeit und Normalität, wird ungeschönt integriert ein Akt sprachlicher Ehrlichkeit. Die Tampon-Kaufszene macht internalisierte Scham sichtbar, die Angst, über den Körper bewertet zu werden, und das Bewusstsein, dass selbst Intimes gesellschaftlich aufgeladen ist. Das Einsetzen der Blutung tritt genau zeitgleich zu ihrem emotionalen Schmerz ein, weil ihr Abbe kein „god jul!“ zu Heilig Abend wünscht. Die fast erfrorene Zehen symbolisieren die fragile Beziehung zu Abbe: sie sind „fast tot“, kehren aber schmerzhaft, doch lebendig zurück, wie auch er in ihrem Leben präsent bleibt.
🕳️ Thematische Tiefe: Jenny Mustard thematisiert eindrücklich, wie junge Frauen in einer leistungsorientierten, bewertenden Gesellschaft aufwachsen. Sie beschreibt den Druck, attraktiv und begehrenswert zu sein, die frühe Sexualisierung, die Scham über den eigenen Körper, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Normalität, die Schwierigkeit, echte Nähe zuzulassen.
💡 Fazit: „Beste Zeiten“ ist ein stilles, aber starkes feministisches Werk, das den Blick nach innen richtet, auf die Prägungen, Erwartungen und Unsicherheiten, die uns in frühen Erwachsenenjahren begleiten. Es ist ein sprachlich starkes, introspektives Coming-of-Age über Selbstsuche, Scham, Körperlichkeit und Zugehörigkeit. Mir gefiel besonders die atmosphärische Dichte des Stockholmer Settings, die ehrliche Sprache, die stille Symbolik und die thematische Relevanz. Dennoch hat das Buch emotional nicht allzu viel mit mir gemacht. Es blieb stellenweise distanziert, vieles wurde nur angedeutet, manche Erinnerungen blieben offen (was ist mit ihrer Narbe am Finger?!). Spannend ist der autofiktionale Eindruck: Jenny Mustard hat selbst in Stockholm gelebt und studiert, und einige Details (wie das Rasieren der Haare) scheinen aus ihrem eigenen Leben inspiriert. Doch der Roman ist klar als Fiktion angelegt und nutzt persönliche Erfahrungen eher atmosphärisch als biografisch, ganz ähnlich zu den kreativen Dialogen, die Sickan im Buch auf Grundlage wahrer Gespräche schreibt, aber abändert. Insgesamt ein unglaublich energetisches und mutiges Buch, das wichtige Themen flüsternd auf den Punkt bringt und dabei keinerlei Authentizität einbüßt.