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Veröffentlicht am 22.10.2025

Ein besonderes Werk voller feministischer Gedanken - erzählerisch für mich zu distanziert

Zwischen zwei Leben
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Ganz ehrlich: Ich bin ziemlich überrascht, wie gut es mir im letzten Drittel doch noch gefallen hat! Es lohnt sich definitiv, an der Geschichte dranzubleiben, wenn mensch über den besonderen, eher kühlen ...

Ganz ehrlich: Ich bin ziemlich überrascht, wie gut es mir im letzten Drittel doch noch gefallen hat! Es lohnt sich definitiv, an der Geschichte dranzubleiben, wenn mensch über den besonderen, eher kühlen Erzählstil hinwegsehen kann (oder ihn alternativ einfach mag).

Denn so spannend ich die Geschichte rund um eine frisch getrennte Frau in ihrer zweiten Lebenshälfte fand, kam ich mit der Erzählperspektive lange Zeit gar nicht klar. Im Endeffekt gibt es sogar drei wechselnde Erzählperspektiven: eine Erzählstimme, die fast schon reportagenhaft in der dritten Person über Jenny schreibt; die Briefe aus der Ich-Perspektive der Protagonistin und schließlich die Ajattaras, die wie eine Art innere Stimme mit und über Jenny sprechen.

Ich brauche wirklich Geschichten, die mich emotional aufnehmen. In denen ich die Protagonistin fühlen und ihr Leben ein kleines Stückchen mitleben kann. Und das schafft die Autorin durch ihre sehr kühle, distanzierte Sprache nicht. Wahrscheinlich war das auch nicht beabsichtigt und der Roman ist in jedem Fall sehr besonders, aber ich hatte damit wirklich große Schwierigkeiten. Besonders am Anfang habe ich ganze Passagen übersprungen, weil ich mich nicht auf den Text konzentrieren konnte.

Dabei stecken so wichtige Gedanken und auch echter feministischer Widerstand in dieser Geschichte! Besonders oft geht es natürlich um gesellschaftliche Ansprüche an explizit auch ältere Frauen, was eine in der Literatur noch immer unterrepräsentierte Gruppe ist. Doch die teils wütenden und provokanten Reflexionen der Protagonistin sind selten leicht greifbar. Oftmals stecken sie fast zwischen den Zeilen und da mir der sprachliche Stil so wenig zugesagt hat und zu distanziert war, habe ich die Gedanken nicht immer erfassen können.

Die Märchenfiguren sind eine so kreative Idee und konnten mich schlussendlich doch eher begeistern. Sie reden über ihre eigenen Leben, die schließlich zu Märchen umgedichtet wurden - mit dem Ziel, Mädchen und Frauen restriktive gesellschaftliche Normen zu vermitteln. Die Kapitel fand ich am Anfang noch wenig verständlich, aber nach einer Gewöhnungsphase habe ich an ihnen durchaus Gefallen gefunden. Die Autorin traut sich meiner Meinung nach wirklich etwas und geht mit viel Talent an die Kehrseite der Märchen heran. In meinem Kopf habe ich immer versucht, diese neuen Erzählungen mit den bekannten Märchen zu verknüpfen, was mir nicht oft gelungen ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass es sowieso genau darum nicht gehen soll, sondern dass die Autorin damit aufzeigen möchte, dass Märchen wirklich völlig konstruiert und fern jeglicher Realität sind. Gleichzeitig wird aber auch ihre Macht deutlich: sie vermitteln klare Bilder über weibliche(s) Körper, Lust, Leben und Lieben.

Was mir auch sehr gut gefallen hat und was ich lobenswert erwähnen möchte, ist, dass die Autorin in ihrem Text über ein binäres Geschlechtersystem hinaus denkt. So erklärt sie bspw. ganz nebenbei, dass Geschlechtsteile nichts mit Geschlechtern zu tun haben.

Ein abschließendes Urteil oder gar eine Empfehlung fällt mir entsprechend sehr schwer. Zum Ende hin fand ich die Entwicklung der Hauptfigur richtig gut. Ihr Ausbrechen aus Strukturen, das gleichzeitig sehr ehrlich und nicht heroisch dargestellt wird, ist bemerkenswert und stark. Es wird wiederholt klar, dass es kein leichter Weg ist hin zum Überwinden patriarchaler Narrative, dass sich dieser Weg aber lohnt. Doch trotz meines positiveren Gefühls am Ende war das Werk mir persönlich einfach zu experimentell, zu dynamisch, zu emotional distanziert. Wer sprachliche Besonderheiten und eine ernsthafte Auseinandersetzung älterer Frauen mit ihrem patriarchal geprägten Umfeld sucht, hat hier wahrscheinlich mehr Freude.

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Veröffentlicht am 17.10.2025

Stilistisch und sprachlich nicht ganz meins, inhaltlich aber ergreifend

Botanik des Wahnsinns
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Der Roman hat in meinem Umfeld wirklich viel Begeisterung erfahren, außerdem ist das Cover ein optischer Traum und so war ich sehr neugierig auf das Debüt Leon Englers. Und ich bleibe so fasziniert wie ...

Der Roman hat in meinem Umfeld wirklich viel Begeisterung erfahren, außerdem ist das Cover ein optischer Traum und so war ich sehr neugierig auf das Debüt Leon Englers. Und ich bleibe so fasziniert wie unschlüssig zurück.

Johannes Nussbaum hat das Hörbuch wirklich fantastisch umgesetzt. Ich kannte den Autor bislang gar nicht und hatte doch beim Hören das Gefühl, er liest die Geschichte selbst vor. Ein Perfect Match von Sprecher und meiner Vorstellung der Autorenstimme! Da doch einige Fachbegriffe und spezifische Autor:innen sowie deren Werke referenziert werden, war das Hörverständnis manchmal erschwert. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass ich beim Lesen aus anderen Gründen mehr Schwierigkeiten gehabt hätte, sodass für mich das Hörbuch die richtige Wahl war.

Denn stilistisch und literarisch hat mir „Botanik des Wahnsinns“ weniger gut gefallen. Ich kann objektiv nachvollziehen, warum es dahingehend begeistert, aber ich habe immer meine Schwierigkeiten mit einer eher distanzierten, abgehackten Erzählweise. Die vielen Referenzen zu Philosoph:innen waren mir zu trocken, die geschichtlichen Hintergründe im Bereich Psychiatrie fand ich wiederum äußerst lehrreich.

Rein literarisch wäre es für mich eher ein 3-Sterne-Buch. Doch Leon Engler schreibt, wenn auch distanziert, so greifbar und menschlich über psychische Erkrankungen, dass es mich wirklich ergriffen hat. Der Autor kritisiert subtil, aber doch deutlich das aktuelle Psychiatrie-System, ohne dabei den darin tätigen Menschen die Schuld daran zu geben. Er wirft Fragen zu einer gesellschaftlich markierten Normalität und zu Heilung auf, die mich regelrecht aus der Fassung gebracht haben.

„Es gibt keine Erlösung, keine Vergebung, nur die Akzeptanz dessen, was ist“

Und während mir die vielen zeitlichen Sprünge und der wechselnde Fokus auf verschiedene Familienmitglieder zu wild waren, blitzt doch immer wieder durch, mit wie viel Respekt Engler diese Personen ansieht. Das zeigt sich auch in seinen Gesprächen mit Patient:innen und ich wünsche mir mehr Therapeut:innen wie ihn. Das Buch erscheint mir, nach Lektüre seiner Biografie, mindestens autofiktional. An sich ist das auch egal, aber es lässt mich wirklich den Hut ziehen vor diesem Autor. Diese Sezierung vererbter Traumata und Erkrankungen ist mutig, anders kann ich es nicht sagen. Und dass Engler dabei so verständnisvoll bleibt, obwohl auch Wut über die eigene Situation angemessen gewesen wäre, beeindruckt mich sehr.

Ein Buch, das mich zwar literarisch nicht so sehr abgeholt, dafür aber emotional trotzdem nachhaltig bewegt hat. Es wirft Fragen auf, die nachhallen und die bestenfalls eine öffentliche Debatte über Psychiatrie und den Umgang mit Erkrankten anstoßen.

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Veröffentlicht am 17.10.2025

Genial, unterhaltsam, kritisch

Hustle
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Wow, was habe ich „Hustle“ gern gelesen! Und nicht nur hat mir die Lektüre großen Spaß gemacht, sondern die Autorin ist mir auch noch so sympathisch, dass ich sie nun auf jeden Fall im Blick behalte.

„Hustle“ ...

Wow, was habe ich „Hustle“ gern gelesen! Und nicht nur hat mir die Lektüre großen Spaß gemacht, sondern die Autorin ist mir auch noch so sympathisch, dass ich sie nun auf jeden Fall im Blick behalte.

„Hustle“ ist der erste Roman der Autorin, der nicht dem Romance-Genre zuzuordnen ist. Stattdessen geht es hier ganz zentral um solidarische, platonische Beziehungen, die einfach eine echte Seelenwärmerin sind.

Leonie zieht nach München, nachdem sie sich von ihrem ehemaligen Chef mit einer kleinen, aber sehr feinen Racheaktion verabschiedet hat (pssst: Kresse spielt dabei die charmante Hauptrolle). Dort angekommen wird sie mit der Realität des deutschen, innerstädtischen Wohnungsmarktes konfrontiert. Im Falle Münchens natürlich in einem ganz besonders verheerenden Ausmaß. Das völlig unmenschliche Niveau der Lebenshaltungskosten spielt im Roman immer wieder eine Rolle und wird auch klar als Systemproblem benannt.

Um in ihrer immer noch unwürdigen Mini-Wohnung halbwegs über die Runden zu kommen, verwandelt sie ihr kreatives Talent für Racheaktionen in einen Side-Hustle um, der in starkem Kontrast steht zu ihrem Hauptjob bei der Zoologischen Staatssammlung. Dort bestimmt sie eine schier unendliche Zahl an Insekten-Exponaten. Der Job ist trostlos-speziell, sorgt aber dennoch für einige wichtige Begegnungen.

Um Liebesbeziehungen und Lebensentscheidungen, die das Patriarchat gerade von Frauen fordert, geht es maximal am Rand. Im Zentrum der Handlung steht ein Vierergespann sehr diverser Frauen - alle durch ein mehr oder weniger kriminelles Side-Hustle geeint. Von drei Frauen wird relativ schnell klar, um was es genau geht. Um die vierte ranken sich schwerwiegende Gerüchte, die erst zum Schluss auf äußerst gelungene Art aufgelöst werden.

Die Freund*innenschaften im Buch sind absolut wholesome! Kein Konkurrenzdenken, stattdessen solidarische Kritik und Unterstützung - eben genau, wie viele reale Freundinnenschaften nun einmal sind, auch wenn männlich dominierte Literatur uns gerne das Gegenteil einreden will.

Ich habe eine unglaublich gute Zeit gehabt beim Lesen. Die Kapitel sind kurz, die Figuren interessant und die Gesellschaftskritik deutlich, was dem Unterhaltungswert der Geschichte jedoch nicht abträglich ist. Emotionalität spielt bei den Figuren eine eher untergeordnete Rolle, die Geschichte ist schon primär handlungsgetrieben. Aber ich fand es exakt passend und mochte die unterhaltsam ironische Erzählweise total. Und wenn ich euch sage, dass ihr unter Garantie spätestens nach der Lektüre in ein Rabbit Hole zum Thema Schleimpilz fallen werdet, könnt ihr doch unmöglich Nein sagen zu diesem Roman, oder?!

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Veröffentlicht am 16.10.2025

Nette Idee, zu seichte Umsetzung

Es könnte so einfach sein
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Grundsätzlich fand ich die Ausgangssituation und das Versprechen, aus weiblicher Sicht Einblicke in den Literaturbetrieb zu bekommen, reizvoll. Doch schon nach einem Drittel des Buches habe ich gemerkt, ...

Grundsätzlich fand ich die Ausgangssituation und das Versprechen, aus weiblicher Sicht Einblicke in den Literaturbetrieb zu bekommen, reizvoll. Doch schon nach einem Drittel des Buches habe ich gemerkt, wie ich mich fast zur Aufmerksamkeit zwingen musste, weil mir der Inhalt zunehmend belanglos vorkam.

Die Erzählung auf zwei Zeitebenen mochte ich grundlegend, hätte mir zur präziseren Einordnung beim Lesen aber einen visuellen Hinweis gewünscht, etwa eine kleine Abtrennung. Die Kapitel beginnen in der Vergangenheit und gehen dann recht nahtlos auf einmal in die Gegenwart über. Die bloße Trennung über Absätze geht mir da nicht weit genug und ich war wiederholt irritiert.

Die Einblicke in das Leben einer Schriftstellerin sowie den sexistischen Literaturbetrieb erscheinen mir zwar authentisch, aber auch etwas oberflächlich abgehandelt. Gern hätte ich Vera emotional tiefer kennengelernt, doch sie blieb mir eigentlich durch die Bank weg wenig greifbar. Das ein oder andere Thema, das mit etwas Willen als feministisch eingeordnet werden könnte, wurde zwar noch angeschnitten. Doch auch hier fehlte mir eine tiefgehende Systemkritik.

Und dann gibt es noch die Absätze, in denen Vera ihr Buch schreibt und wir parallel sozusagen in ihrem Roman lesen. So interessant das vielleicht hätte sein können, fand ich es doch einfach nur irritierend und ehrlicherweise recht uninteressant. Es sind zwar insgesamt gesehen umfängliche Passagen aus der Geschichte in die Haupthandlung eingebettet, aber logischerweise nicht einmal ansatzweise so umfänglich wie in einem echten Buch. Und das lässt diese Nebenerzählung für mich ziemlich irrelevant wirken.

Zum Ende hin fiel mir die Lektüre leider zunehmend schwer. Das liegt nicht so sehr am Erzählstil, denn grundsätzlich wurde hier auf eine zugängliche Sprache gesetzt. Aber es blieb für meinen Geschmack zu oberflächlich, zu sehr seichte Unterhaltung. Da ist das Buch meinem Anspruch nicht gerecht geworden. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass ich nicht ganz die passende Zielgruppe bin, da ich mich alterstechnisch der Protagonistin oft fern gefühlt habe. Immerhin liegen auch 2 Generationen zwischen uns.

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Veröffentlicht am 16.10.2025

Unglaublich effizient geschriebene Gesellschaftssatire

Das Geschenk
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An den Anfang meiner Rezension stellen möchte ich meine absolute Genervtheit angesichts des Covers. KI-generierte Cover sind meiner Meinung nach ein Albtraum für die Literaturlandschaft, künstliche Intelligenz ...

An den Anfang meiner Rezension stellen möchte ich meine absolute Genervtheit angesichts des Covers. KI-generierte Cover sind meiner Meinung nach ein Albtraum für die Literaturlandschaft, künstliche Intelligenz hat in diesem Feld mal so gar nichts verloren - auch nicht bei der künstlerischen Gestaltung eines Buches. Das k*tzt mich also sowieso schon an, in Kontrast zum gesellschaftskritischen Ton des Textes ist die Wahl des deutschen Verlags aber noch einmal besonders absurd. Einen halben Stern ziehe ich dafür ab.

Nun aber zum Buch: Es war mein erstes von Gaea Schoeters und sicher nicht das letzte! Die Autorin hat mich enorm begeistert mit ihrer präzisen Sprache, die doch gleichzeitig so viel Raum für Doppeldeutigkeiten lässt.

Ich möchte eigentlich gar nicht so viel zum Inhalt sagen, denn mit seinen 140 Seiten ist das Werk meines Erachtens eines, bei dem mensch nicht wirklich etwas falsch machen kann. Wir befinden uns stets an der Seite von Bundeskanzler Winkler und damit mitten in einem Machtzentrum. Entsprechende Dynamiken sowie Diplomatie finde ich sehr authentisch und zugleich unkompliziert herausgearbeitet. Ich hing einfach an Schoeters Worten, anders kann ich es nicht sagen.

Die Doppeldeutigkeiten nehmen auch kein Ende. Klar, es geht hier um 20.000 Elefanten, mit denen Deutschland nun zu leben lernen muss. Ich sehe hier sehr viel Spielraum für eigene Interpretationen und sicher ist das von der Autorin auch so gewollt. Ich habe z. B. einige Parallelen zum Umgang mit Geflüchteten gesehen. Das Ganze lässt sich aber problemlos auch übertragen auf einen allgemeinen Umgang sogenannter westlicher Staaten mit globalen Krisen: immer schön wegreden und symptomatisch bekämpfen. Welche Tragweite eine kleine Entscheidung heute in der Zukunft haben kann, wird hier mehr als deutlich.

Ich bin begeistert von Schoeters intelligentem Schreiben, ihrem Gespür für Komplexität und der gleichzeitigen Gabe, diese Dinge verständlich zu formulieren. Die Antagonistin unseres Protagonisten ist eine wirklich toll geschriebene Person, die mich beeindruckt und ermutigt hat.

„Das Geschenk“ ist inhaltlich kein Buch, das ich als leicht bezeichnen würde. Es ist ein Paukenschlag, der jedoch mit einem guten Maß an Humor und einer enormen Sogkraft daherkommt. Der Roman lässt sich zwar super leicht weglesen, hallt aber definitiv nach und zwingt uns dazu, uns mit unserer globalen Verantwortung auseinanderzusetzen. Eine Satire, die alles andere als platt ist und deren Lektüre ich allen dringend ans Herz lege.

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